Wie ein Sech­ser im Lotto

Von Kin­des­bei­nen an hat­te die Mut­ter zwei­er erwach­se­ner Kin­der mit einer Herz­er­kran­kung gelebt. Dass letzt­lich nur noch eine Trans­plan­ta­ti­on ihr Leben wür­de ret­ten kön­nen, war für Mari­an­ne Urech Dro­hung und Hoff­nung zugleich. Im Inter­view mit Hori­zon­te schil­dert die 52-Jäh­ri­ge, wie sie mit der Situa­ti­on umging, wel­che Fra­gen sich rund um das mög­li­che Ende, das Geschenk eines neu­en Lebens und das Wis­sen um ein begrenz­tes Dasein stellten.Sie leben jetzt seit 15 Jah­ren mit einem trans­plan­tier­ten Her­zen. Wie fühlt sich das an? Mari­an­ne Urech: Ich hät­te nie gedacht, dass das so gut her­aus­kommt. Im Ver­gleich zu vor der Ope­ra­ti­on kann ich den All­tag viel bes­ser bewäl­ti­gen. Ich arbei­te wie­der 50 Pro­zent, enga­gie­re mich in der Frei­wil­li­gen­ar­beit, mache den Gar­ten, wan­de­re ger­ne und fah­re Ski. Theo­re­tisch könn­te ich auch Sport trei­ben, aber ich bin ein Bewe­gungs­muf­fel (lacht). Das war ich schon immer…Wie kam es dazu, dass Sie auf ein neu­es Herz ange­wie­sen waren? Obschon bereits als Kind eine unge­wöhn­li­che Herz­form und etwas ein­ge­schränk­te Lei­stung fest­ge­stellt wur­den, hat mich das nie gross. bela­stet. Ich durf­te im Tur­nen nur das machen, was mir nicht zu streng war, anson­sten hat­te ich nie Pro­ble­me. Als ich 25 Jah­re alt war, wur­de bei mir dann eine Krank­heit dia­gno­sti­ziert. Es hiess, Fett­zel­len wür­den sich im Herz ein­la­gern. Dadurch wür­de mein Herz unauf­halt­sam schwab­be­li­ger und kraft­lo­ser. Das sei irrever­si­bel und wür­de wohl auf lan­ge Sicht eine Trans­plan­ta­ti­on bedeu­ten.Was hiess das für Sie? Zunächst ein­mal: Ich war damals schon vier Jah­re ver­hei­ra­tet, wir wünsch­ten uns eigent­lich Kin­der. Das sei zu gefähr­lich, mein­te der Arzt.Aber Sie haben doch zwei Kinder. Ja, wir hat­ten ein Rie­sen­glück: Wir konn­ten einen Buben und ein Mäd­chen adop­tie­ren. Das war 1990 und 1992. Also drei Jah­re nach dem Befund.Bis zur Trans­plan­ta­ti­on hat es dann aber noch knapp 10 Jah­re gedau­ert. Ging es Ihnen so lan­ge noch gut? Erst ab 1997 mach­ten sich Pro­ble­me bemerk­bar. Wäh­rend der Advents­zeit, bin ich beim Ein­kau­fen fast zusam­men­ge­klappt. Mei­ne Wahr­neh­mung war ganz komisch, die Musik im Kauf­haus dröhn­te. Ich tor­kel­te regel­recht. Dann ging’s plötz­lich wie­der. Aber der Arzt mein­te her­nach, das war Herz­kam­mer­flim­mern und ging knapp am Tod vor­bei. Als Fol­ge wur­de ein klei­ner Defi­bril­la­tor ein­ge­setzt.Das hat dann funktioniert? Ich habe die Ope­ra­ti­on nur schlecht über­stan­den, war sehr geschwächt. Als Fol­ge der Ope­ra­ti­on erlitt ich einen Hirn­schlag. Das Beson­de­re dabei: Es geschah am Kar­frei­tag und am Oster­sonn­tag war der gan­ze Spuk wie­der vor­bei…Also ein ganz beson­de­res Oster­er­leb­nis, gewissermassen… Ja, schon. Ich merk­te, etwas stimm­te nicht. Ich wuss­te nicht mehr, wie das Tele­fo­nie­ren geht. Ich habe sofort wie­der ver­ges­sen, was ich getan habe. Oder rech­nen… Ich wuss­te: Zwei plus zwei, das ist eine ganz ein­fa­che Rech­nung, aber ich konn­te es nicht…Und an Ostern war alles