Singen trotz Sprachlosigkeit
Beate Roelcke ist Musiktherapeutin. Sie war in der Gerontopsychiatrie, Akutpsychiatrie und in der psychotherapeutischen Rehabilitation tätig, arbeitete von 1995 bis 2024 in der Neurorehabilitation in der Reha Rheinfelden und leitete dort die Abteilung Kreative Therapien. Seit 2009 co-leitet sie den MAS Klinische Musiktherapie an der ZHdK und arbeitet in einer eigenen Musiktherapiepraxis.
Bild: © Reha Rheinfelden

Singen trotz Sprachlosigkeit

Singen ist mehr als nur Hobby oder Unterhaltungs­programm – in der Musiktherapie kann es Menschen gelingen, über das Singen Gefühle auszudrücken oder Sprache wiederzufinden, die durch Hirnschäden verloren gegangen ist. Beate Roelcke ist Musiktherapeutin und beantwortet unsere Fragen.

Viele Menschen sagen: «Ich kann nicht singen.» Wie begegnen Sie dieser Hemmschwelle in Ihrer therapeutischen Arbeit?

Ich respek­tiere sie. Die Stimme ist unser per­sön­lich­stes Instru­ment. Sie ist ein Aus­drucksmit­tel, durch das wir viel von uns preis­geben. Sobald wir sie ein­set­zen, zeigen wir unweiger­lich Emo­tio­nen – bere­its beim Sprechen und beim Sin­gen noch viel stärk­er. Daher ist es für mich nachvol­lziehbar, wenn jemand sagt: «Ich traue mich nicht.» Für mich ist die Stimme in der Musik­ther­a­pie das Instru­ment mit dem grössten Poten­zial. Aber wenn jemand nicht sin­gen möchte, dann schauen wir gemein­sam: Mit welchem Instru­ment möchte sich die Per­son lieber aus­drück­en? Oder möchte sie erst ein­mal etwas hören, statt selb­st zu musizieren? Wir suchen gemein­sam einen Zugang. Der darf ganz nieder­schwellig sein und ist auf die Per­son abges­timmt.

Wie wird die Entscheidung getroffen, ob Sie mit der Stimme oder einem Instrument arbeiten?

Das kommt auf die Per­son an. Einige entschei­den das für sich. Bei anderen erk­läre ich, warum ich die Stimme für sie als sin­nvoll erachte. Ger­ade in der neu­rol­o­gis­chen Reha­bil­i­ta­tion, in der ich gear­beit­et habe, bietet die Stimme auch einen funk­tionalen Zugang, beispiel­sweise, wenn ein Men­sch eine Gehirn­ver­let­zung hat­te und die Sprachre­gion betrof­fen ist. Ich singe dann mit den Patien­ten ein Lied, das sie schon lange ken­nen. Und das Beson­dere ist: Das geht oft viel bess­er als Sprechen! Aber auch im Rah­men ander­er Prax­is­felder wie zum Beispiel der Psy­chi­a­trie oder der Psy­cho­so­matik kann die Stimme als Instru­ment sin­nvoll sein. Beim Sin­gen ist auch immer der Kör­p­er involviert, und man kann über den Kör­per­bezug einen Weg find­en, sich selb­st wahrzunehmen und im besten Fall auch Wohlbefind­en her­vorzu­rufen. Ausser­dem bietet die Stimme ein gross­es Poten­zial, die inner­sten Gefüh­le nach aussen zu kehren. Die Men­schen kön­nen ja nicht nur sin­gen, son­dern auch sum­men, schreien, brüllen…

Was passiert im Gehirn, wenn wir singen?

Da passiert ganz viel. Sin­gen ist verknüpft mit der Sprache. Es gehört zu unseren ersten Aus­drucks­for­men. Lallen, Schreien, das ist etwas Ursprünglich­es, das machen Babys von Geburt an. Die Stimme der Mut­ter ist das Erste, was wir neben den Kör­perg­eräuschen bere­its im Mut­ter­leib hören, da kommt dann das The­ma «Bindung» mit hinein. Es geht also von Anfang an um Äusserungsmöglichkeit­en und Beziehungsauf­nahme. Das alles wird in unserem Gehirn gebah­nt und dann gespe­ichert. Dazu kom­men Verbindun­gen zum Gefühlssys­tem und zur Kog­ni­tion. Hier kom­men wir zurück zur Hemm­schwelle vom Anfang, denn die Kog­ni­tion sagt uns: «Oh, das ist jet­zt aber ein biss­chen heikel, wenn du so viel von dir zeigst. Sing lieber nicht.» Und natür­lich gibt es Verbindun­gen zum Hor­mon­sys­tem. Ger­ade wenn wir mit anderen Men­schen sin­gen, in einem Chor oder im Fuss­ball­sta­dion, erleben wir ein gross­es Ver­bun­den­sein, weil dabei das soge­nan­nte Bindung­shormon Oxy­tocin und Glück­shormone, wie Endor­phine, aus­geschüt­tet wer­den.

Musiktherapeutinnen und ‑therapeuten arbeiten mit frühgeborenen Kindern und mit Sterbenden: Welche Rolle kann das Singen an Anfang und Ende des Lebens spielen?

