
Bild: © Reha Rheinfelden
Singen trotz Sprachlosigkeit
Singen ist mehr als nur Hobby oder Unterhaltungsprogramm – in der Musiktherapie kann es Menschen gelingen, über das Singen Gefühle auszudrücken oder Sprache wiederzufinden, die durch Hirnschäden verloren gegangen ist. Beate Roelcke ist Musiktherapeutin und beantwortet unsere Fragen.
Viele Menschen sagen: «Ich kann nicht singen.» Wie begegnen Sie dieser Hemmschwelle in Ihrer therapeutischen Arbeit?
Ich respektiere sie. Die Stimme ist unser persönlichstes Instrument. Sie ist ein Ausdrucksmittel, durch das wir viel von uns preisgeben. Sobald wir sie einsetzen, zeigen wir unweigerlich Emotionen – bereits beim Sprechen und beim Singen noch viel stärker. Daher ist es für mich nachvollziehbar, wenn jemand sagt: «Ich traue mich nicht.» Für mich ist die Stimme in der Musiktherapie das Instrument mit dem grössten Potenzial. Aber wenn jemand nicht singen möchte, dann schauen wir gemeinsam: Mit welchem Instrument möchte sich die Person lieber ausdrücken? Oder möchte sie erst einmal etwas hören, statt selbst zu musizieren? Wir suchen gemeinsam einen Zugang. Der darf ganz niederschwellig sein und ist auf die Person abgestimmt.
Wie wird die Entscheidung getroffen, ob Sie mit der Stimme oder einem Instrument arbeiten?
Das kommt auf die Person an. Einige entscheiden das für sich. Bei anderen erkläre ich, warum ich die Stimme für sie als sinnvoll erachte. Gerade in der neurologischen Rehabilitation, in der ich gearbeitet habe, bietet die Stimme auch einen funktionalen Zugang, beispielsweise, wenn ein Mensch eine Gehirnverletzung hatte und die Sprachregion betroffen ist. Ich singe dann mit den Patienten ein Lied, das sie schon lange kennen. Und das Besondere ist: Das geht oft viel besser als Sprechen! Aber auch im Rahmen anderer Praxisfelder wie zum Beispiel der Psychiatrie oder der Psychosomatik kann die Stimme als Instrument sinnvoll sein. Beim Singen ist auch immer der Körper involviert, und man kann über den Körperbezug einen Weg finden, sich selbst wahrzunehmen und im besten Fall auch Wohlbefinden hervorzurufen. Ausserdem bietet die Stimme ein grosses Potenzial, die innersten Gefühle nach aussen zu kehren. Die Menschen können ja nicht nur singen, sondern auch summen, schreien, brüllen…
Was passiert im Gehirn, wenn wir singen?
Da passiert ganz viel. Singen ist verknüpft mit der Sprache. Es gehört zu unseren ersten Ausdrucksformen. Lallen, Schreien, das ist etwas Ursprüngliches, das machen Babys von Geburt an. Die Stimme der Mutter ist das Erste, was wir neben den Körpergeräuschen bereits im Mutterleib hören, da kommt dann das Thema «Bindung» mit hinein. Es geht also von Anfang an um Äusserungsmöglichkeiten und Beziehungsaufnahme. Das alles wird in unserem Gehirn gebahnt und dann gespeichert. Dazu kommen Verbindungen zum Gefühlssystem und zur Kognition. Hier kommen wir zurück zur Hemmschwelle vom Anfang, denn die Kognition sagt uns: «Oh, das ist jetzt aber ein bisschen heikel, wenn du so viel von dir zeigst. Sing lieber nicht.» Und natürlich gibt es Verbindungen zum Hormonsystem. Gerade wenn wir mit anderen Menschen singen, in einem Chor oder im Fussballstadion, erleben wir ein grosses Verbundensein, weil dabei das sogenannte Bindungshormon Oxytocin und Glückshormone, wie Endorphine, ausgeschüttet werden.
Musiktherapeutinnen und ‑therapeuten arbeiten mit frühgeborenen Kindern und mit Sterbenden: Welche Rolle kann das Singen an Anfang und Ende des Lebens spielen?
