Der Dialog beginnt mit zuhören

Der Dialog beginnt mit zuhören

  • Das vierte Reli­gions­fo­rum der Aar­gauer Kan­ton­ss­chulen stand unter dem Mot­to «Dia­log zwis­chen Juden­tum, Chris­ten­tum, Islam».
  • Sechs Vertreter der jew­eili­gen Glauben­srich­tung standen den Schülern mit Ergänzungs- und Freifach Reli­gion während eines ganzen Nach­mit­tags Red und Antwort.
  • Faz­it ein­er Schü­lerin: «Wir haben heute Nach­mit­tag mehr gel­ernt als im ganzen let­zten Jahr Reli­gion­sun­ter­richt.»

Glauben tut man nicht ein­fach, glauben kann man nicht ein­fach, glauben muss man ler­nen und üben. Vor allem aber braucht es eine Gemein­schaft, in der man seinen Glauben ver­tiefen, kri­tisch hin­ter­fra­gen, disku­tieren und stärken kann. Diese und viele weit­ere Erken­nt­nisse durften die Kan­ton­ss­chüler mit nach Hause nehmen, die gestern am vierten Reli­gions­fo­rum, dem Pro­jek­thalb­tag der Ergänzungs- und Freifäch­er Reli­gion an den Kan­ton­ss­chulen im Aar­gau, teilgenom­men haben.

Gut 60 Gym­nasi­as­ten aus den bei­den Aarauer Kan­ton­ss­chulen und aus den Kan­ton­ss­chulen Baden, Wet­tin­gen, Wohlen und Zofin­gen ver­sam­melten sich um 13.30 Uhr in der Aula der Alten Kan­ti Aarau, um aus erster Hand zu erfahren, wie es ist und was es bedeutet, Christ, Jude oder Moslem zu sein. Vor allem sollte es an diesem Nach­mit­tag auch darum gehen, den Dia­log zwis­chen diesen drei grossen, monothe­is­tis­chen Reli­gio­nen zu präsen­tieren.

Gute Organisation, kompetente Gäste

Als Organ­isatoren und Begleit­er fungierten auch dieses Jahr wieder die kirch­lichen Beauf­tragten bzw. Fach­lehrper­so­n­en Reli­gion der sechs Aar­gauer Gym­nasien: Tamar Jen­ny (Zofin­gen), Chris­tine Stu­ber (Wet­tin­gen), Bär­bel Hess (AK Aarau), Peter Lötsch­er (Wohlen), Mar­tin Zürcher (NK Aarau) und Ben­jamin Ruch (Baden). Der Erfolg dieser Ver­anstal­tung liess sich allein schon daran able­sen, dass die Lehrkräfte sich im Hin­ter­grund hal­ten kon­nten, denn ihre Schüt­zlinge zeigten reges Inter­esse und sorgten dafür, dass durch ihre aktive Teil­nahme die Zeit verg­ing wie im Flug. Dabei erfuhren und bestätigten sie durch ihr aufmerk­sames Ver­hal­ten, dass jed­er Dia­log mit zuhören begin­nt.

Die Organ­isatoren bewiesen auch bei der Auswahl ihrer Gäste ein glück­lich­es Händ­chen. Als Vertreter der jüdis­chen Reli­gion kon­nten sie Tamar Krieger und Shir­tai Holtz gewin­nen. Krieger hat einen Mas­ter in Reli­gion­slehre mit Zusatzdiplom in Geschichte und unter­richtet Reli­gion an der Kan­ti Alpen­quai in Luzern. Holtz ist Biolo­gielehrer an der Kan­ti Stadel­hofen, der nach der Matu­ra einige Jahre in Israel gelebt und studiert hat, bevor er aus beru­flichen Grün­den zurück in die Schweiz kam.

