Wer­te pre­di­gen und Stim­men fangen

Ein Drit­tel der Aar­gau­er Bevöl­ke­rung ist katho­lisch, mehr als ein Vier­tel ist refor­miert und über Reli­gi­on wird wie­der dis­ku­tiert. Gleich­wohl pro­fi­tie­ren die kon­fes­sio­nel­len Par­tei­en kaum davon und die Kir­chen schon gar nicht. Gegen­über Hori­zon­te gaben die vier Polit­frau­en Mari­an­ne Bin­der (CVP), Lili­an Stu­der (EVP), Fran­zis­ka Roth (SVP) und Yvonne Feri (SP) Auf­schluss über die Gründe.Frau Bin­der, war­um wäh­len nur so wenig Katho­li­ken CVP? Mari­an­ne Bin­der: Ich glau­be nicht, dass Katho­li­ken nicht CVP wäh­len. Aber Katho­li­ken wäh­len auch ande­re Par­tei­en. Das ist auch rich­tig so, denn wer das Gefühl hat, nur Katho­li­ken sol­len CVP wäh­len, hat die CVP nicht begrif­fen. Wir sind nicht die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ab­tei­lung des Vati­kans. «Christ­lich» heisst nicht ein­fach «katho­lisch».Aber war­um tut sich die CVP so schwer mit ihrem «C»? Ein Ein­ge­ständ­nis, dass sich kon­fes­sio­nel­le Par­tien über­lebt haben? Mari­an­ne Bin­der: Mag sein, dass man sich manch­mal in der Ver­gan­gen­heit nicht ganz klar war, was der Wert des «C» bedeu­tet. Doch momen­tan wird nicht mehr um das «C» gerun­gen. Ich habe im Janu­ar zu Beginn mei­ner Prä­si­dent­schaft der Aar­gau­er Kan­to­nal­par­tei klar gemacht, dass das «C» zu unse­rer Iden­ti­tät gehört. Das sieht auch die CVP Schweiz so mit ihrem neu­en Prä­si­den­ten. Wir fül­len das «C» mit Inhalt.Und wie soll das gesche­hen? Mari­an­ne Bin­der: Christ­li­che Wer­te haben unse­ren Rechts­staat geprägt, die sozia­le Markt­wirt­schaft ist eine christ­de­mo­kra­ti­sche Erfin­dung. Als «C‑Partei» sind wir DAS Kom­pe­tenz­zen­trum in Fra­gen des guten Zusam­men­le­bens.Das klingt jetzt doch sehr all­ge­mein. Mari­an­ne Bin­der: Das «C» gehört zu unse­ren gesell­schaft­li­chen, kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Wur­zeln. Und die­se sind gefähr­det durch Strö­mun­gen, wel­che sich unse­re Wer­te zunut­ze machen, um sie abzu­schaf­fen. Ent­spre­chend haben wir bei­spiels­wei­se mit einer Moti­on auf die undurch­sich­ti­ge Finan­zie­rung von Moscheen und isla­mi­schen Ver­ei­nen reagiert. Wenn ich sehe, wie gewis­se Islam­ver­ste­her momen­tan vor die­sen into­le­ran­ten Strö­mun­gen einer ande­ren Reli­gi­on flach auf dem Boden lie­gen, das Chri­sten­tum aber als etwas bei­na­he Pein­li­ches abtun, dann grei­fe ich mir an den Kopf. Ich bin sicher, mit der Beto­nung der christ­li­chen Wer­te sind wir poli­tisch auf dem rich­ti­gen Weg.In sol­chen Aus­sa­gen erken­ne ich auch die SVP wie­der, bei der hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand so man­ches Par­tei­mit­glied behaup­tet, die Par­tei ver­tre­te Katho­li­ken mitt­ler­wei­le bes­ser als die CVP. Fran­zis­ka Roth: Inwie­weit die Reli­gi­on bei der Mei­nungs­fin­dung eine Rol­le spielt, kann ich nicht beur­tei­len. Es ist jedem frei­ge­stellt, die poli­ti­sche Rich­tung zu wäh­len, die ihm ent­spricht. Ich per­sön­lich ste­he ein für christ­li­che Grund­wer­te, befür­wor­te jedoch eine Tren­nung von Kir­che und Staat. Reli­gi­on ist Pri­vat­sa­che.Was haben denn Katho­li­ken davon, wenn sie SVP wäh­len? Sie sagen, Frau Roth, sie stün­den für christ­li­che Wer­te ein. Inso­fern müss­ten sie aber eigent­lich auch die Stel­lung der christ­li­chen Kir­chen und deren Arbeit, bei­spiels­wei­se Reli­gi­ons­un­ter­richt und dia­ko­ni­sches Enga­ge­ment, unter­stüt­zen. Fran­zis­ka Roth: Per­sön­lich habe ich nichts gegen eine reli­giö­se Sozia­li­sie­rung. Ich weh­re mich aber dage­gen, dass man über die Reli­gi­on poli­ti­sche Inhal­te trans­por­tiert. Ich stel­le bei­spiels­wei­se fest, dass im Asyl­we­sen durch die römisch-katho­li­sche und die pro­te­stan­ti­sche Lan­des­kir­che vor­nehm­lich lin­ke Posi­tio­nen ver­tre­ten wer­den.Ja, das stimmt. Inso­fern, Frau Feri, müss­te doch die Lin­ke ein Inter­es­se dar­an