wie­der wie vorher? Ja, was das betrifft. Aber nach und nach wur­de ich immer schwä­cher. Konn­te letzt­lich kaum noch ein paar Meter gehen, ohne dass ich völ­lig aus­ser Atem war. Ohne Hil­fe im Haus­halt schaff­te ich es nicht mehr. Eltern, Nach­barn und Freun­de hal­fen bei der Kin­der­be­treu­ung, mach­ten die Wäsche und immer wie­der durf­ten wir uns an einen gedeck­ten Tisch set­zen. Eine Trans­plan­ta­ti­on war unaus­weich­lich gewor­den.Das war dann etwa ein Jahr nach der ersten Herz­ope­ra­ti­on. Wie lan­ge muss­ten Sie auf ein Spen­der­herz warten? Nur sechs Wochen. Ich bekam einen Pager, hat­te gepack­te Kof­fer. Die Freu­de war rie­sig, als an einem Mon­tag­abend nach einem gemüt­li­chen Spa­ghet­ti-Essen mit der Fami­lie der Tele­fon­an­ruf kam, ob ich in einer Vier­tel­stun­de bereit sein kön­ne.Hat Sie bela­stet, dass jemand ster­ben muss, damit Sie leben können? Ich habe das nie so emp­fun­den. Ich habe das stets so gese­hen, dass sich jemand ent­schie­den hat, unab­hän­gig davon, was mit ihm pas­siert, sei­ne Orga­ne wei­ter­zu­ge­ben. Ich habe mich auch nicht so dar­an geklam­mert, dass ich ein Herz bekom­me. Ich hät­te kei­ne Mühe gehabt, zu gehen. Gehofft habe ich aber schon dar­auf, schon wegen mei­ner Kin­der und mei­nes Man­nes, die dann ohne mich zurück­ge­blie­ben wären.Eine der­ar­ti­ge Gelas­sen­heit ist ja schon speziell. Ich hat­te nie Angst und bis zu die­sem Zeit­punkt ein wun­der­ba­res Leben. Und ich bin nicht ein Mensch, der sich vie­le Sor­gen um sich sel­ber macht. Das ist eine Ein­stel­lung, die mir geschenkt wur­de. Ich weiss nicht war­um… ande­re machen sich viel mehr Sor­gen.Aber in Anbe­tracht des Todes doch etwas Beson­de­res. Haben Sie ein gutes Gottvertrauen? Ja, schon. Und ich habe auch nicht das Gefühl, dass nach dem Tod fer­tig ist. Ich kann ja nicht kon­kret sagen, was dann kommt, aber es wird dann wohl so sein, dass ich dann bei Gott bin. So jeden­falls stel­le ich es mir vor.Als Sie mit einem frem­den Her­zen auf­ge­wacht sind. Wie haben Sie das erlebt? Als ich erwach­te, spür­te ich das Herz schla­gen bis in den Kopf und dach­te, das ist viel­leicht doch nicht so gut, wenn das so ist. Berau­schend war aber, wie ich als­bald eine enor­me Kraft spür­te gegen­über vor­her… als ob sich mir wie­der die Welt auf­tat. Alles ging wie­der so leicht, so beschwingt… Manch­mal war mir zum Heu­len vor Freu­de. Und ich war fas­zi­niert und unend­lich dank­bar, dass so etwas mög­lich ist.Man weiss, dass vie­le Trans­plan­tier­te unmit­tel­bar nach ihrer Ope­ra­ti­on in eine psy­chi­sche Kri­se stür­zen. Das haben Sie dem­nach nicht erlebt? Doch. Ich hat­te plötz­lich Wahn­vor­stel­lun­gen und war total gereizt. Ich hör­te Rock­mu­sik, die es nicht gab und muss­te mit­er­le­ben, wie Spi­tal­per­so­nal bei mir im Zim­mer eine Par­ty fei­er­te. Auch das habe ich mir nur ein­ge­bil­det. Schliess­lich habe ich nur noch her­um­ge­schimpft.Wie haben Sie das überwunden? Als mei­ne Kin­der mich wider die Regeln auf der Inten­siv­sta­ti­on besu­chen durf­ten, war der gan­ze «Spuk» wie auf Knopf­druck vor­bei und ich wie­der völ­lig «nor­mal».Hat­ten Sie nie