Lauter berufene Referenten

[esf_wordpressimage id=36216 width=half float=left][/esf_wordpressimage]Für den Dia­log mit dem Islam stell­ten sich Zeinab Ahma­di und Abduse­lam Halilovic zur Ver­fü­gung. Ahma­di ist nicht nur stel­lvertre­tende Geschäft­slei­t­erin des Haus­es der Reli­gio­nen — Dia­log der Kul­turen in Bern, sie amtet dort zudem noch als Bere­ich­slei­t­erin Bil­dung und ist Mit­glied der Fachkom­mis­sion für Migra­tions- und Ras­sis­mus­fra­gen der Stadt Bern sowie Mit­glied der Fach­gruppe Bil­dungsme­di­en ERG der Päd­a­gogis­chen Hochschule Bern. Halilovic hat einen Mas­ter in Islamwis­senschaft und Reli­gion­sphiloso­phie, arbeit­et als Assis­tent der Geschäfts­führung bei der Mus­lim­is­chen Seel­sorge Zürich (QuaMS) auch in der Spezialseel­sorge und prä­si­diert die Vere­ini­gung der Islamis­chen Organ­i­sa­tio­nen in Zürich (vioz).

[esf_wordpressimage id=36213 width=half float=right][/esf_wordpressimage]Antworten auf Fra­gen zum christlichen Glauben beant­worteten in den drei Work­shops dieses Nach­mit­tags der reformierte Pfar­rer Raf­fael Som­mer­halder und der katholis­che Priester Mar­tin Föhn SJ. Som­mer­halder ist jung ver­heiratet und arbeit­et als Seel­sorg­er in Gränichen. Er wusste schon als Gym­nasi­ast in der Kan­ti Wet­tin­gen, dass es seine Beru­fung war, The­olo­gie zu studieren und Pfar­rer zu wer­den. Auch Föhn spürte den Ruf Gottes früh: «Ich bin in ein­er Bauern­fam­i­lie im Muo­tathal aufgewach­sen. Mit drei Jahren verkün­dete ich meinem Vater im Stall: ‹Ich will Pfar­rer wer­den!›»

Menschen leben Religion

Aufgeteilt in drei Grup­pen hat­ten die Schüler Gele­gen­heit, die Vertreter der drei Glauben­srich­tun­gen je während 40 Minuten zu befra­gen. Dabei erfuhren sie viele Aha-Erleb­nisse. Zum Beispiel, dass das in der west­lichen Welt weit ver­bre­it­ete neg­a­tive Bild des Islam wesentlich geprägt ist von dessen Darstel­lung in den diversen Medi­en. Das fange sich erst in jüng­ster Zeit an zu bessern, erk­lärte dazu Zeinab Ahma­di, weil immer mehr Mus­lime sel­ber Regie führen bei entsprechen­den Pro­duk­tio­nen: «Es ist gut, wenn wir das Mikro sel­ber in die Hand nehmen.»

[esf_wordpressimage id=36215 width=half float=left][/esf_wordpressimage]Im Work­shop zum Juden­tum woll­ten es die Schüler eben­falls genau wis­sen: Warum nen­nen sich die Juden «das auser­wählte Volk»? Ist das nicht über­he­blich? Wer hat wirk­lich Anspruch auf das Land in Israel/Palästina? Sind Frauen im Juden­tum gle­ich­berechtigt? Kann man Jude wer­den oder die Zuge­hörigkeit zur Gemein­schaft auch ver­lieren? Tamar Krieger und Shir­tai Holtz liessen keine Frage unbeant­wortet. Dabei war sehr auf­schlussre­ich, wie Krieger als nicht prak­tizierende Jüdin aus ein­er jüdisch-katholis­chen Mis­chehe und Holtz, mit rein jüdis­chem Ursprung, der von sich selb­st sagt, er sei «eine kri­tisch denk­ende Per­son, welche den Mehrw­ert der jüdis­chen Reli­gion stark spürt und lebt», die Fra­gen beant­worteten. Hier, wie auch in den anderen Work­shops wurde deut­lich, dass es in kein­er Reli­gion die eine Lehre gibt. Es sind Men­schen, die diese Reli­gio­nen leben, darum gibt es zwar wohl Vorschriften, Regeln und Gepflo­gen­heit­en, aber auch immer den je indi­vidu­ellen Umgang mit diesen Weisun­gen.

Sind Freikirchen eine Bedrohung?

