«Wir müs­sen Men­schen weg­wei­sen — das ist nicht logisch!»

  • An der Ver­hält­nis­mäs­sig­keit der Coro­naschutz­mass­nah­men schei­den sich auch bei Seel­sor­gen­den die Gei­ster. Hori­zon­te sprach mit Dia­kon Wal­de­mar Cupa aus Woh­len und Spi­tal­seel­sor­ger Jür­gen Hein­ze (Kan­tons­spi­tal Baden).
  • Für die Kir­chen haben die aktu­ell gel­ten­den Schutz­mass­nah­men gera­de in den Stadt­pfar­rei­en ein­schnei­den­de Fol­gen. Auf­grund der Beschrän­kung auf 50 Per­so­nen kön­nen längst nicht alle, die das möch­ten, an den Got­tes­dien­sten teilnehmen.
  • Es naht über­dies das Weih­nachts­fest. Vie­les wird im gewohn­ten Rah­men nicht mög­lich sein. Die Fol­ge: Vie­le Fei­er­lich­kei­ten wer­den abge­sagt. Wel­che Fol­gen das alles für kirch­li­che Sozi­al­struk­tu­ren haben wird, ist zum jet­zi­gen Zeit­punkt noch nicht absehbar.

Herr Hein­ze, Herr Cupa, wir durch­le­ben gera­de eine her­aus­for­dern­de Zeit. Wie neh­men Sie das wahr?
Jür­gen Hein­ze:
Es gab wohl kaum eine Kri­se in jün­ge­rer Zeit , die uns so nahe geht und so lan­ge andau­ert – ver­bun­den mit viel Rat­lo­sig­keit und unter­schied­li­chen Mei­nun­gen dar­über, was rich­tig und falsch ist.

[esf_wordpressimage id=“11024” width=“half” float=“left”][/esf_wordpressimage]

Herr Cupa, Sie lei­ten in den Pfar­rei­en des Pasto­ral­raums Woh­len regel­mäs­sig Got­tes­dien­ste. Für die­se gilt eine Per­so­nen­be­schrän­kung und Mas­ken­pflicht. Wie geht es den Men­schen damit?
Wal­de­mar Cupa: In den Aus­sen­pfar­rei­en unse­res Pasto­ral­raums bedeu­tet die Beschrän­kung auf 50 Per­so­nen für nor­ma­le Got­tes­dien­ste kei­ne gros­se Ein­schrän­kung, aber in der Stadt­pfar­rei Woh­len schon. Obwohl dort unter Ein­hal­tung der Abstands­re­geln bis zu 100 Per­so­nen Platz hät­ten, müs­sen wir Men­schen weg­wei­sen wegen die­ser unfle­xi­blen Beschrän­kung auf 50 Per­so­nen, egal wie gross die Kir­che ist – das ist nicht logisch und nicht nach­voll­zieh­bar.
Jür­gen Hein­ze: Ich fin­de das, je nach Situa­ti­on, auch nur schwer nach­voll­zieh­bar. Und bei etwas, das nicht nach­voll­zo­gen wer­den kann, besteht die Gefahr, dass es nicht akzep­tiert und zusam­men mit ande­ren, wich­ti­gen Schutz­mass­nah­men abge­lehnt wird.

Und dann kann es zu Denun­zia­tio­nen kom­men, wie mir unlängst ein Seel­sor­ger bestä­tigt hat.
Wal­de­mar Cupa: Ja, das ist erschreckend. Mich beschäf­tigt, dass die Spal­tung der Bevöl­ke­rung in Befür­wor­ter und Geg­ner der Schutz­mass­nah­men zuneh­mend das zwi­schen­mensch­li­che Kli­ma ver­gif­ten kann.
Jür­gen Hein­ze: Das wird uns noch län­ge­re Zeit beschäf­ti­gen. Aber die zuneh­men­de Pola­ri­sie­rung ist nicht etwas, das mit Coro­na kam. Sie hat sich jedoch mit der Pan­de­mie verstärkt.

Spürt man das bis in kirch­li­che Krei­se?
Wal­de­mar Cupa: Doch schon… nur schon unter Mit­ar­bei­ten­den. Die einen sehen es mit den Schutz­mass­nah­men locke­rer als ande­re, das kann zu Span­nun­gen führen.