Zu den Babys habe ich schon ein bisschen etwas gesagt. Die neueste Forschung zeigt, dass eine musiktherapeutische Begleitung die Hirnentwicklung von Frühgeborenen massgeblich unterstützt. Und diese Begleitung geht fast ausschliesslich über die Stimme. Die Therapeutin nimmt das Befinden der Kinder wahr und singt für sie, je nachdem, was sie brauchen, eher aktivierend oder beruhigend. Sie schaut: Wie reagiert das Kind? Dabei deutet sie ganz feine Zeichen. Neben der Arbeit mit den Kindern werden auch die Eltern angeleitet, wie sie zu ihren oft viel zu früh geborenen Babys eine Beziehung aufnehmen können. Die Kinder werden der Mutter oder dem Vater auf die Brust gelegt, und das Elternteil summt oder singt für das Kind und kann dessen Regungen wahrnehmen. Das sind Resonanz- und Abstimmungsprozesse, die für das ganze Leben wichtig sind.
Auf der anderen Seite des Lebens, bei palliativen begleitenden Massnahmen, weiss man auch, dass das Hören und Spüren oft noch am längsten möglich sind, wenn andere Sinne nicht mehr zur Kontaktaufnahme zur Verfügung stehen. Mit Gesang können wir Menschen noch erreichen, die Atmosphäre im Raum verändern, sodass sie wohltuend für den sterbenden Menschen ist. Dabei geht es ebenfalls darum wahrzunehmen, wie die Person auf die Musik reagiert, zum Beispiel über die Körperspannung oder die Atmung. Es können auch Lieder gemeinsam mit den Verwandten gesungen werden, die wichtig für die Biografie des sterbenden Menschen waren. Das ist eine Möglichkeit, gemeinsam Beziehung und Kommunikation am Lebensende zu gestalten.
Wie kann Singen helfen, wenn Worte fehlen, etwa bei Menschen mit neurologischen Erkrankungen oder Sprachverlust?
Wenn die Sprachregionen im Gehirn geschädigt sind, können wir durch das Singen andere Regionen ansprechen, in denen die Sprachfähigkeit gekoppelt mit Melodie abgespeichert ist. Es kann eine grosse emotionale Erleichterung bringen, wenn Menschen merken: «Ich kann noch singen, da kommen die Worte noch richtig heraus.» Oft besteht eine existenzielle Belastung, wenn jemand sprechen will, aber die Worte nicht findet oder etwas ganz anderes kommt heraus. In der Musiktherapie versuchen wir dann auch ins Spielerische zu kommen und mit dem, was da ist, mit Silbenbildung und allen stimmlichen Möglichkeiten, in Kontakt zu kommen, um eine Ausdrucksform für die Menschen zu finden und die Selbstwirksamkeit zu fördern.

© Reha Rheinfelden
Gibt es einen Moment aus Ihrer Praxis, in dem ein Lied oder eine stimmliche Intervention bei einem Patienten besonders viel ausgelöst hat?
In der neurologischen Klinik waren es oft Volkslieder, die ganz viel ausgelöst haben, weil sie so vertraut waren. Für ältere Patienten haben sie eine ganze Welt voller Erinnerungen eröffnet: «Ah ja, das haben wir damals immer beim Abwasch gesungen.» Durch das Lied waren die Menschen gedanklich wieder in dieser Welt und alle anderen Defizite und das Krankenhaus rückten in den Hintergrund. Ansonsten ist es natürlich sehr persönlich geprägt, welche Lieder einen Menschen begleitet haben und zu denen sie daher eine enge emotionale Bindung haben.
Wie lautet Ihre eigene Geschichte mit dem Singen?
Ich habe schon immer gern gesungen, das begann schon in der Familie. In der Schulzeit war ich in einem Jugendchor. In der Ausbildung bekamen wir eine besondere Stimmbildung, die sehr mit dem Körper verknüpft war. Dabei habe ich gelernt auf eine sehr «naturnahe» Art zu singen. Einige Jahre später, in der Neuroreha, habe ich gemerkt, was für ein Potenzial Lieder für die Patienten haben. Daher waren mir in dieser Zeit Schweizer Volkslieder sehr nahe.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Musiktherapie?
Die Vision wäre eine Anerkennung in der Grundversicherung der Krankenkassen. Mir ist die berufspolitische Anerkennung wichtig, sprich, dass unser Tätigkeitsfeld fest im Gesundheitssystem verankert ist, als ein Element, das seine Berechtigung hat. Nur so wissen die zuweisenden Stellen, welche Leistungen wir erbringen können, schätzen diese auch, und es ist dafür gesorgt, dass unsere Arbeit angemessen finanziert wird.


