Die Zer­sie­de­lungs-Initia­ti­ve aus kirch­li­cher Sicht

Die Zer­sie­de­lungs-Initia­ti­ve aus kirch­li­cher Sicht

  • Am Sonn­tag, 10. Febru­ar, stimmt das Schwei­zer Stimm­volk über die Initia­ti­ve «Zer­sie­de­lung stop­pen» ab.
  • Aus sozi­al­ethi­scher Sicht gibt die Initia­ti­ve Anlass, über den eige­nen Res­sour­cen­ver­brauch nachzudenken.
  • Der Ver­ein oeku Kir­che und Umwelt plä­diert für ein «JA» und betont, dass mit der Initia­ti­ve eine sozia­le Wohn­bau­po­li­tik umso drin­gen­der werde.
 Â«Die zen­tra­le Sor­ge der 
Zer­sie­de­lungs­in­itia­ti­ve gilt dem Boden», hält Tho­mas Wal­li­mann-Sasa­ki fest. Der Theo­lo­ge und Sozi­al­ethi­ker lei­tet das Insti­tut «ethik22» und ana­ly­siert die Vor­la­gen für Eid­ge­nös­si­sche Abstim­mun­gen aus dem Blick­win­kel einer christ­li­chen Sozi­al­ethik. «Was bedeu­tet Boden? Woh­nen, Essen, aber auch Erho­lung sind aufs Eng­ste mit Boden
 ver­bun­den. Aber Boden ist nicht nur für Men­schen, son­dern auch für Tie­re und
 Pflan­zen die Lebens­grund­la­ge. Dies bedeu­tet, dass Boden letzt­lich mit allem Leben­di­gen in Ver­bin­dung steht […]», lei­tet Tho­mas Wal­li­mann-Sasa­ki sei­ne Ãœber­le­gun­gen ein.

Schöp­fung oder ein­fach Ressource?

Den Kern der Dis­kus­si­on um die Zer­sie­de­lung sieht er in der Grund­fra­ge, was Boden ist. Schöp­fung oder ein­fach Res­sour­ce? Er führt aus: «Die Initia­ti­ve geht […] von einem Zer­sie­de­lungs­be­griff aus, der Zer­sie­deln als pro­ble­ma­ti­sches Wachs­tum betrach­tet – als Unord­nung, die teil­wei­se auch mora­lisch wer­ten­de Züge trägt. Dies hängt damit zusam­men, dass dem Boden auf Grund sei­ner Begrenzt­heit und Knapp­heit und sei­ner Grund­la­ge für alle For­men von Leben ein hoher mora­li­scher Wert zuge­stan­den wird.» In reli­gi­ös gepräg­ten Ethi­ken kom­me dem Boden und damit der Welt eine gros­se Bedeu­tung zu, erklärt Tho­mas Wal­li­mann-Sasa­ki. In den Ethi­ken der drei Schrift­re­li­gio­nen Juden­tum, Chri­sten­tum und Islam ist Boden immer mehr als nur eine Ware oder eine Sache. Die Welt und damit auch der Boden ist Schöp­fung.

