Wenn es Zeit ist, öff­net sich die Tür

Wenn es Zeit ist, öff­net sich die Tür

Mat­thä­us 9,9–3Als Jesus wei­ter­ging, sah er einen Mann namens Mat­thä­us am Zoll sit­zen und sag­te zu ihm: Fol­ge mir nach! Und Mat­thä­us stand auf und folg­te ihm nach. Und als Jesus in sei­nem Haus bei Tisch war, sie­he, vie­le Zöll­ner und Sün­der kamen und assen zusam­men mit ihm und sei­nen Jün­gern. Als die Pha­ri­sä­er das sahen, sag­ten sie zu sei­nen Jün­gern: Wie kann euer Mei­ster zusam­men mit Zöll­nern und Sün­dern essen? Er hör­te es und sag­te: Nicht die Gesun­den bedür­fen des Arz­tes, son­dern die Kran­ken. Geht und lernt, was es heisst: Barm­her­zig­keit will ich, nicht Opfer! Denn ich bin nicht gekom­men, Gerech­te zu rufen, son­dern Sünder. Ein­heits­über­set­zung 2016 

Wenn es Zeit ist, öff­net sich die Tür

Eine Frau ist vor ein paar Mona­ten Wit­we gewor­den. Im Gespräch berich­tet sie mir von der gros­sen Unru­he, die sie stän­dig beglei­tet. Natür­lich weiss sie, dass die­ses Immer-wach­sam-sein-Müs­sen eine Form der Trau­er ist. Sie horcht, wenn es still wird um sie, dar­auf, ob sie ihren Mann atmen hört, ver­geb­lich natür­lich. Aber sie kann ihre Wache nicht auf­ge­ben.Was kann Frau X. mit ihrer Unrast anfan­gen? Den Gedan­ken, sich beru­hi­gen­de Mit­tel vom Arzt ver­schrei­ben zu las­sen, hat sie wie­der auf­ge­ge­ben. Sie will ver­ste­hen und bewäl­ti­gen, nicht weg­drücken. Hin­ge­gen rich­tet sie ihre Auf­merk­sam­keit nun ganz bewusst in die Zukunft. «Ich muss etwas anfan­gen mit mei­ner neu­en Situa­ti­on. Ich brau­che wie­der ein neu­es Zen­trum, sonst kann ich mei­nen Mann nicht los­las­sen.»Wenn es nur so ein­fach wäre: Sie über­legt, ob sie sich nun für ande­re enga­gie­ren soll. Aber wo und wie? Sie spürt deut­lich, dass sie allein mit dem Kopf ihr Pro­blem nicht lösen kann. Sie beschliesst, ihre Situa­ti­on erst ein­mal aus­zu­hal­ten, abzu­war­ten, wie sich ihre Trau­er wei­ter­ent­wickelt. Frau X. lernt, dem Leben zu ver­trau­en und auf ihre eige­ne inne­re Ant­wort zu hören. «Wenn es Zeit ist, dann wird eine Tür auf­ge­hen. Das weiss ich. Dann wer­de ich hin­durch­ge­hen und den neu­en Weg anneh­men.»Mir ist Frau X. in den Sinn gekom­men, als ich mich mit der Geschich­te des Mat­thä­us beschäf­tigt habe. Der sitzt an sei­ner Zoll­stel­le und war­tet dar­auf, ange­spro­chen zu wer­den. Jesus wird ihn sehen, sei­ne Bereit­schaft erken­nen und ihn rufen. Und so geschieht es. Dass Jesus ein Men­schen­ken­ner ist, ist hin­läng­lich bekannt. Mich inter­es­siert eine ande­re Fra­ge: Wel­chen Weg hat der Zöll­ner Mat­thä­us zurück­le­gen müs­sen, bis er an die­sen Punkt sei­ner Geschich­te gelangt ist? Ich ver­mu­te, er hat eine lan­ge, unru­hi­ge Suche hin­ter sich. Jesus reisst nie­man­den aus sei­ner Zufrie­den­heit her­aus. Ein Rei­fe­pro­zess ist an den Punkt der Ent­schei­dung gelangt. Hier öff­net sich die Tür, sei­ne Tür. Jesus nimmt die Angst die­ses Man­nes wahr und ermu­tigt ihn, durch die­se Tür zu gehen.Geduld ist ganz sicher nicht das Kenn­zei­chen unse­rer Gesell­schaft. Man muss sich stän­dig ent­schei­den, jetzt sofort, um nicht Chan­cen zu ver­pas­sen. Den Luxus, sich Zeit zu neh­men, um eine Ent­schei­dung rei­fen zu las­sen, gön­nen sich nur weni­ge. Unsi­cher­heit aus­zu­hal­ten ist nicht unse­re Stär­ke. Dafür stür­zen wir uns lie­ber von einer Bezie­hung in die ande­re, von einer Aus­bil­dung in die näch­ste Fort­bil­dung, pro­bie­ren hier und da – und wer­den den­noch nicht ruhig dabei. Das ist, wie wenn wir unrei­fe Früch­te von den Bäu­men reis­sen wür­den, um dann fest­zu­stel­len, dass sie sau­er sind.Frau X. hat erkannt, dass sie aus ihrer Unru­he nicht davon­lau­fen kann. Sie beschliesst, sich Zeit zu las­sen, auch wenn sie dabei den Schmerz hef­ti­ger spürt. Dabei öff­net sie sich im Gespräch mit ver­trau­ens­wür­di­gen Men­schen, teilt sich mit und gibt ande­ren eine Chan­ce, sie zu unter­stüt­zen.Lud­wig Hes­se, Theo­lo­ge, Autor und Teil­zeit­schrei­ner, war bis zu sei­ner Pen­sio­nie­rung Spi­tal­seel­sor­ger im Kan­ton Baselland 
Redaktion Lichtblick
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