Wenn der Pfar­rer in die Beiz kommt

Mar­tin Tan­ner ist seit mehr als einem hal­ben Jahr Gast­ge­wer­be­seel­sor­ger der Römisch-Katho­li­schen Lan­des­kir­che Aar­gau. Für ihn ein fas­zi­nie­ren­des Arbeits­feld ganz nahe am Leben. 

Der Gast­hof Schüt­zen im Aar­au­er Schach­en ist gut besucht. Unter den Gästen sitzt auch Mar­tin Tan­ner. Zufrie­den schaut er in die Run­de. Nichts ist mehr zu sehen von den Schä­den, die ein Kabel­brand im Ver­tei­ler­ka­sten in die­sem belieb­ten Restau­rant vor eini­gen Mona­ten hin­ter­las­sen hat. Böden, Wän­de, Tische – alles muss­te behan­delt und teil­wei­se ersetzt wer­den. Auch der beis­sen­de Gestank ist ver­schwun­den. Tan­ner, Gemein­de­lei­ter der Bru­der-Klaus-Pfar­rei in Unter­kulm, ist seit Janu­ar die­ses Jah­res neu auch Bei­zen-Pfar­rer für Wirts­leu­te und deren Ange­stell­te. Nach dem Brand im «Schüt­zen», der ein tie­fes Loch in der Kas­se hin­ter­liess, teil­te mit den Wirts­leu­ten deren Kummer.

Bei­zen-Pfar­rer wird gebraucht
Seit Beginn sei­ner Tätig­keit hat Mar­tin Tan­ner im Aar­gau bereits über vier­zig Restau­rants besucht und etli­che Gesprä­che zwi­schen Tre­sen und Stamm­tisch geführt. Manch einer staun­te über die Exi­stenz eines Bei­zen-Pfar­rers. «Ich stiess beim Per­so­nal eigent­lich nur auf posi­ti­ve Reso­nanz», so der Seel­sor­ger, der betont zurück­hal­tend agiert. Sei­ne Dien­ste, das rea­li­siert er jeden Tag neu, wer­den gebraucht. Er trifft Köche und Ser­vice-Per­so­nal, dar­un­ter vie­le aus dem EU-Aus­land, die zu Unzei­ten arbei­ten müs­sen. Er spricht mit Restau­rant­be­sit­zern, die meist Tag und Nacht im Ein­satz sind, was sich nicht nur auf die Gesund­heit, son­dern auch auf Bezie­hun­gen bela­stend aus­wir­ken kann. Wenn der Fami­li­en­va­ter nun im «Schüt­zen» am Tisch sitzt, dann darf auch mal der Wirt bei ihm sei­ne Sor­gen abladen.

Aus­druck von Kir­che, die zu den Leu­ten geht
See­li­sche Unter­stüt­zung brauch­te unlängst eine Ange­stell­te in einem Aar­gau­er Hotel. Ein Gast hat­te sich das Leben genom­men. Durch den Sui­zid psy­chisch trau­ma­ti­siert, wuss­te der Hote­lier nicht wei­ter. Als er Mar­tin Tan­ner anrief, kam die­ser sofort. Der Bei­zen-Pfar­rer fand die rich­ti­gen Wor­te und Hand­lun­gen bei der Beglei­tung der Betrof­fe­nen. «Heu­te kann die Ange­stell­te ihre Arbeit wie­der aus­füh­ren und hat auch ihre Fröh­lich­keit wie­der gefun­den», so Mar­tin Tan­ner. Die psy­cho-sozia­le Betreu­ung von Wirts­leu­ten und deren Per­so­nal ist nur ein Teil der Arbeit. Auch für Ein­seg­nun­gen von neu­en Restau­rants wur­de Mar­tin Tan­ner bereits ange­fragt. Jeweils am Diens­tag in der Kar­wo­che fei­ert er zudem in Muri zusam­men mit sei­nem refor­mier­ten Kol­le­gen Andre­as Pau­li einen öku­me­ni­schen Got­tes­dienst für die Mit­glie­der des Aar­gaui­schen Wir­te­ver­ban­des. In Pla­nung ist wei­ter ein Pfar­rer-Stamm­tisch. Im Novem­ber wird die Gast­ge­wer­be-Seel­sor­ge zudem mit einem Stand an der in Basel statt­fin­den­den Fach­mes­se für Hotel­le­rie, Gastro­no­mie und Aus­ser-Haus-Kon­sum (Ige­ho) ver­tre­ten sein. Eine Kir­che, die zu den Men­schen geht – in die­sem Sin­ne ver­steht Mar­tin Tan­ner sein Amt als Gast­ge­wer­be-Seel­sor­ger. Im Bereich der Gastro-Seel­sor­ge sieht er eine gros­se Chan­ce für die Kir­che: «Wir kön­nen in die­ser Arbeit Men­schen mit Glau­ben und Kir­che ver­net­zen, die teil­wei­se schon kei­nen Bezug mehr dazu haben.»