Ein­fa­mi­li­en­haus im Grünen

Vor die­sem Hin­ter­grund
 hin­ter­fragt die Initia­ti­ve laut Tho­mas Wal­li­mann-Sasa­ki
 indi­rekt auch die von
 vie­len bevor­zug­te und 
gewünsch­te Wohn­form Ein­fa­mi­li­en­haus auf dem Land – das für einen Traum von «Sein» und «Woh­nen» steht, der bis heu­te – trotz begrenz­ter Flä­chen – in der Schweiz gros­se Bedeu­tung hat.Auch der Ver­ein oeku Kir­che und Umwelt hin­ter­fragt das Ide­al vom Ein­fa­mi­li­en­haus im Grü­nen. Die oeku befür­wor­tet die Initia­ti­ve und erhofft sich einen nach­hal­ti­ge­ren und sorg­fäl­ti­ge­ren Umgang mit unse­rem Boden. «Der Grund­ge­dan­ke der Nach­hal­tig­keit kommt vom Forst­ge­setz, das bei Rodun­gen die Auf­for­stung der glei­chen Flä­che an einem ande­ren Ort ver­langt.», schreibt der Ver­ein in sei­ner Stel­lung­nah­me. In sei­ner Argu­men­ta­ti­on geht der Lei­ter der oeku-Fach­stel­le, Kurt Zaugg-Ott, auf die Befürch­tung der Geg­ner ein, die Initia­ti­ve ver­teue­re Bau­land und Woh­nun­gen mar­kant. An einer sol­chen Ent­wick­lung sei nicht die Zer­sie­de­lungs­in­itia­ti­ve schuld, son­dern die wirt­schaft­li­che Dyna­mik und die damit stei­gen­de Kauf­kraft: «Es kann ja nicht sein, dass ein­fach grü­ne Wie­sen über­baut wer­den, damit Woh­nen bil­li­ger bleibt.» Mit der Zer­sie­de­lungs­in­itia­ti­ve wer­de eine akti­ve und sozia­le Wohn­bau­po­li­tik umso drin­gen­der, damit auch in Zukunft in den Zen­tren eine gesun­de sozia­le Durch­mi­schung statt­fin­de.

Wohn­bau­ge­nos­sen­schaft «fai­res Wohnen»

Für «fai­res Woh­nen» setzt sich die Römisch-Katho­li­sche Kir­che im Aar­gau mit ihrer Wohn­bau­ge­nos­sen­schaft ein. Im Novem­ber 2014 ermög­lich­te die Syn­ode die Grün­dung die­ser Genos­sen­schaft. Sie sucht die Zusam­men­ar­beit mit inter­es­sier­ten Kirch­ge­mein­den und wirbt kir­chen­na­he natür­li­che und juri­sti­sche Per­so­nen als Mit­glie­der an. Die Wohn­bau­ge­nos­sen­schaft «fai­res Woh­nen» Ã¼ber­nimmt Bau­land bevor­zugt im Bau­recht und kann selbst auch Land kau­fen.
 Gemäss ihren Sta­tu­ten han­delt sie sozi­al, öko­no­misch und öko­lo­gisch nach­hal­tig.

«Initia­ti­ve löst aktu­el­le Pro­ble­me nicht»

Fran­çois Cha­puis war bis Ende 2018 Kan­tons­bau­mei­ster und Lei­ter Immo­bi­li­en im Kan­ton Aar­gau sowie Vor­stands­mit­glied der Wohn­bau­ge­nos­sen­schaft «fai­res Woh­nen». Er erklärt, dass die Zer­sie­de­lungs­in­itia­ti­ve die Pro­ble­me nicht löse, vor die sich die Wohn­bau­ge­nos­sen­schaft gestellt sehe: «Die Kir­che besitzt häu­fig Land in Zonen, die für öffent­li­che Bau­ten reser­viert sind. Das schliesst rei­nes Woh­nen aus.»Das Pilot­pro­jekt der lan­des­kirch­li­chen Wohn­bau­ge­nos­sen­schaft soll in Zusam­men­ar­beit mit der Kirch­ge­mein­de Brugg in Birr-Lup­f­ig ent­ste­hen. «Hier stre­ben wir eine Misch­nut­zung an. Die Über­bau­ung soll Gebäu­de­tei­le für die Öffent­lich­keit mit genos­sen­schaft­li­chen Woh­nun­gen kom­bi­nie­ren». Trotz der beab­sich­tig­ten Misch­nut­zung stösst die Wohn­bau­ge­nos­sen­schaft auf Hin­der­nis­se. Fran­çois Cha­puis betont aber: «Die Zer­sie­de­lungs­in­itia­ti­ve besei­tigt die­se Hin­der­nis­se nicht. Viel­mehr müs­sen wir über die Regeln inner­halb der bestehen­den Bau­zo­nen reden.» Auch füh­re die Ver­knap­pung von Bau­land, wie sie die Initia­ti­ve vor­se­he, sei­ner Ein­schät­zung nach zu höhe­ren Land­prei­sen.