[esf_wordpressimage id=“25009” width=“half” float=“right”][/esf_wordpressimage]

Und was sagen die Gläu­bi­gen?
Wal­de­mar Cupa: Ich erle­be immer wie­der Situa­tio­nen, die schmerz­haft sind, gera­de im Rah­men von Beer­di­gun­gen, wo Nähe und das Zusam­men­kom­men von grös­se­ren Grup­pen nicht mög­lich ist.

Herr Hein­ze, Sie arbei­ten als Seel­sor­ger am Kan­tons­spi­tal Baden. Inwie­weit ist ihre seel­sor­ge­ri­sche Arbeit dort von Schutz­mass­nah­men betrof­fen und was erhal­ten Sie für Rück­mel­dun­gen von Pati­en­ten und Ange­hö­ri­gen?
Jür­gen Hein­ze: Wir haben seit März eine per­ma­nen­te Mas­ken­pflicht auf den Sta­tio­nen und in den Zim­mern. Bei Besu­chen auf der Sta­ti­on mit Covid-Pati­en­ten tra­gen wir zusätz­lich Schutz­an­zug, Schutz­bril­le und Handschuhe.

Wie kön­nen die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten damit umge­hen?
Jür­gen Hein­ze: Ganz gut, denn jeder, der ins Zim­mer kommt, muss sich so schüt­zen. Eine gros­se Bela­stung für vie­le Men­schen im Spi­tal ist die Begren­zung der Besu­cher­zahl: Aktu­ell eine Per­son für maxi­mal 30 Minu­ten. Und auf der Covid-Sta­ti­on sind gar kei­ne Besu­che erlaubt – aus­ser bei Ster­ben­den.
Wal­de­mar Cupa: Man kann sich schon fra­gen, inwie­weit es für die Men­schen nicht wich­ti­ger ist, dass man Besuch emp­fan­gen kann…
Jür­gen Hein­ze: Momen­tan hat ein­fach der Schutz vor wei­te­ren Infek­tio­nen die höhe­re Prio­ri­tät – und das ist für mich nach­voll­zieh­bar, aber im Ein­zel­fall sehr schmerzhaft.

Eine Seel­sor­ge­rin aus Klein­döt­tin­gen mein­te mir gegen­über unlängst: «All das, was unse­re Arbeit aus­macht, ist beein­träch­tigt: Nähe suchen, Begeg­nung, Bezie­hung, Gemein­schaft. Das alles geht kaputt.» Sehen Sie das auch so?
Wal­de­mar Cupa: Die Gefahr besteht in der Tat, dass sich vie­les auf­löst. Die Mit­glie­der des Kir­chen­chors bei­spiels­wei­se dür­fen nicht mehr zusam­men sin­gen. Oder dann die Mini­stran­ten… wenn die nicht mehr häu­fig auf­ge­bo­ten wer­den, stei­gen sie aus. Wenn da nicht näch­stens eine Ände­rung pas­siert, könn­ten gan­ze sozia­le Net­ze aus­ein­an­der­fal­len.
Jür­gen Hein­ze: Das sehe ich auch so. Gera­de für Grup­pen mit älte­ren Men­schen kann die aktu­el­le Situa­ti­on das Ende bedeu­ten, wenn nicht mit Hil­fe einer Imp­fung bald wie­der Begeg­nung und Nähe zuge­las­sen wer­den kann.

[esf_wordpressimage id=“29127” width=“half” float=“left”][/esf_wordpressimage]

Vie­le haben davon gespro­chen, dass die aktu­el­le Pan­de­mie auch eine Chan­ce für die Kir­chen sein kann, sich wei­ter zu ent­wickeln. Haben die Kir­chen die­se Chan­ce Ihrer Ansicht nach gepackt?
Jür­gen Hein­ze: Eine pau­scha­le Ant­wort habe ich nicht. Das blos­se Strea­men eines Got­tes­dien­stes hal­te ich noch nicht für eine Wei­ter­ent­wick­lung. Aber es gibt auch vie­le krea­ti­ve Aktio­nen, damit kirch­li­ches Leben wei­ter­hin statt­fin­den kann.
Wal­de­mar Cupa: Digi­ta­le Lösun­gen wie Tele­kon­fe­ren­zen oder das Strea­ming von Got­tes­dien­sten kön­nen kurz­fri­stig hilf­reich sein. Sie haben uns aber auch bewusst gemacht, dass ein vir­tu­el­ler Ersatz den Men­schen lang­fri­stig nicht erfül­len kann. Die 98–99 Pro­zent der Men­schen, die nicht ster­ben wer­den an Covid, sol­len sobald wie mög­lich wie­der ein nor­ma­les Leben füh­ren können.

