Konfrontation mit geplatzten Träumen

Die aktuelle Flüchtlingssi­t­u­a­tion ist auch an den Aar­gauer Kan­ton­ss­chulen ein The­ma. An der Kan­ti Baden organ­isierte Ben­jamin Ruch, der kan­tonale Beauf­tragte der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau, zusam­men mit der Deutschlehrerin Nicole Peter Begeg­nun­gen mit Flüchtlin­gen.«Auf der Flucht ster­ben alle deine Pläne und Träume», antwortet Omer Zeinu auf die Frage, was ihn denn auf der Flucht motiviert habe. Der 29-jährige Eritreer berichtet in fliessen­dem Englisch über seine Flucht und seine Sit­u­a­tion in der Schweiz. Dies im Rah­men ein­er dre­it­eili­gen Ver­anstal­tungsrei­he mit dem Titel «Flucht und Migra­tion». Die gut sechzig Schü­lerin­nen und Schüler, die sich in der Medio­thek ver­sam­melt haben, kön­nen sich entschei­den, mehr über das Schick­sal von ein­er von drei Per­so­n­en zu erfahren. Neben Omer Zeinu haben sich Jathur­san Prema­chan­dran aus Sri Lan­ka
 und Avin Mah­moud aus Syrien für ein Gespräch zur Ver­fü­gung gestellt.Auf sich selb­st zurück­ge­wor­fen Avin Mah­moud wirkt etwas scheu. Ihre Schwierigkeit, sich auf Deutsch ver­ständlich zu machen, ver­stärkt ihre Unsicher­heit. Immer wieder muss die 35-jährige Kur­din, die seit etwas mehr als anderthalb Jahren in der Schweiz lebt, auf ihren Über­set­zer zurück­greifen. Avin Mah­moud ist als Flüchtling in der Schweiz anerkan­nt. Ihr dro­ht in Syrien Haft, weil sie sich dort als Anwältin für die Men­schen­rechte der Kur­den engagierte. Was sie denn nun hier tue, wollen die Schü­lerin­nen und Schüler wis­sen. Ob sie von der Schweiz aus ihren Kampf für die Kur­den im Nor­den Syriens fort­set­ze? Wie sie hier unter­stützt werde? Was sie als grösste Unter­schiede im Ver­gle­ich zu ihrem Heimat­land erlebe? Sie sei auf sich selb­st zurück­ge­wor­fen, müsse sich zuerst um ihre Inte­gra­tion bemühen und könne aktuell nichts für ihre Land­sleute in Syrien tun, erk­lärt Avin Mah­moud via ihren Über­set­zer. Sich inte­gri­eren heisst: Die Sprache ler­nen, Arbeit suchen. Aktuell lebt die studierte Juristin von Sozial­hil­fe in ein­er kleinen Mietswoh­nung in Bern. Als grössten Unter­schied gegenüber Syrien erlebt sie die Frei­heit, hier sagen zu dür­fen, was sie wolle. Das poli­tis­che Sys­tem der Schweiz, das ver­schiedene Kul­turen umfasse, dient ihr als Vor­bild. Sobald sie könne, wolle sie aktiv ihren Beitrag leis­ten, dass Syrien einen demokratis­chen Rechtsstaat bekomme.»Lieber tot in der Wüste als in der Schweiz Im Neben­raum kon­fron­tiert der­weilen Omer Zeinu «seine» Schü­ler­gruppe mit provozieren­den Ansicht­en. Nein, er sei nicht glück­lich hier, meint Omer Zeinu. Rück­blick­end hätte er sich in der Wüste lieber bei­de Beine gebrochen, als hier in der Schweiz zu lan­den. Auf Nach­fra­gen der Schü­lerin­nen und Schüler, wie er dann zu dieser Überzeu­gung gelangt sei, bleibt der Eritreer die Antwort nicht schuldig. Er habe hier ja keine Per­spek­tive. «Mich erwartet im besten Fall ein Putzjob oder eine Anstel­lung als Hil­f­spfleger in einem Alter­sheim.» Und selb­st das dürfte schwierig wer­den, denn «in diesem Land brauchst du ja für alles ein spezielles Diplom. Sog­ar fürs Müllein­sam­meln.» Er würde noch so gern zurück ein seine Heimat, meint Omar Zeinu. Doch er könne nicht, weil er son­st wegen Wehr­di­en­stver­weigerung ins Gefäng­nis müsse.Kon­tro­verse Reak­tio­nen unter den Schülern Der Auftritt von Omar Zeinu polar­isiert. Während die 16-jährige