Die Bibel neu ent­deckt
In Tan­ners Woh­nung lie­gen Gastro-Zeit­schrif­ten wie «Salz und Pfef­fer», «La Tavo­la» oder «Hotel & Gastro­no­mie» auf dem Tisch. Für sei­ne Arbeit als Bei­zen-Pfar­rer wird er jedoch beson­ders in der Bibel fün­dig. «Seit ich mit dem Gast­ge­wer­be zu tun habe, lese ich die Bibel mit ande­ren Augen. Ich ent­decke dar­in vie­le gute Impul­se für mei­ne Arbeit», sagt er. Allein über Gast­freund­schaft erzählt die Bibel viel. Etwa die Geschich­te von Zachä­us, bei dem Jesus ein­kehrt (Lk 19, 1–10); oder das Zitat «Seid gast­frei unter­ein­an­der ohne Mur­ren» (1. Petr. 4,9). «Jesus hat uns vor­ge­lebt, wie wich­tig Gast­freund­schaft ist, und dass Geist und Kör­per an Orten der Lebens­freu­de genährt wer­den wollen.»

Gott wohnt auch in Gast­häu­sern
Das seel­sor­ge­ri­sches Enga­ge­ment für Men­schen im Gast­ge­wer­be grün­det auf einer alten Tra­di­ti­on: Bereits im 19. Jahr­hun­dert gab es Wir­te-Pfar­rer, die sich um die Anlie­gen der Wirts­leu­te und des aus dem Aus­land zuge­wan­der­ten Restau­rant­per­so­nals küm­mer­ten. Auf der katho­li­schen Sei­te war es auch die Sor­ge um die Sonn­tags­pflicht der Men­schen im Gast­ge­wer­be, da in frü­he­ren Zei­ten noch mehr Wirt­schaf­ten am Sonn­tag offen hat­ten. Gast­häu­ser haben Mar­tin Tan­ner schon immer fas­zi­niert. «Unter­schied­lich­ste Men­schen begeg­nen sich in der Wirts­stu­be. Dabei kön­nen Begeg­nun­gen mit nach­hal­ti­ger Wir­kung ent­ste­hen. Nicht zuletzt sind Gast­häu­ser für vie­le eine Art Hei­mat», sagt Mar­tin Tan­ner. Er, der zu Wir­te-Stamm­ti­schen ein­ge­la­den wird, beob­ach­tet: «Je spä­ter der Abend, umso tief­grün­di­ger kön­nen die Fra­gen sein; auch die nach Gott.»

Lern­ort für die Kir­chen
Gast­häu­ser, resü­miert Mar­tin Tan­ner, sei­en in Vie­lem ein Lern-Ort für die Kir­che. Gera­de, was Atmo­sphä­re erzeu­gen­der Umgang mit Men­schen und Ritua­le angeht. Wie leben­di­ge Gemein­den leben gute Bei­zen von ihrem ein­la­den­den Umgang mit den Gästen, weil die­se sich da hei­misch und zuge­hö­rig füh­len. Natür­lich fas­zi­nie­ren ihn auch die Wir­tin­nen und Wir­te der Gast­häu­ser selbst. Meist Men­schen mit dem Herz am rich­ti­gen Fleck. Der Wir­te-Beruf und der­je­ni­ge des Seel­sor­gers wei­sen für Mar­tin Tan­ner nicht sel­ten etli­che Par­al­le­len auf: «Die Wir­tin­nen und Wir­te sind oft Beicht­müt­ter und Beicht­vä­ter, qua­si see­li­sche Anker­plät­ze für Gäste, denen ein Zuhö­rer zu Hau­se oder am Arbeits­platz fehlt.» Wie gefrag­te Seel­sor­ger in einer Kir­che hät­ten auch fein­füh­li­ge Gast­wir­te und Ser­vice­an­ge­stell­te ein aus­ge­präg­tes Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl ihren Gästen gegen­über und ein offe­nes Ohr für die Men­schen. «Die Gäste erhal­ten bei sol­chen Wir­ten nicht nur etwas für das leib­li­che Wohl, son­dern auch Nah­rung für die See­le.»
Vera Rüt­ti­mann, kipa

 

Die Beiz als Hei­mat, der Wirt als eine Art Ersatz­seel­sor­ger. Was könn­ten die Kir­chen von guten Wirts­leu­ten ler­nen? Schrei­ben Sie uns Ihre Meinung.

Redaktion Lichtblick
mehr zum Autor
nach
soben