Wie hast du’s mit der Religion?

Wie hast du’s mit der Religion?

Für das Buch «Wie hast du’s mit der Reli­gion?» haben Ben­no Bühlmann, Mar­ti­na Läubli und Wolf Süd­beck-Baur mit 27 Per­sön­lichkeit­en «Gespräche über Gott und die Welt» geführt. Darunter bekan­nte Schweiz­er Per­sön­lichkeit­en wie Peter Bich­sel, Polo Hofer, Maya Graf, Josef Lang oder Jean Ziegler. Sie alle geben in den Gesprächen einen span­nen­den, biografisch geprägten Ein­blick ihr ihr per­sön­lich­es Ver­hält­nis zu Reli­gion, Gott und Spir­i­tu­al­ität. Das Buch wurde von der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau mit einem finanziellen Beitrag unter­stützt und erscheint am 4. Dezem­ber 2015. Nach­ste­hend ein Auszug. Peter Bich­sel, Sie sind Mit­glied der Reformierten Kirche, aber ein pas­sives. Sie zahlen gerne ihre Kirchen­s­teuer in der Vorstel­lung, dass ein ander­er klein­er Bub in der Kirche seine Emanzi­pa­tion find­et. Wie haben Sie Ihre Emanzi­pa­tion gefun­den? Ich war ein sehr angepasster Bub, hat­te sehr fre­undliche Eltern, mochte sie. Ich war ein sehr anständi­ger Schüler. Ich hat­te keine Möglichkeit, mich zum Beispiel in der Unanständigkeit zu emanzip­ieren, son­dern nur in über­trieben­er Anständigkeit. Das hiess für mich damals, dass ich mich nur im Pietismus emanzip­ieren kon­nte. Ich hat­te eine frei gewählte pietis­tis­che Jugend, ohne also von den Eltern bee­in­flusst zu sein. Ange­fan­gen hat das beim Blauen Kreuz und Bibelle­se­bund, ging über fre­undliche Ländlis­chwest­ern und irgendwelche Predigten in der Unterkirche. In diese Fröm­migkeit habe ich mich richtig reingekni­et, die Bibel gele­sen, was als Bil­dungs­fun­dus etwas Wun­der­bares war.Was hat Sie an der pietis­tis­chen Art zu glauben ange­zo­gen? Ich habe dort gel­ernt, in Min­der­heit­en zu leben, mich mit der Gitarre an die Hausecke hinzustellen und Wei­h­nacht­slieder zu sin­gen, ob es den andern gefällt oder nicht.Das haben Sie gemacht? Ja, natür­lich. Das war hart und bit­ter. Sei­ther habe ich mich immer nur in Min­der­heit­en bewegt, die Mehrheit­en haben mir nie gefall­en. Ich würde aus jed­er Bewe­gung aus­treten, die eine Mehrheit erlangt. Ich füh­le mich nur in Min­der­heit­en wohl. Ein Schafhirte in der Provence hat mir erzählt, wie lang­weilig das ist, zehn­tausend Schafe hüten zu müssen und wie stro­hdumm sie sind. Der Hirte hat auch gesagt, dieser Jesus von Nazareth war ein­deutig ein Intellek­tueller, denn seine Gle­ich­nisse von den Schafen zeigen, dass er nie etwas mit Bauern zu tun hat­te. Die richti­gen Schafhirten haben ihn wohl darum aus­gelacht. Schafe ken­nen die Stimme ihres Her­rn nicht, vor allem kön­nen sie nicht zählen. Als Hirte hat man nur Mühe, wenn die Herde auseinan­der­fällt. Man bekommt sie nicht mehr zusam­men, weil bei­de Teile glauben, sie seien die Herde. Selb­st wenn von zehn­tausend zwanzig Schafe wegge­hen, sagte der Hirte, meinen diese, sie seien alle. Ein solch­es Schaf möchte ich ab und zu sein, eben im Kreis der San­ft­müti­gen oder – mit sehr viel Anführungsze­ichen – der «Gerecht­en» mal einen Abend lang sitzen und das Gefühl haben, wir sind alle. Dieses Gefühl brauche ich schon. Das ist meine Lust, in Min­der­heit­en zu leben.Reli­gion bedeutet für Sie Emanzi­pa­tion … Ich erzäh­le Ihnen eine Geschichte: Ein alter Jude, ein guter Fre­und von mir, er lebt schon lange nicht mehr, hat mir mal gesagt, im jüdis­chen Glauben gäbe es keinen Him­mel und kein Leben nach dem Tod. Da stimmt etwas nicht, hab’ ich gesagt, der Elias ist doch im Feuer­wa­gen zum Him­mel