die Idee, dass über ihr neu­es Herz etwas Frem­des sie ver­wirrt haben könn­te? Eine Art von Beses­sen­heit oder so etwas? Nein, nie. Ich glau­be auch nicht, dass die See­le im Herz wohnt oder so… Für mich ist das Herz ein Mus­kel, bestimmt nicht wich­ti­ger als ande­re Orga­ne.Wie haben Sie sich denn mit Ihrem neu­en Her­zen angefreundet? Ich hat­te nie irgend­wel­che Zwei­fel oder das Bedürf­nis, spe­zi­ell eine Bezie­hung zu die­sem Herz auf­zu­bau­en. Nicht so wie jene Lun­gen­kran­ke, die ich im Spi­tal ken­nen gelernt habe, als bei mir die Abklä­run­gen für eine Trans­plan­ta­ti­on gemacht wur­den. Eine ganz span­nen­de Frau, die mich qua­si «in den Spi­tal­be­trieb ein­ge­führt hat». Die hat mit ihrer neu­en Lun­ge gere­det. Da ist halt jeder ver­schie­den.Und Gefüh­le dar­über hin­aus? Dank­bar­keit, dass Sie qua­si dem Tod «ab dem Kar­ren» haben sprin­gen können? Ja, das schon. Immer wie­der, wenn ich etwas Schö­nes erle­be… Dann wird mir bewusst: Das ist nur mög­lich dank die­sem Her­zen. Und ich habe auch anonym der Fami­lie des Spen­ders geschrie­ben. Nach fünf Jah­ren habe ich das getan, ich habe extra gewar­tet… Und ich bekam sogar Ant­wort… auf Fran­zö­sisch. Man sei froh, dass das Geschenk Sinn mache, hiess es.Aber Sie haben nie mehr über den Spen­der oder die Spen­de­rin erfahren? Nein, auch wenn ich mich zu Beginn oft gefragt habe, von was für einem Men­schen ich wohl das Herz erhal­ten habe. Wenn ich damals durch die Stadt ging, habe ich mich immer wie­der gefragt, wenn mir jemand auf­fiel: War es wohl von so einem Men­schen? Oder eher von die­sem da? Es heisst, Spen­der­or­ga­ne haben eine begrenz­te Lebensdauer. Man hat mir gesagt, dass man 10, 15 Jah­ren mit einem Spen­der­herz leben kann. Mehr Erfah­rung hat­te man damals noch nicht. Heu­te ken­ne ich jeman­den, der bereits seit 30 Jah­ren herz­trans­plan­tiert ist – das ist doch eine Perspektive! Das heisst, Sie haben im Grun­de eine begrenz­te Lebenserwartung. Mein Leben ist rea­li­sti­scher­wei­se kür­zer als das von ande­ren, aber das macht mir kei­ne Angst. Gut, ich könn­te ja noch­mals ein neu­es Herz bekom­men, aber ich weiss nicht, ob ich das will. Viel­leicht ist’s auch gut, sich dann zu ver­ab­schie­den. Ande­rer­seits: Noch Enkel zu sehen, das wäre schon auch toll. Vie­le leben sorg­los in den Tag hin­ein, weil sie noch nicht mit ihrem Lebens­en­de kon­fron­tiert wer­den. Bei Ihnen ist das anders. Leben Sie dadurch bewusster? Ich lebe inso­fern bewusst, als dass ich mir bestimmt nicht über­le­ge, was ich denn alles mal nach der Pen­sio­nie­rung machen will. Wenn ich auf etwas Lust habe, dann schaue ich, dass ich das lie­ber frü­her als spä­ter rea­li­sie­ren kann. Und das Wich­tig­ste: Ich füh­le mich kom­plett gesund und mir geht es sehr gut. Inso­fern hat­te ich auch bei die­ser Herz­sa­che ein Rie­sen­glück. Wenn mich wie­der jemand anruft und fragt, ob ich denn nicht Lot­to spie­len will, ant­wor­te ich immer: «Nein, ich habe schon gewon­nen: Einen lie­ben Mann, zwei wun­der­ba­re Kin­der, ein neu­es Herz.»Andre­as C. Müller
Redaktion Lichtblick
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