«Wir war­ten, dass wir unser Leben leben können.»

  • Nach wie vor war­ten im Aar­gau vie­le jun­ge Flücht­lin­ge auf ihren Asy­l­ent­scheid. Man­che kön­nen seit über zwei Jah­ren weder arbei­ten noch eine Aus­bil­dung beginnen.
  • Das Pro­gramm «Bil­dung, Begeg­nung und Beschäf­ti­gung» von Netz­werk Asyl Aar­gau bie­tet Asyl­su­chen­den die Mög­lich­keit, Deutsch­kennt­nis­se zu ver­tie­fen, Kon­tak­te zu knüp­fen und mehr über die Schweiz zu erfah­ren. Eine will­kom­men­de Berei­che­rung ins­be­son­de­re für die im Asyl­ver­fah­ren ste­hen­den Flüchtlinge.
 Zusam­men mit über 30 meist jun­gen Flücht­lin­gen hat sich Roni­ban am Sams­tag­nach­mit­tag, 18. Novem­ber, auf dem Lenz­bur­ger Zeug­haus­are­al ein­ge­fun­den. Das Pro­gramm «Bil­dung, Begeg­nung und Beschäf­ti­gung» von Netz­werk Asyl Aar­gau lädt in Zusam­men­ar­beit mit der Fach­stel­le Bil­dung und Prop­stei der Römisch-Katho­li­schen Lan­des­kir­che Aar­gau zum Besuch der Aus­stel­lung «Hei­mat». Die 23-jäh­ri­ge Kur­din aus Syri­en ist zusam­men mit ihren Geschwi­stern aus Syri­en geflüch­tet, lebt in der Asyl­un­ter­kunft in Woh­len und war­tet auf ihren Asy­l­ent­scheid. Der Aus­flug nach Lenz­burg ist für die jun­ge Frau, die bereits ziem­lich gut Deutsch spricht, eine will­kom­me­ne Abwechs­lung. Denn Arbei­ten oder eine Vor­leh­re begin­nen dür­fen die im Ver­fah­ren ste­hen­den Flücht­lin­ge in der Schweiz nicht – auch wenn sie wol­len. Das War­ten bestimmt ihren All­tag.

Lan­ge­wei­le und ver­ord­ne­tes Nichtstun

Man habe mit 20 Per­so­nen gerech­net, nun sei­en über 30 Flücht­lin­ge gekom­men, freut sich Myros­la­va Rap, Fach­mit­ar­bei­te­rin für Inte­gra­ti­on bei der Fach­stel­le Bil­dung und Prop­stei der Römisch-Katho­li­schen Lan­des­kir­che Aar­gau. Und den mei­sten geht es wie Roni­ban: Sie haben den «N‑Ausweis» und lang­wei­len sich, weil sie «nichts tun dür­fen». Der 19-jäh­ri­ge Eqbal aus Afgha­ni­stan war­tet bereits seit über zwei Jah­ren. «Wir war­ten dar­auf, dass wir unser Leben leben kön­nen», bringt es Roni­ban auf den Punkt.Die Sams­tag­nach­mit­ta­ge des Pro­gramms «Bil­dung, Begeg­nung und Beschäf­ti­gung» bie­ten anhand einer sinn­vol­len Frei­zeit­be­schäf­ti­gung nicht nur ver­tief­ten Deutsch­un­ter­richt, «die Flücht­lin­ge ler­nen auch etwas über unse­re Kul­tur und haben die Mög­lich­keit, Kon­tak­te zu knüp­fen», erklärt Esther Mei­le, die sich als Frei­wil­li­ge an die­sen Nach­mit­ta­gen enga­giert. Ange­dacht war das Pro­gramm, das in Zusam­men­ar­beit mit «Jugend­rot­kreuz Aar­gau» orga­ni­siert wird, jeweils auch als Mög­lich­keit, Flücht­lin­ge mit der loka­len Bevöl­ke­rung zusam­men­zu­brin­gen. Doch das hat noch nicht wie erhofft funk­tio­niert, räumt Fran­ce­s­ca Gia­co­min von der Pro­jekt­lei­tung ein. Zu den Akti­vi­tä­ten – von Besu­chen in einem Ker­kraft­werk, einer Ker­richt­ver­bren­nungs­an­la­ge und ver­schie­de­nen kan­to­na­len Ein­rich­tun­gen bis hin zu Sport – kämen in der Regel nur Flücht­lin­ge und frei­wil­lig Enga­gier­te aus dem Pro­gramm.

Anläs­se zu sexu­el­ler Gesund­heit und Kin­der­recht geplant

Künf­tig wol­le man ver­mehrt infor­ma­ti­ve Ver­an­stal­tun­gen anzu­bie­ten, erklärt Fran­ce­s­ca Gia­co­min. Geplant sei­en unter ande­rem Anläs­se zum The­ma sexu­el­le Gesund­heit und Ver­hü­tung sowie zu Erzie­hung und Kin­der­recht in der Schweiz. «Aus­ser­dem ist unser Vor­ha­ben, den Kon­takt zur Zivil­be­völ­ke­rung zu inten­si­vie­ren», so die «bbb-Pro­jekt­lei­te­rin».In der Aus­stel­lung «Hei­mat» hat die Grup­pe um Roni­ban und Eqbal die Mög­lich­keit, sich mit der eige­nen Migra­ti­ons­ge­schich­te, dem Hei­mat­be­griff und Sehn­süch­ten aus­ein­an­der­zu­set­zen. «Hei­mat kann vie­les sein», erklärt Lucas Säu­ber­li vom Stap­fer­haus-Team: «Auch dein Leib­ge­richt, dass dei­ne Mut­ter immer gekocht hat.» Der Aus­stel­lungs­mit­ar­bei­ter ist jung, sei­ne Mut­ter stammt aus Viet­nam und gebo­ren ist er in den USA. Die Anwe­sen­den begrei­fen: Auch die­ser jun­ge Mann hat einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Und man kann es schaf­fen hier.