aufge­fahren und sitzt zur Recht­en Gottes. Das stimmt, meinte er, dann muss ich mir das noch mal über­legen und sagte später: Du hast recht, es gibt einen Him­mel, aber sehr wahrschein­lich ist er uns nicht so wichtig. Wenn Chris­ten­tum nichts anderes ist als die Garantie des Lebens nach dem Tode, kann es mir gestohlen bleiben. Ich nehme an, dass es nach diesem Leben nichts gibt. Alle Vorstel­lun­gen, die mir schon als kleines Kind zuge­tra­gen wur­den, sind Vorstel­lun­gen, die ich mir nicht vorstellen kann. Wenn der Him­mel so ist, wie ihn sich die Men­schen vorstellen, möchte ich unbe­d­ingt nicht hinein und für mich eine Aus­nahme.Was bedeutet für Sie das Leben? Leben bedeutet für mich Dilem­ma. Das heisst, wenn es nach dem Tod etwas gibt, ist es ganz bes­timmt nicht Leben, das ist die falsche Form. Weit­er inter­essiert es mich nicht. Ich brauche keinen Trost. Ich habe gelebt, das Leben hat mir gefall­en. Es kann sein Ende haben so, wie es mal seinen Anfang hat­te.Sind Sie schon daran, mit Ihrem Leben abzuschliessen? Vielle­icht habe ich das auch als Pietist gel­ernt, dass ich schon als Kind am Abschliessen war. Das einzige gemein­same, was die Men­schen haben, ist die Sicher­heit des Todes ……aber sie haben vorher das Leben. Bei­des. Natür­lich wider­spreche ich mir, aber ich will mir wider­sprechen. Sie kön­nen mir jet­zt nicht sagen, ah, ich meine nur den Tod, vorher hätte ich doch das Leben gemeint. Sie wer­den es nicht fer­tig­brin­gen, mich auf das eine oder das andere festzule­gen. Ich habe auch keine Lieblings­farbe. Sie kön­nen mich auch nicht fra­gen, ob ich Blu­men lieber habe als Frauen oder Schoko­lade lieber als Käse.Das wäre ein Missver­ständ­nis. Ich meine, bevor jed­er ein­mal ster­ben muss, hat jed­er und jede die Auf­gabe, die Welt und das Leben, in das sie gewor­fen sind, zu meis­tern. Darum stellt sich immer wieder die Frage nach Visio­nen, wie dieses Leben ausse­hen soll. Sie hinge­gen sprechen vom Dilem­ma des Lebens. Das tönt drama­tisch. Das ist abso­lut nor­mal. Ich mag meinen Ärg­er genau­so wie ich meine Freude mag, ohne Ärg­er möchte ich nicht leben. Ich kön­nte mir eine bessere, eine sozial ver­ant­wortlichere humanere Gesellschaft vorstellen, und ich habe mich poli­tisch auf der sozial­is­tis­chen Seite einge­set­zt mit der Vorstel­lung, dass etwas gelin­gen wird. Doch eine Gesellschaft ohne Dilem­ma ist für mich unvorstell­bar, und der Weg zur besseren Gesellschaft ist mir wichtiger als die bessere Gesellschaft. Ich bin nicht so sich­er, ob mich das Ende, die schöne neue humane Gesellschaft, inter­essieren würde. Aber erstrebenswert ist sie und war sie schon immer.Zurück zur Kirche. Ihr Unter­gang wäre für Sie eine trau­rige Sache. Warum? Mich fasziniert an der Kirche – wie kon­ser­v­a­tiv sie auch immer ist, wie fürchter­lich und gemein sie sein kann und in der Geschichte war –, dass sie ihren Grün­der nicht über Bord wer­fen kann. Die Sozialdemokrat­en haben schon längst alle ihre Lehrer über Bord gewor­fen, die Lib­eralen haben ihre Lehrer, die englis­chen Philosophen, nie gekan­nt. Aber auf diesen Jesus von Nazareth, wer er auch immer war, wer­den sich in dieser Welt immer wieder Rev­o­lu­tionäre, Min­der­heit­en und Einzelne beziehen. Als Kind habe ich die Kirche benützt. Auch wenn ich sie nicht mehr benütze, möchte ich anderen die Gele­gen­heit geben, sie zu benützen. Ich brauche keinen Pfar­rer an mein­er Beerdi­gung, bezahle aber die Kirchen­s­teuer.Warum haben Sie sich von der Kirche ver­ab­schiedet? Mein Abschied von der Kirche war nach und