haben, die Stel­lung der christ­li­chen Kir­chen in unse­rer Gesell­schaft zu ver­tei­di­gen. Yvonne Feri: Wie unser Par­tei­na­me bereits sagt, sind wir sozi­al­de­mo­kra­tisch und nicht christ­lich aus­ge­rich­tet. Wir ste­hen für unse­re Wer­te unab­hän­gig von einer bestimm­ten Reli­gi­on. Wir schät­zen aber sehr, dass die Kir­chen unter ande­rem im sozia­len und Asyl­be­reich Auf­ga­ben wahr­neh­men, die der Staat nicht wahr­neh­men kann.Und per­sön­lich, Frau Feri? Wie haben Sie’s mit der Reli­gi­on? Yvonne Feri: Nach wie vor bin ich Mit­glied der refor­mier­ten Kir­che und ich habe auch mei­ne Töch­ter in die­sem Glau­ben erzo­gen. In unse­rem Fami­li­en­all­tag war das inso­fern spür­bar, dass wir jeden Abend zusam­men ein Gute­nacht­ge­bet spra­chen. Spä­ter haben mei­ne Töch­ter den Reli­gi­ons­un­ter­richt besucht und wur­den auch kon­fir­miert.Aber Sie haben doch eben noch gesagt, Sie sei­en sozi­al­de­mo­kra­tisch und nicht christ­lich aus­ge­rich­tet. Yvonne Feri: In mei­ner poli­ti­schen Arbeit spie­len für mich die Men­schen­rech­te, die huma­ni­tä­re Aus­rich­tung und die Gleich­stel­lung der Geschlech­ter eine zen­tra­le Rol­le. Die­se Wer­te lebe ich unab­hän­gig von mei­ner Reli­gi­on.Frau Stu­der, als Frak­ti­ons­prä­si­den­tin der EVP bie­ten sie im Grun­de allen Refor­mier­ten eine Par­tei, die deren kon­fes­sio­nel­le Wert­hal­tung poli­tisch ver­tritt. War­um funk­tio­niert das nicht? Mehr als ein Vier­tel der Aar­gau­er Bevöl­ke­rung ist refor­miert, aber die EVP hat es nie über den Rang einer Kleinst­par­tei hin­aus geschafft? Lili­an Stu­der: Die Refor­mier­ten haben immer unter­schied­lich gewählt. Uns gibt es seit 1919. Wir sind zwar kei­ne Gross­par­tei gewor­den, doch seit jeher bestän­dig und mit Ein­fluss dabei. Somit ver­lie­ren wir nicht zwin­gend an Bedeu­tung. Schwie­rig ist es aber, noch mehr Rele­vanz zu bekom­men.War­um ist das so? Lili­an Stu­der: Auf­grund der Art und Wei­se, wie wir poli­ti­sie­ren, sind wir nicht pola­ri­sie­rend. Weil wir medi­al nicht sehr attrak­tiv daher­kom­men, lässt man uns in den Medi­en auch wenig zu Wort kom­men. Hin­zu kommt, dass wir gera­de bei ethi­schen The­men wie der Fort­pflan­zungs­me­di­zin oder der Ster­be­hil­fe, immer wie­der gegen den Strom schwim­men.Aktu­ell dis­ku­tie­ren ja nicht nur CVP und SVP, son­dern auch die SP über christ­li­che Wer­te. Könn­te dar­aus nicht auch die EVP Ende Okto­ber im Aar­gau Kapi­tal schla­gen? Lili­an Stu­der: Die Rück­be­sin­nung auf unse­re Wer­te kann einen posi­ti­ven Effekt haben. Wir hof­fen, dass Chri­sten bewusst wird, dass eine Poli­tik auf tra­gen­den Wer­ten in die­ser pola­ri­sier­ten Zeit wich­tig ist.Und wie sehen Sie die Chan­cen für die CVP, Frau Bin­der? Mari­an­ne Bin­der: Ich hof­fe selbst­ver­ständ­lich auf einen Erfolg. Ger­ne schon im Herbst, dafür gebe ich alles zusam­men mit der Par­tei­lei­tung und dem Wahl­team. Wir hat­ten noch nie so vie­le Kan­di­die­ren­de, die Moti­va­ti­on aus allen Bezir­ken ist da. Wir kön­nen für uns bean­spru­chen, dass wir Klar­text reden, gera­de auch, was das «C» betrifft. Into­le­ran­te Strö­mun­gen ver­die­nen kei­ne Tole­ranz. Medi­al sind wir prä­sent. Ich erlau­be mir aber auch, nüch­tern zu blei­ben. Wir haben gros­se Wahl­ver­lu­ste erlit­ten und die Auf­bau­ar­beit ist hart.Wie wir soeben erfah­ren haben, kön­nen die christ­li­chen Kir­chen kei­ne gros­se Unter­stüt­zung von Sei­ten der SP und SVP erwar­ten. Aber wie steht es mit der CVP? Was tut Ihre Par­tei, damit die christ­li­chen Kir­chen nicht aus dem öffent­li­chen Leben gedrängt wer­den? Mari­an­ne Bin­der: Für den Reli­gi­ons­un­ter­richt und damit ver­bun­den für den Bibel­un­ter­richt habe ich mich immer stark gemacht, auch als ehe­ma­li­ge Leh­re­rin. Ich sehe nicht ein, wes­halb das Chri­sten­tum, wel­ches unse­rem Rechts­staat zugrun­de liegt und unse­re Kul­tur geprägt hat, nicht gelehrt wer­den soll. 