Immer mehr kirch­li­che Ver­an­stal­tun­gen und Got­tes­dien­ste müs­sen abge­sagt wer­den. Und nach Ostern wird es auch Weih­nach­ten in der tra­di­tio­nell kirch­li­chen Form nicht geben. Ist nicht zu erwar­ten, dass des­we­gen künf­tig noch mehr Leu­te der Kir­che fern­blei­ben, auch wenn sich die Situa­ti­on wie­der nor­ma­li­siert hat?
Jür­gen Hein­ze: Schwer zu sagen. Wenn bis dahin ein wirk­sa­mer Impf­stoff da ist, wird Weih­nach­ten im kom­men­den Jahr viel­leicht umso inten­si­ver gefei­ert.
Wal­de­mar Cupa: Das kann sein, aber ich sehe Anzei­chen dafür, dass der wirt­schaft­li­che und sozia­le Scha­den, der durch die Schutz­mass­nah­men ange­rich­tet wird, bei wei­tem grös­ser ist als der erhoff­te Nutzen.

Herr Cupa, wenn man Sie so reden hört, könn­te man mei­nen, Sie sei­en ein Coro­na-Skep­ti­ker
Wal­de­mar Cupa: Was heisst Skep­ti­ker…? Ich sage nicht, das Virus gibt es nicht. Aber die erlas­se­nen Schutz­mass­na­hem ste­hen in kei­nem Ver­hält­nis zur Bedro­hung. Wenn ich den­ke, wie vie­le Beer­di­gun­gen wir im 2017 hat­ten und wie vie­le weni­ger es die­ses Jahr sind…

Herr Hein­ze, darf man als Seel­sor­ger so argu­men­tie­ren?
Jür­gen Hein­ze: Wir haben der­zeit eine Über­sterb­lich­keit bei älte­ren Men­schen, das kann man sta­ti­stisch bele­gen. Und die beschlos­se­nen Mass­nah­men zei­gen in Bezug auf die Neu­in­fek­tio­nen Wir­kung. Zudem möch­te in den Spi­tä­lern nie­mand ent­schei­den müs­sen, wem man dann das letz­te Inten­siv­bett geben will, wenn es kei­nen Platz mehr hat. Und dann sind da noch die Spät­fol­gen von Coro­na. Auch jun­ge Pati­en­ten lei­den oft an lang­an­hal­ten­der Müdig­keit und anderem…

[esf_wordpressimage id=“28793” width=“half” float=“right”][/esf_wordpressimage]

Aber wer­den nicht auch vie­le Men­schen auf­grund der Ein­schrän­kung des öffent­li­chen Lebens exi­sten­zi­ell getrof­fen?
Jür­gen Hein­ze: Das gegen­ein­an­der abzu­wä­gen, ist gar nicht mög­lich. Aber es ist schon so, wenn ich an all die Men­schen den­ke, die seit März ihren Job ver­lo­ren haben oder jetzt um ihn fürch­ten. Das sind dra­ma­ti­sche Schick­sa­le. Das muss die Poli­tik stär­ker abfe­dern. In Deutsch­land gab es nach dem Zwei­ten Welt­krieg eine ein­ma­li­ge Abga­be aus hohen Ver­mö­gen – das wäre viel­leicht auch ein Ansatz, um die wirt­schaft­li­chen Fol­gen der aktu­el­len Kri­se zu mil­dern.
Wal­de­mar Cupa: Wir lau­fen ein­fach Gefahr, dass unser wirt­schaft­li­ches System zusam­men­bricht, wenn das so wei­ter geht. Gera­de, wenn jetzt der Mit­tel­stand wei­ter ero­diert, dann wird es gefähr­lich… Und rein mathe­ma­tisch gese­hen, ste­hen wir erst am Anfang der Pan­de­mie.
Jür­gen Hein­ze: Ja, und dar­um ver­sucht man ja, den Zug zu brem­sen. Aber ich kann den Ärger vie­ler Men­schen ver­ste­hen. Wenn das Klei­der­ge­schäft in der Innen­stadt oder die Buch­hand­lung ums Eck kaputt geht, weil sie die Mie­te nicht mehr zah­len kön­nen, aber Online-Ver­sen­der astro­no­mi­sche Gewin­ne erwirt­schaf­ten, dann ist das kei­ne gute Entwicklung.

