Zwölf Brü­der gegen Tod und Schrecken

Die Gas­sen des Städt­chens am Rhein sind aus­ge­stor­ben. Vie­le Häu­ser ste­hen leer und leb­los, die Türen sind mit Bret­tern ver­na­gelt, eini­ge mit einem schwar­zen Kreuz bemalt. Bereits im 12., im 14. und im 15. Jahr­hun­dert such­te die Pest die Stadt Rhein­fel­den heim. Auch andern­orts ver­brei­te­te die Krank­heit ihren Schrecken, in man­chen Städ­ten starb ein Drit­tel aller Ein­woh­ner. Die Angst war umso grös­ser, als nie­mand wuss­te, wie die Seu­che ent­stand und wie sie ver­brei­tet wurde.Im Jahr 1541 raff­te der «schwar­ze Tod» in Rhein­fel­den erneut etwa 700 Ein­woh­ner dahin. Das Aus­mass der Seu­che beweg­te damals zwölf ver­schont geblie­be­ne Rhein­fel­der Bür­ger, eine Bru­der­schaft zu grün­den. Sie nann­ten sich nach dem Hei­li­gen Seba­sti­an, dem Schutz­hei­li­gen gegen die Pest, «Seba­stia­ni-Brü­der» und woll­ten die Kran­ken pfle­gen und die Toten beer­di­gen. Weil man zu die­ser Zeit annahm, die Pest ver­brei­te sich über ver­seuch­tes Trink­was­ser, woll­ten die zwölf Män­ner das Übel «an der Quel­le» packen. Sie besuch­ten nachts mit einer Later­ne die sechs Brun­nen der Stadt und erba­ten mit einem Lied Got­tes Schutz und Hil­fe. Damit begrün­de­ten die Seba­stia­ni-Brü­der in Rhein­fel­den einen Weih­nachts- und Neu­jahrs­brauch, der heu­te noch gepflegt wird.Unter­wegs in Schwarz Auch die­ses Jahr wer­den am Hei­lig­abend, wenn die Turm­uhr der Stadt­kir­che Sankt Mar­tin elf Uhr schlägt, zwölf Män­ner aus der Kir­che tre­ten und durch die Tem­pel­gas­se hin­un­ter zur Frösch­weid gehen. Das Städt­chen hüllt sich in mit­tel­al­ter­li­che Dun­kel­heit, nur im Schein der über 400 Jah­re alten Pest­la­ter­ne kann man die Seba­stia­ni-Brü­der erken­nen. Sie tra­gen Man­tel, Hand­schu­he und Zylin­der, alles in Schwarz. Beim Brun­nen vor der Rhein­brücke machen sie ein erstes Mal Halt, bil­den einen Kreis um den Later­nen­trä­ger und sin­gen jenes Weih­nachts­lied, das vor mehr als 450 Jah­ren an die­ser Stel­le schon erklang.Brü­der in Begleitung Nach vier Stro­phen gehen die Sän­ger wei­ter, die Markt­gas­se auf­wärts bis zum näch­sten Brun­nen. An ins­ge­samt sechs Brun­nen machen die Seba­stia­ni-Brü­der auf ihrem ein­stün­di­gen Rund­gang Halt. Im Gegen­satz zu den buch­stäb­lich aus­ge­stor­be­nen Gas­sen der mit­tel­al­ter­li­chen Pest­zeit wer­den die zwölf Seba­stia­ni-Brü­der heu­te von vie­len Zuschau­ern beglei­tet. Mar­kus Klemm, der amts­äl­te­ste Bru­der, sagt: «Das Inter­es­se am Brauch ist nach wie vor da. Ich habe den Ein­druck, dass es in den letz­ten Jah­ren sogar wie­der zuge­nom­men hat.» Je nach Wet­ter fol­gen 50 bis 150 Men­schen den Brü­dern auf ihrem nächt­li­chen Rund­gang.Neu­jahrs­wunsch Nach dem letz­ten Brun­nen­halt begibt sich die Pro­zes­si­on in die Kir­che zur fest­li­chen Mit­ter­nachts­mes­se. Eine Woche spä­ter, in der Sil­ve­ster­nacht, star­ten die Seba­stia­ni-Brü­der ihren Rund­gang bereits um 21 Uhr. Sie schrei­ten die glei­che Strecke ab wie an Hei­lig­abend, sin­gen die glei­che Melo­die, aber einen ande­ren Text. Jede Stro­phe hört mit dem Wunsch auf: «Gott gebe euch allen ein gutes neu­es Jahr!» Auch den hei­li­gen Seba­sti­an rufen die Brü­der an: in «Kriegs‑, Pest- und