Nas­ta­sia diplo­ma­tisch bleibt und meint: «Ich kann mich zu wenig in seine Sit­u­a­tion ver­set­zen, als dass ich das angemessen beurteilen kön­nte», wird ihr Kol­lege Tim konkreter: «Der Mann gewichtet den Schutz, der ihm hier gewährt wird, weniger stark als seine wirtschaftliche Möglichkeit­en. Das ent­täuscht mich. Als Flüchtling müsste man schon ein gewiss­es Ver­ständ­nis dafür auf­brin­gen, dass wir nicht alle Leute so inte­gri­eren kön­nen, wie sich die Betrof­fe­nen das wün­schen.»Erhitzte Gemüter fernab von Ertrink­enden Eine Diskus­sion in Gang brin­gen, das Leben der Flüchtlinge ver­ste­hen, vielle­icht sog­ar dazu motivieren, selb­st zu helfen, das erhof­fen sich der Ver­mit­tler der Flüchtlings­ge­spräche an der Kan­ton­ss­chule Baden. Vor­ange­gan­gen ist dem Begeg­nungsnach­mit­tag eine Woche zuvor ein Impul­srefer­at von Kas­par Surber. Der His­torik­er und Redak­tor bei
der Wochen­zeitung WOZ hat vor ver­sam­melter Schüler­schaft die Fak­ten aus­ge­bre­it­et und ver­sucht, die grösste Flüchtlingswelle seit dem Zweit­en Weltkrieg für die anwe­senden Jugendlichen ver­ständlich zu machen. Gegen sechzig Mil­lio­nen Mil­lio­nen Men­schen sind aktuell auf der Flucht. Für etwa 20 Prozent führt diese nach Europa. Übers Mit­telmeer, wo in den let­zten Jahren mehr als 25 000 Men­schen ihr Leben ver­loren. In der Schweiz, fernab des Massen­ster­bens, erhitzt das The­ma die Gemüter: Ein­er­seits wird gegen Asy­lun­terkün­fte protestiert, ander­er­seits organ­isieren Frei­willige Mit­tagstis­che und Deutschkurse.Men­schen kom­men auch ohne Willkom­men­skul­tur Eine Ver­anstal­tungsrei­he zum The­ma Migra­tion habe sich in Anbe­tra­cht der Aktu­al­ität ger­adezu aufge­drängt, erk­lärt Deutschlehrerin Nicole Peter, die zusam­men mit dem an der Kan­ton­ss­chule Baden im Auf­trag der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau täti­gen The­olo­gen Ben­jamin Ruch die Ini­tia­tive ergriff. Let­zter­er stellte die Kon­tak­te zu Flüchtlin­gen her, lud sie ein, an der Schule von ihren Erfahrun­gen zu bericht­en. Für Nicole Peter ist wichtig, dass die Schü­lerin­nen und Schüler ver­ste­hen ler­nen, weshalb Men­schen ihre Heimat ver­lassen, wie es um deren Sit­u­a­tion in Europa bestellt ist und wie ein gemein­samer Weg ausse­hen kön­nte. «Nicht das Unter­brin­gen von Flüchtlin­gen, son­dern deren Inte­gra­tion sei die grosse Her­aus­forderung», hat­te die für das Flüchtlings­dossier im Aar­gau zuständi­ge Regierungsrätin Susanne Hochuli am 11. Novem­ber 2015 vor der Syn­ode der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau betont. Es brauche keine kün­stlich aufge­bauschte Willkom­men­skul­tur, die Men­schen kämen auch so.» Gefragt sei vielmehr frei­williges Engage­ment, wie es beispiel­sweise von Kirchen­mit­gliedern bere­its vorgelebt werde.Flüchtlinge sollen in WGs Dass auch Jugendliche und junge Erwach­sene dur­chaus etwas bewirken kön­nen, the­ma­tisiert der dritte Teil der Ver­anstal­tungsrei­he «Flucht und Migra­tion» an der Kan­ti Baden mor­gen Don­ner­sta­gnach­mit­tag, 19. Novem­ber 2015. Zu Gast sind junge Men­schen, die über ihr Engage­ment zugun­sten von Flüchtlin­gen bericht­en. Neb­st dem Aar­gauer Jugen­drotkreuz, das für jugendliche Flüchtlinge Sportver­anstal­tun­gen und Deutschnach­hil­fe organ­isiert, wer­den auch Sarah Ben­ninger und Rahel Riet­mann von Wegeleben Aar­gau ihre Ini­tia­tive vorstellen. Konkret geht es darum, Flüchtlinge als Mit­be­wohn­er für