 Hin­ter­grund: Wah­len im Aar­gau 2016

Der Kan­ton Aar­gau wählt am 23. Okto­ber 2016 sei­ne fünf­köp­fi­ge Regie­rung und die 140 Mit­glie­der des Gros­sen Rats für die Legis­la­tur 2017 bis 2020.Der Regie­rungs­rat setzt sich aktu­ell aus je einem Ver­tre­ter von CVP, Grü­nen, FDP, SP und SVP zusam­men. Die Ver­tre­te­rin der Grü­nen, Susan­ne Hoch­u­li, aber auch CVP-Regie­rungs­rat Roland Brog­li, tre­ten nicht mehr an. Aus­sichts­rei­che Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten für die Wahl im Okto­ber sind: Ste­phan Atti­ger (FDP, bis­her), Urs Hoff­mann (SP, bis­her), Alex Hür­ze­l­er (SVP, bis­her), Mar­kus Dieth (CVP), Yvonne Feri (SP) und Fran­zis­ka Roth (SVP).Der Gros­se Rat umfasst 140 Sit­ze. Die­se sind wie folgt auf die Par­tei­en auf­ge­teilt: SVP (45 Sit­ze), FDP (22), SP (21), CVP (18), Grü­ne (10), GLP (9), BDP (6), EVP (6), EDU (2) und Par­tei­los (1).Zu den Par­tei­en mit kon­fes­sio­nel­len Wur­zeln gehö­ren die CVP und die EVP. Gemäss dem Aar­gau­er Histo­ri­ker Linus Hüs­ser hat­te die CVP einst­mals in den länd­li­chen katho­li­schen Gebie­ten eine gros­se Anhän­ger­schaft. Noch an den Gross­rats­wah­len von 1989 erreich­te die CVP mehr als 20 Pro­zent Par­tei­stim­men. Mit fast 25 Pro­zent der Stim­men wur­de die Par­tei 1981 sogar stärk­ste Par­tei. 1993 ver­ei­nig­te die CVP Aar­gau 17.1 Pro­zent, bei den Gross­rats­wah­len 2012 nur noch 13.3 Pro­zent der Par­tei­stim­men. Der Ein­bruch dürf­te meh­re­re Grün­de haben. Das ein­sti­ge  katho­li­schen Milieu, dem der gröss­te Teil der CVP-Wäh­ler ent­stamm­te, war zer­fal­len, die Kir­chen­bin­dung locker­te sich, wes­halb auch kon­ser­va­tiv gesinn­te Katho­li­ken nicht mehr unbe­dingt CVP wähl­ten. Vie­le kon­ser­va­ti­ve Katho­li­ken in den länd­li­chen Gebie­ten fühl­ten sich durch die CVP in man­chen Berei­chen nicht mehr ver­tre­ten. Her­vor­zu­he­ben ist die von der CVP begrüss­te aus­sen­po­li­ti­sche Öff­nung, (Stich­wort EWR-Abstim­mung 1992). Kon­ser­va­tiv Den­ken­de aus ver­schie­de­nen Par­tei­en schwenk­ten zur SVP über, die von 1986 (15.6 Pro­zent der Stim­men) bis 2012 (32 Pro­zent) ihren Stim­men­an­teil ver­dop­peln konn­te. Zudem wur­de die Kon­kur­renz für die CVP durch das Auf­tre­ten neu­er Par­tei­en grös­ser (Grü­ne, Auto­par­tei, Mit­te­par­tei­en wie BDP und GLP). 
Andreas C. Müller
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