Kir­chen­pfle­gen mit akti­ver Boden­po­li­tik meist überfordert

Von stei­gen­den Land­prei­sen könn­ten die Kirch­ge­mein­den als Land­be­sit­ze­rin­nen poten­ti­ell pro­fi­tie­ren. Fran­çois Cha­puis gibt zu beden­ken: «Um von ihren Land­re­ser­ven zu pro­fi­tie­ren, müss­ten die Kirch­ge­mein­den akti­ve Boden­po­li­tik betrei­ben. Dafür braucht es eine Immo­bi­li­en­stra­te­gie, Know-how und Boden am rich­ti­gen Ort.» Akti­ve Boden­po­li­tik betrei­ben nur weni­ge Kirch­ge­mein­den, weil die Kir­chen­pfle­gen in der Regel damit über­for­dert sind. «Hier bie­tet die Wohn­bau­ge­nos­sen­schaft «fai­res Woh­nen» Hand für Lösun­gen. Die Schwie­rig­keit ist, dass die Genos­sen­schaft aktu­ell zu wenig Finanz­kraft auf­weist und des­halb nur ein­zel­ne Pro­jek­te rea­li­sie­ren kann.»

Gutes Bei­spiel in Wettingen

Die Kirch­ge­mein­de Wet­tin­gen zeigt, wie gelun­ge­ne Boden­po­li­tik aus­se­hen kann. Sie hat Land im Bau­recht an die Genos­sen­schaft «Lägern Woh­nen» abge­ge­ben. Auf dem Land der Kirch­ge­mein­de ste­hen nun 27 Woh­nun­gen, die 10 bis 20 Pro­zent unter dem aktu­el­len Miet-Markt­preis ange­bo­ten wer­den kön­nen. Für die näch­sten 50 Jah­re erhält die Kirch­ge­mein­de Wet­tin­gen jähr­lich Zin­sen für ihr Land. Nach Ablauf die­ser Frist kann sie ent­we­der den Ver­trag ver­län­gern oder die Woh­nun­gen über­neh­men.

Ver­zicht zugun­sten des Gemeinwohls

Für den Sozi­al­ethi­ker Tho­mas Wal­li­mann-Sasa­ki ist die Zer­sie­de­lungs­in­itia­ti­ve auch Anlass, über Ver­brauch und Ver­zicht nach­zu­den­ken: «Unbe­strit­ten erscheint, dass im Sin­ne des Gemein­wohls und der Knapp­heit des Bodens eine weit­sich­ti­ge Pla­nung gefor­dert ist, die Gren­zen set­zen muss. Die Fra­ge stellt sich, wer die Lasten die­ser Pla­nung und des Ver­zichts trägt und wer davon pro­fi­tiert. Je wei­ter das Gemein­wohl gefasst wird, desto schnel­ler zeigt sich, dass die Land- und Wohn­raum­be­sit­zen­den ange­sichts ihrer Pri­vi­le­gi­en einen Ver­zicht lei­sten müs­sen, damit das Wohl aller im Blick behal­ten wird.»Die Prä­si­den­tin des Ver­eins oeku Kir­che und Umwelt, Vro­ni Peter­hans, ist Kate­che­tin und Bäue­rin. Auch sie plä­diert für mehr Beschei­den­heit: «Viel­leicht erreicht die­se Initia­ti­ve , dass wir alle unse­ren Anspruch auf die Grös­se unse­rer Wohn­flä­chen etwas redu­zie­ren und somit weni­ger gebaut wer­den muss. Manch­mal müs­sen indi­vi­du­el­le Bedürf­nis­se zugun­sten des Gemein­woh­les zurück gestellt wer­den. Die­se ‚Suf­fi­zi­enz’ wür­de uns Chri­sten zugun­sten der Schöp­fung gut anste­hen, und sie macht erst noch glücklicher.»
Marie-Christine Andres Schürch
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