Wie ver­ste­hen Sie als Seel­sor­ger Coro­na? Wer­den Sie nicht auch ab und an von Gläu­bi­gen gefragt, was Gott da mit uns vor hat?
Wal­de­mar Cupa: Gott ruft uns immer zur Umkehr auf, dass wir bes­se­re Men­schen wer­den.…
Jür­gen Hein­ze: Ich bin mit einer theo­lo­gi­schen Deu­tung sehr vor­sich­tig. Das Virus ist Teil der Schöp­fung. Der Mensch trägt durch den Raub­bau an der Natur und durch eine über­bor­den­de Mobi­li­tät dazu bei, dass es sich rasend schnell auf dem Erd­ball ver­brei­ten konn­te. Eine Kern­fra­ge ist unser Umgang mit der Schöp­fung. Daher wür­de ich es begrüs­sen, wenn sich bestimm­te frag­wür­di­ge Lebens­ge­wohn­hei­ten infol­ge von Coro­na ver­än­dern wür­den. Zum Shop­ping übers Wochen­en­de nach New York flie­gen: So etwas muss es nicht wie­der geben.

Was den­ken Sie: Wel­chen Ver­lauf wird die Pan­de­mie neh­men und wel­che Fol­gen wird sie für unser reli­giö­ses, kirch­li­ches Leben haben?
Jür­gen Hein­ze: Wir ste­hen ja immer noch am Anfang der Durst­strecke. Kaum jemand rech­net mit einer deut­li­chen Ent­span­nung vor dem Früh­ling. Dar­über hin­aus wird die Pan­de­mie die lang­fri­sti­ge Ent­wick­lung, die wir seit Jahr­zehn­ten in der Kir­che spü­ren, also den Mit­glie­der­rück­gang und den Bedeu­tungs­ver­lust der Kir­chen, nicht auf­hal­ten. Allen­falls erhal­ten die Kir­chen kurz­fri­stig einen klei­nen Schub. Im besten Fall besin­nen sich die Men­schen wie­der stär­ker auf die lebens­för­dern­de Kraft der Reli­gi­on, aber dass dadurch die Kir­chen wie­der voll wer­den, das glau­be ich nicht.
Wal­de­mar Cupa: Vie­le glau­ben nicht mehr, dass Wahr­heit erkenn­bar ist. Die Aus­sa­ge von Jesus «Ich bin der Weg und die Wahr­heit und das Leben» wirkt für sie des­halb arro­gant. Wenn aber Zwei­fel und Rela­ti­vis­mus vor­herr­schen, ist es für den Men­schen – unab­hän­gig von der Pan­de­mie – schwie­rig, sich auf einen reli­giö­sen Weg einzulassen.

Was kön­nen Seel­sor­gen­de wie Sie in der aktu­el­len Kri­se, die sich nicht nur epi­de­misch, son­dern auch phi­lo­so­phisch äus­sert, tun?
Jür­gen Hein­ze: Ich mei­ne, wir müs­sen vor allem prä­sent und ansprech­bar blei­ben und auf ver­schie­de­nen Wegen ver­su­chen, das Feu­er des Evan­ge­li­ums am Bren­nen zu hal­ten.
Wal­de­mar Cupa: Mög­lich­kei­ten sehe ich in der per­sön­li­chen Bezie­hung. Bei­spiels­wei­se ein Trau­er­ge­spräch: In einem indi­vi­du­el­len Gespräch hast du immer die Chan­ce, etwas zu bewir­ken. Und wir Chri­sten dür­fen uns auch nicht ein­fach von der Furcht bestim­men las­sen. «Fürch­tet euch nicht», hat ja Jesus auch immer wie­der gesagt.
Jür­gen Hein­ze: Ja, aber da bewe­gen wir uns auf einem schma­len Grad. Wir dür­fen das Virus nicht unter­schät­zen.
Wal­de­mar Cupa: Aber unse­re Frei­heit, die dür­fen wir uns auch nicht neh­men las­sen.
Jür­gen Hein­ze: Die aktu­el­le Situa­ti­on erfor­dert die eine oder ande­re Ein­schrän­kung der Frei­heit. Damit ist sie aber noch nicht ver­lo­ren. Zudem gehö­ren Frei­heit und Ver­ant­wor­tung zusammen.

Andreas C. Müller
mehr zum Autor
nach
soben