Zu den Babys habe ich schon ein biss­chen etwas gesagt. Die neueste Forschung zeigt, dass eine musik­ther­a­peutis­che Begleitung die Hir­nen­twick­lung von Frühge­bore­nen mass­ge­blich unter­stützt. Und diese Begleitung geht fast auss­chliesslich über die Stimme. Die Ther­a­peutin nimmt das Befind­en der Kinder wahr und singt für sie, je nach­dem, was sie brauchen, eher aktivierend oder beruhi­gend. Sie schaut: Wie reagiert das Kind? Dabei deutet sie ganz feine Zeichen. Neben der Arbeit mit den Kindern wer­den auch die Eltern angeleit­et, wie sie zu ihren oft viel zu früh gebore­nen Babys eine Beziehung aufnehmen kön­nen. Die Kinder wer­den der Mut­ter oder dem Vater auf die Brust gelegt, und das Eltern­teil summt oder singt für das Kind und kann dessen Regun­gen wahrnehmen. Das sind Res­o­nanz- und Abstim­mung­sprozesse, die für das ganze Leben wichtig sind.

Auf der anderen Seite des Lebens, bei pal­lia­tiv­en beglei­t­en­den Mass­nah­men, weiss man auch, dass das Hören und Spüren oft noch am läng­sten möglich sind, wenn andere Sinne nicht mehr zur Kon­tak­tauf­nahme zur Ver­fü­gung ste­hen. Mit Gesang kön­nen wir Men­schen noch erre­ichen, die Atmo­sphäre im Raum verän­dern, sodass sie wohltuend für den ster­ben­den Men­schen ist. Dabei geht es eben­falls darum wahrzunehmen, wie die Per­son auf die Musik reagiert, zum Beispiel über die Kör­perspan­nung oder die Atmung. Es kön­nen auch Lieder gemein­sam mit den Ver­wandten gesun­gen wer­den, die wichtig für die Biografie des ster­ben­den Men­schen waren. Das ist eine Möglichkeit, gemein­sam Beziehung und Kom­mu­nika­tion am Lebensende zu gestal­ten.

Wie kann Singen helfen, wenn Worte fehlen, etwa bei Menschen mit neurologischen Erkrankungen oder Sprachverlust?

Wenn die Sprachre­gio­nen im Gehirn geschädigt sind, kön­nen wir durch das Sin­gen andere Regio­nen ansprechen, in denen die Sprach­fähigkeit gekop­pelt mit Melodie abge­spe­ichert ist. Es kann eine grosse emo­tionale Erle­ichterung brin­gen, wenn Men­schen merken: «Ich kann noch sin­gen, da kom­men die Worte noch richtig her­aus.» Oft beste­ht eine exis­ten­zielle Belas­tung, wenn jemand sprechen will, aber die Worte nicht find­et oder etwas ganz anderes kommt her­aus. In der Musik­ther­a­pie ver­suchen wir dann auch ins Spielerische zu kom­men und mit dem, was da ist, mit Sil­ben­bil­dung und allen stimm­lichen Möglichkeit­en, in Kon­takt zu kom­men, um eine Aus­drucks­form für die Men­schen zu find­en und die Selb­st­wirk­samkeit zu fördern.

Vorlage - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz 23

© Reha Rhe­in­felden

Gibt es einen Moment aus Ihrer Praxis, in dem ein Lied oder eine stimmliche Intervention bei einem Patienten besonders viel ausgelöst hat?

In der neu­rol­o­gis­chen Klinik waren es oft Volk­slieder, die ganz viel aus­gelöst haben, weil sie so ver­traut waren. Für ältere Patien­ten haben sie eine ganze Welt voller Erin­nerun­gen eröffnet: «Ah ja, das haben wir damals immer beim Abwasch gesun­gen.» Durch das Lied waren die Men­schen gedanklich wieder in dieser Welt und alle anderen Defizite und das Kranken­haus rück­ten in den Hin­ter­grund. Anson­sten ist es natür­lich sehr per­sön­lich geprägt, welche Lieder einen Men­schen begleit­et haben und zu denen sie daher eine enge emo­tionale Bindung haben.

Wie lautet Ihre eigene Geschichte mit dem Singen?

Ich habe schon immer gern gesun­gen, das begann schon in der Fam­i­lie. In der Schulzeit war ich in einem Jugend­chor. In der Aus­bil­dung beka­men wir eine beson­dere Stimm­bil­dung, die sehr mit dem Kör­p­er verknüpft war. Dabei habe ich gel­ernt auf eine sehr «natur­na­he» Art zu sin­gen. Einige Jahre später, in der Neu­rore­ha, habe ich gemerkt, was für ein Poten­zial Lieder für die Patien­ten haben. Daher waren mir in dieser Zeit Schweiz­er Volk­slieder sehr nahe.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Musiktherapie?

Die Vision wäre eine Anerken­nung in der Grund­ver­sicherung der Krankenkassen. Mir ist die beruf­spoli­tis­che Anerken­nung wichtig, sprich, dass unser Tätigkeits­feld fest im Gesund­heitssys­tem ver­ankert ist, als ein Ele­ment, das seine Berech­ti­gung hat. Nur so wis­sen die zuweisenden Stellen, welche Leis­tun­gen wir erbrin­gen kön­nen, schätzen diese auch, und es ist dafür gesorgt, dass unsere Arbeit angemessen finanziert wird.

Leonie Wollensack
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