Todes­ge­fahr» soll er den Rhein­fel­dern bei­ste­hen. Seit eini­gen Jah­ren wird der Sil­ve­ster­rund­gang mit einem Orgel­kon­zert in der Kir­che Sankt Mar­tin beschlos­sen.Auf Lebens­zeit Die Seba­stia­ni-Bru­der­schaft schlägt ihre Nach­fol­ger immer sel­ber vor. «Ehr­ba­re Rhein­fel­der Bür­ger» müs­sen es sein, so sagen es die Sta­tu­ten in einem Buch aus dem 19. Jahr­hun­dert. Man nimmt an, dass der Text auf älte­re Doku­men­te zurück­geht. Bei der Wahl eines neu­en Mit­bru­ders ach­tet die Bru­der­schaft dar­auf, dass der Vor­ge­schla­ge­ne in Rhein­fel­den gut ver­wur­zelt ist. «Die Mit­glied­schaft ist auf Lebens­zeit gedacht», erklärt Mar­kus Klemm, «da ist es gut, wenn als rela­tiv sicher gel­ten kann, dass jemand nicht von Rhein­fel­den weg­zieht.» Aus­ser­dem muss ein Seba­stia­ni-Bru­der gut sin­gen kön­nen und Inter­es­se haben, den bald 500 Jah­re alten Brauch zu pfle­gen. Eben­falls wich­tig: Ein poten­ti­el­ler Mit­bru­der muss auf Urlaubs­rei­sen über Weih­nacht und Neu­jahr ver­zich­ten kön­nen.Hei­li­ger Sebastian Die Anläs­se der Seba­stia­ni-Bru­der­schaft kon­zen­trie­ren sich auf die Zeit um den Jah­res­wech­sel. Nach den bei­den Brun­nen­sin­gen an Hei­lig­abend und Sil­ve­ster fei­ert die Bru­der­schaft am 20. Janu­ar, dem Gedenk­tag des Hei­li­gen Seba­sti­an, eine öffent­li­che Mes­se in der Mar­tins­kir­che. Eine Hand­voll Men­schen, die mei­sten davon Ange­hö­ri­ge noch akti­ver oder ver­stor­be­ner Mit­glie­der, trifft sich vor dem barocken Sei­ten­al­tar des hei­li­gen Seba­sti­an. In der Ent­ste­hungs­zeit im 16. Jahr­hun­dert war die Bru­der­schaft eine katho­li­sche Bewe­gung. Als die Gemein­de­ver­samm­lung von Rhein­fel­den 1873 beschloss, die neu­en Papst­dog­men des Ersten Vati­ka­ni­schen Kon­zils nicht anzu­neh­men, ging die Stadt­kir­che Sankt Mar­tin an die neu gegrün­de­te christ­ka­tho­li­sche Kirch­ge­mein­de über. Dort wur­de 1876 auch der erste christ­ka­tho­li­sche Bischof der Schweiz geweiht.Unab­hän­gig von der Konfession Die Seba­stia­ni-Bru­der­schaft beginnt ihren Rund­gang seit 1541 in die­ser Kir­che. Unter den aktu­el­len Mit­glie­dern sind sowohl christ­ka­tho­li­sche, refor­mier­te als auch römisch-katho­li­sche Brü­der. «Die Bru­der­schaft ist nicht von einer Kon­fes­si­on abhän­gig», sagt Mar­kus Klemm. Aber poten­ti­el­le Mit­glie­der müss­ten sich natür­lich mit der spi­ri­tu­el­len Kom­po­nen­te des Brauch­tums wohl­füh­len kön­nen. Auch ein «juri­sti­sches For­mat», wie er es schmun­zelnd nennt, habe die Bru­der­schaft nicht. Mar­kus Klemm als Amts­äl­te­ster trägt die Bezeich­nung «Seni­or», dann gibt es den «Vize­se­ni­or», einen Aktu­ar, einen Kas­sier und einen Later­nen­trä­ger. Die Orts­bür­ger­ge­mein­de bezahlt den Seba­stia­ni-Brü­dern das jähr­li­che Bru­der­schafts­mahl, die ein­zel­nen Mit­glie­der der Bru­der­schaft lei­sten einen Bei­trag nach eige­nem Ermes­sen. Ab und zu erhält die Bru­der­schaft Spen­den von Men­schen, denen der alte Brauch am Her­zen liegt. Wenn auch die Schrecken der Pest längst ver­blasst sind: auch die Men­schen des 21. Jahr­hun­derts brau­chen Got­tes Schutz und Hil­fe. In Rhein­fel­den wie anders­wo.Marie-Chri­sti­ne Andres
Redaktion Lichtblick
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