[esf_wordpressimage id=36211 width=half float=right][/esf_wordpressimage]Im christlichen Work­shop drehte sich die Diskus­sion in der einen Gruppe haupt­säch­lich ums The­ma Freikirchen. In den Antworten der bei­den Kirchen­vertreter wurde auch deut­lich, dass die evan­ge­lisch-reformierte und die römisch-katholis­che Kirche wohl bei­de christliche Kirchen sind, bezüglich ihrer The­olo­gie aber doch in vie­len Punk­ten divergieren. Auf die Frage, ob die Freikirchen von den öffentlich-rechtlichen Lan­deskirchen als Bedro­hung ange­se­hen wür­den, antwortete Raf­fael Som­mer­halder: «Die Freikirchen haben tolle Konzepte. Die sind sehr fortschrit­tlich. Wir soll­ten auch auf diese Weise Men­schen zu uns ein­laden, um neue Mit­glieder gewin­nen zu kön­nen.» Jesuit Mar­tin Föhn hinge­gen betonte: «Die Freikirchen zeigen uns vieles auf, aber ich bin da eher skep­tisch. Oft ist mir diese Reli­giosität zu stark auf Emo­tio­nen aufge­baut, die The­olo­gie zu eklek­tisch. Da ken­nt jemand 15 Bibel­stellen sehr gut und baut darauf dann seine ganze The­olo­gie auf.»

Dickes Lob aus dem Plenum

[esf_wordpressimage id=36214 width=half float=left][/esf_wordpressimage]Zu Beginn des abschliessenden Podi­ums­ge­sprächs mit allen sechs Gästen, kam aus dem Plenum ein dick­es Lob an die Ver­anstal­ter. Das sei ein span­nen­der und lehrre­ich­er Nach­mit­tag gewe­sen, beson­ders wegen der glaub­würdi­gen und kom­pe­ten­ten Ref­er­enten. Gross­er Applaus. Shir­tai Holtz freute sich über dieses Lob, gab aber zu bedenken, dass man sich hier an einem Ort hoher Bil­dung befinde. Die Diskus­sion müsse aber zwin­gend noch hineinge­tra­gen wer­den in bil­dungs­fernere Schicht­en.

Auch die anderen Ref­er­enten bedank­ten sich bei allen engagierten Teil­nehmern des Reli­gions­fo­rums. Zeinab Ahma­di rühmte das offen­sichtliche Inter­esse der Schüler: «Genau dieses Inter­esse braucht es, das ist wichtig für den inter­re­ligiösen Dia­log.» Und Mar­tin Föhn ergänzte: «Die Reli­gio­nen kön­nen der Gesellschaft etwas geben. Alle Reli­gio­nen investieren ins Tran­szen­dente, in die Beziehung zu Gott. Jet­zt müssen wir darüber disku­tieren, wie wir uns dabei ergänzen kön­nen.»

«Dialog braucht echte Gleichstellung»

[esf_wordpressimage id=36206 width=half float=right][/esf_wordpressimage]Abduselam Halilovic gab zu bedenken, dass der Dia­log unbe­d­ingt unter Gle­ichgestell­ten stat­tfind­en müsse: «Oft find­et ein net­ter Aus­tausch ‹auf Augen­höhe› statt. Das ist aber eine Pseudoau­gen­höhe, denn es gibt immer noch grosse Unter­schiede im poli­tis­chen und gesellschaftlichen Umgang miteinan­der.» Mar­tin Föhn fand eine schöne Meta­pher für die Voraus­set­zun­gen für kün­ftige Verän­derun­gen im Umgang mit Reli­gio­nen: «Viele fahren Auto und ver­ste­hen auch etwas von Autos. Mechaniker ver­ste­hen sie aber bess­er. Wenn es um Verän­derun­gen geht, sollte man also zuerst mit den Mechanikern reden.»

Die Ein­drücke dieses Nach­mit­tags begleit­eten alle Teil­nehmer auf dem Nach­hauseweg. Die Diskus­sio­nen ebbten auch auf dem Weg zum Bahn­hof nicht ab. Auf Nach­frage von Hor­i­zonte bestätigten einige Schüler, dass sie viel Neues und Inter­es­santes erfahren hät­ten in diesem Forum. Eine Schü­lerin brachte es für sich auf den Punkt: «Wir haben heute Nach­mit­tag mehr gel­ernt als im ganzen let­zten Jahr Reli­gion­sun­ter­richt.»

Christian Breitschmid
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