Schwei­zer mit Vor­be­hal­ten gegen­über Fremden

«Auch wenn wir unter­schied­li­cher Her­kunft sind, so haben wir doch alle eine gemein­sa­me Her­kunft», erklärt Lucas Säu­ber­li den Ein­stieg in die Aus­stel­lung, der an einen Ute­rus erin­nert. Auf das Wohl­fühl­er­leb­nis folgt die Aus­ein­an­der­set­zung mit dro­hen­dem Hei­mat­ver­lust und eigens für die Aus­stel­lung erho­be­nen Zah­len. 45 Pro­zent von 1000 Befrag­ten gaben an, dass sie in frem­den Kul­tu­ren und ins­be­son­de­re dem Islam eine Gefahr für die Schweiz sähen.Gleich­wohl wol­len Roni­ban, Eqbal und die ande­ren in der Schweiz blei­ben und sich hier eine Zukunft auf­bau­en. «Ich füh­le mich hier ruhi­ger», erklärt Emcet, der in Afgha­ni­stan zur Welt kam und in Paki­stan auf­ge­wach­sen ist. Wohl füh­le er sich hier, prä­zi­siert er nach einer Wei­le. Sein Deutsch ist noch nicht so, wie er es ger­ne hät­te. Gleich­wohl bringt er sich mutig immer wie­der in die Kon­ver­sa­ti­on ein und hat oft die Lacher der Grup­pe auf sei­ner Sei­te. Wie alt er ist, wis­se er nicht. «Aber hier in der Schweiz bin ich 20 Jah­re alt», erklärt er lako­nisch. Die skur­ril anmu­ten­den Aus­sa­gen las­sen eine tra­gi­sche Migra­ti­ons­ge­schich­te erah­nen, die der jun­ge Mann mit flap­si­gen Sprü­chen und viel Humor über­spielt. «Ich glau­be, ich muss in mir Hei­mat fin­den», sagt er schliess­lich.Bereits mehr­fach hat Myros­la­va Rap mit Flücht­lin­gen die Stap­fer­haus-Aus­stel­lung «Hei­mat» besucht. «Ziel des Ange­bo­tes ist es, den Flücht­lin­gen eine Mög­lich­keit zu geben, am kul­tu­rel­len Leben in der Schweiz teil­zu­neh­men und sich mit ihren Hei­mat­ge­füh­len aus­ein­an­der­zu­set­zen.» Und Ein­hei­mi­sche könn­ten durch den gemein­sa­men Besuch der Aus­stel­lung ent­decken, was für einen Hei­mat­be­griff geflüch­te­te Per­so­nen mit­bräch­ten. Sie sei immer wie­der beein­druckt, was dies bei den Men­schen aus­lö­se, so Myros­la­va Rap wei­ter. Teil­wei­se wer­de es sehr emo­tio­nal. Das Aus­stel­lungs­the­ma spieg­le die per­sön­li­che Situa­ti­on: «Die Flücht­lin­ge müs­sen eine neue Hei­mat fin­den und in die­sem Zusam­men­hang auch her­aus­fin­den, ob das die Schweiz sein könn­te.»

«Die Erde ist so schön, aber wir machen so viel kaputt»

Gut zwei­ein­halb Stun­den dau­ert die Hei­ma­ten­t­deckungs­rei­se inklu­si­ve Rie­sen­rad­fahrt. Aus­tausch und gemein­sa­mer Plausch haben eben­so Platz wie Per­sön­li­ches. So kramt wäh­rend des Auf­ent­halts im obe­ren Stock der Aus­stel­lung ein gläu­bi­ger Mus­lim aus Eri­trea unver­mit­telt einen Tep­pich aus dem Ruck­sack und prak­ti­ziert in einer Ecke sein Gebet.Was hat am mei­sten beein­druckt? Für Eqbal ein­deu­tig «die Rake­te», in der die Besu­che­rin­nen und Besu­cher mit Hil­fe einer Vir­tu­al Rea­li­ty-Bril­le ins Welt­all abhe­ben. «Das war so schön», schwärmt der 19-jäh­ri­ge Afgha­ne und ergänzt dann: «Aber es hat mich auch trau­rig gemacht. Die Erde ist so schön, aber wir machen so viel kaputt, has­sen ein­an­der und haben Krieg.» Hin­weis:Auf­grund der gros­sen Nach­fra­ge fin­det am 9. Dezem­ber noch­mals eine Füh­rung durch die Aus­stel­lung «Hei­mat» im Rah­men des Pro­gramms «Bil­dung, Begeg­nung und Beschäf­ti­gung» statt. Auch Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer sind will­kom­men. Nähe­re Infor­ma­tio­nen auf www.netzwerk-asyl.ch/projekte/bbb sowie auch direkt bei Frau Fran­ce­s­ca Gia­co­min: T 079 268 92 44.Inter­es­sier­te Pfar­rei­grup­pen sowie auch Frei­wil­li­gen­or­ga­ni­sa­tio­nen, die im Flücht­lings­be­reich tätig sind und mit einer Grup­pe Flücht­lin­ge die Aus­stel­lung «Hei­mat» besu­chen wol­len, wen­den sich an Myros­la­va Rap von der Fach­stel­le Bil­dung und Prop­stei der Römisch-Katho­li­schen Lan­des­kir­che Aar­gau. Ter­min, Füh­rung und Aus­tausch nach dem Aus­stel­lungs­be­such inklu­si­ve Ver­pfle­gung wer­den orga­ni­siert. Kon­takt:  
Andreas C. Müller
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