nach ein Sich-Hinüber­ret­ten in die The­olo­gie. Mich inter­essierten alle christlichen Fär­bun­gen, und ich habe ver­sucht, meinen kindlichen Glauben zu ver­wis­senschaftlichen. Hier lag schon der Anfang des Abschieds.Sobald die Ver­nun­ft ins Spiel kam, gin­gen Sie auf Dis­tanz? Das ist nicht wahr. Ich war ein dur­chaus vernün­ftiger junger Men­sch. Ich kann diese Zweit­eilung – hier Ver­nun­ft, da Glaube – nicht so sehen. Ich habe eine grosse Verehrung für Leute, die sich verän­dern kön­nen, finde aber Leute, die sich total verän­dern, entset­zlich. Ein ehe­ma­liger Bekan­nter wurde Heil­sarmist, sang in Uni­form zur Gitarre und predigte an der Strasse­necke. Später trat er aus der Heil­sarmee aus. Ich fand es grossar­tig, was er als Heil­sarmist tapfer getan hat­te und fand es auch grossar­tig, dass er das hin­ter sich brin­gen kon­nte. Ich war aber furcht­bar entset­zt, als er zwei Jahre später zu mir sagte, es gebe selb­stver­ständlich keinen Gott, alle, die an Gott glauben, seien Idioten. Ich habe nichts dage­gen, wenn das jemand sagt. Aber ich habe was dage­gen, wenn sich jemand so schwarzweiss verän­dern kann. Damit will ich sagen: Ich glaube, das Stück Religiösität steckt in mir und bleibt. Ich möchte, dass dieses Leben von irgendwem oder irgend­was gemeint ist, das heisst, ich bin darauf angewiesen, dass es so ist. Mir ist Wurst, ob es einen Gott gibt oder nicht, aber ich glaube an ihn. Ich hab’ das nötig, an ihn zu glauben. Das Schlimm­ste wäre, wenn jemand käme und den let­zten natur­wis­senschaftlichen Gottes­be­weis antreten kön­nte. Ich glaube, nach diesem Beweis würde ich meinen Glauben ver­lieren.Wie ist Ihr Ver­hält­nis zur Kirche als Insti­tu­tion? Ich erwarte unter dem Dach der Kirche doch noch ein biss­chen die Ver­samm­lung der Gutwilli­gen. Dabei muss ich wieder sagen, dass ich diese Ver­samm­lung immer in Organ­i­sa­tio­nen am Rande der Kirche finde, nicht im Kirchen­schiff selb­st, wo die Big­ot­ten, oppor­tunis­tisch Angepassten und poli­tis­chen Kar­ri­eris­ten sitzen. Am kirch­lichen Rand habe kür­zlich wieder etwas Wun­der­bares erlebt bei Leuten, die für geistig Behin­derte ein Ferien­lager führen. Aber tagtäglich möchte ich mich nicht in dieser zu san­ft­müti­gen Gegend bewe­gen, das Dilem­ma käme mir abhan­den.Wie sehen Sie das Ver­hält­nis von Kirche und Staat? Ten­den­ziell bin ich für eine Kirche, die vom Staat unab­hängig ist. Wenn Staat und Kirche zusam­menge­hen, beste­ht die Gefahr, dass Staat und Kirche gemein­sam definieren, was anständig ist. Möglich wäre auch, dass der Staat Anständigkeit definiert und die Kirche sie respek­tiert. Das würde heis­sen, anständig sein ist christlich genug. Eine Kirche, die oppor­tunis­tisch die Macht der Mächti­gen nicht mehr in Frage stellt, ist zum Unter­gang gewei­ht. Sie hat einen oppo­si­tionellen Auf­trag, den Zeigefin­ger zu heben und zu sagen: Halt! Aber auch hier wieder: die Kirche hat das Dilem­ma von Anfang an mit­geschleppt. Sie hat in der Geschichte noch und noch ver­sagt. Sie hat im Nation­al­sozial­is­mus ver- sagt, sie hat damals – das muss man auch sagen – aber auch nicht ver­sagt. Es gab eine beken­nende Kirche, es gab auch einen katholis­chen Wider­stand. Es gab bei­des. Auf diesem Schleud­erkurs war die Kirche schon immer, und sie ist mir schleud­ernd lieber als gradlin­ig.Vernissage mit Peter Bich­sel, Rifaat Lenzin und Jo Lang: 9. Dez. 2015, 19.30 Uhr, Romero­Haus Luzern. Mod­eriert wird das Gespräch von Erwin Koller. 
Andreas C. Müller
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