Wohnge­mein­schaften zu ver­mit­teln. Auf Anfrage von Hor­i­zonte bestäti­gen Sarah Ben­ninger und Rahel Riet­man, dass es vor zwei Wochen gelun­gen sei, den ersten Flüchtling unterzubrin­gen. «Wenn alles klappt, kann der junge Tibeter im Dezem­ber in die WG einziehen. Ein weit­eres Tre­f­fen zwis­chen ein­er WG und einem anderen geflüchteten Men­schen ste­ht zudem bald an.» Mit ihrem Pro­jekt wollen Die Organ­isatoren von Wegeleben zwei Fliegen mit ein­er Klappe schla­gen: «Ein­er­seits bekom­men die geflüchteten Men­schen Wohn­raum, ander­er­seits haben sie Kon­takt zu Men­schen, die Deutsch sprechen und die gewil­lt sind, sich auf die Bedürfnisse eines geflüchteten Men­schen einzu­lassen. Es wird zusam­men gekocht und gegessen, vielle­icht bei einem Bewer­bungss­chreiben geholfen, oder der neue Gast wird in den Vol­ley­bal­lvere­in mitgenom­men.»Von der Mat­u­rar­beit zur Aktivistin Kather­ine Füglis­ter wurde durch ihre Mat­u­rar­beit mobil­isiert und wird eben­falls ihr Engage­ment vorstellen. «Ich unter­stütze 12 jugendliche eritreis­che Asyl­suchende im Asyl­heim Wet­tin­gen», erk­lärt die junge Frau gegenüber Hor­i­zonte. Drei dieser Jugendlichen hat­ten sich bere­it erk­lärt, Kather­ine Füglis­ter für ihre Mat­u­rar­beit ihre Geschichte zu erzählen. Noch immer ist die Kan­ti-Schü­lerin für diese und andere Jugendliche im Asly­heim Ansprech­per­son. «Ich helfe den Jungs bei der Woh­nungssuche, unter­richte ihnen Deutsch und bringe regelmäs­sig Klei­der vor­bei.» Kather­ine Füglis­ter bedauert, dass diese Men­schen – auch auf­grund der Medi­en­berichter­stat­tung – auf ihre Flüchtling­seigen­schaft reduziert wer­den. «Was diese Men­schen wollen, ist, dass wir ihnen eine Chance geben.» Das bestäti­gen auch Omer Zeinu
und Avin Mah­moud, die sich mit den Schü­lerin­nen und Schülern an der Kan­ti Baden aus­ge­tauscht haben. Auf die Frage ein­er Schü­lerin, was man denn tun könne, damit es Flüchtlinge bei uns bess­er haben, antwortet Omer Zeinu ohne Umschweife: «Ganz klar, es braucht eine gute Aus­bil­dung. So lange du unter 20 Jahre bist, kriegst du eine gute Aus­bil­dung hier. Bist du älter, gibt’s nichts Gescheites mehr. Das ist fatal. So kön­nt ihr uns auch ger­ade so gut nach Hause zurückschick­en.» Junge Men­schen sprechen über ihr Engage­ment für Flüchtlinge Don­ner­stag, 19. Novem­ber, 12.15 bis 13.30 Uhr, Aula der Kan­ton­ss­chule Baden Let­zter Teil der öffentlichen Ver­anstal­tungsrei­he «Flucht und Migra­tion» Kon­takt:  Was tut die Römisch-Katholis­che Lan­deskirche im Aar­gau? Mitte Sep­tem­ber 2015 ver­schick­te die Römisch-Katholis­che Lan­deskirche Aar­gau an die Kirchenpfle­gen im Kan­ton einen Aufruf, Unterkun­ftsmöglichkeit­en für Asyl­suchende zu evaluieren. «Ich habe viele und gute Rück­mel­dun­gen erhal­ten, teil­weise mit konkreten Ange­boten oder zumin­d­est mit Ideen für Unter­bringungsmöglichkeit­en, die nun vom Kan­tonalen Sozial­dienst näher geprüft wer­den», erk­lärte Kirchen­rat­spräsi­dent Luc Hum­bel vor der Syn­ode am 11. Novem­ber 2015. Konkret ste­hen sechs Ange­bote zur Dis­po­si­tion. Auch die Lan­deskirche habe einen Beitrag leis­ten kön­nen. Zusät­zlich zu den Flüchtlings­fam­i­lien in der Liegen­schaft an der Lau­ren­zen­vorstadt wird auf Anfang Dezem­ber 2015 eine allein­erziehende Mut­ter mit ihrem Kleinkind in ein­er Woh­nung an der Feer­strasse 8 in Aarau einziehen. Weit­ere Ideen wer­den geprüft und 2016 vorgestellt.
Andreas C. Müller
mehr zum Autor
nach
soben