Welt­mei­ster in sozia­ler Ungleichheit

Unge­lö­ste Boden­fra­ge, ein inef­fi­zi­en­tes Bil­dungs­sy­stem, Armut und Kin­der­ar­beit — Mit der bevor­ste­hen­den Fuss­ball­welt­mei­ster­schaft möch­te Bra­si­li­en sein Bild in der Welt als auf­stre­ben­de Wirt­schafts­macht stär­ken. Ein genaue­rer Blick auf das Land zeigt aber, dass die­ses Bild nur ein Teil der Rea­li­tät ist. Die sozia­len Ungleich­hei­ten im Land sind gravierend. 

Wenn Bra­si­li­en als Schwel­len­land bezeich­net wird, basiert die­se Ein­ord­nung auf lan­des­wei­ten Durch­schnitts­wer­ten volks­wirt­schaft­li­cher Daten. Dabei gehen aller­dings die enor­men regio­na­len Unter­schie­de inner­halb des Lan­des ver­ges­sen. Wäh­rend gewis­se Regio­nen im Süd­osten und Süden Bra­si­li­ens durch­aus eine gute Posi­ti­on in einem euro­päi­schen Ent­wick­lungs­ran­king ein­neh­men könn­ten, wei­sen gros­se Gebie­te im Nor­den und Nord­osten trotz aller Regio­nal­pla­nung immer noch typi­sche Merk­ma­le von Armuts­ge­bie­ten in Ent­wick­lungs­län­dern auf. So gese­hen kaschiert der Begriff «Schwel­len­land» die eigent­li­che Rea­li­tät Brasiliens.

Boo­men­der Agrar­be­reich, aber kei­ne Land­re­form in Sicht
Das Wirt­schafts­wachs­tum hat in den letz­ten Jah­ren zur Sta­bi­li­sie­rung der finan­zi­el­len Situa­ti­on des Lan­des bei­getra­gen. Unter Berück­sich­ti­gung der sozia­len Ungleich­heit fällt die Beur­tei­lung jedoch weni­ger gün­stig aus. Der Boom im Agrar­be­reich, der das Wachs­tum antreibt, kann die Situa­ti­on der Armen nur dann ver­bes­sern, wenn sich die Rah­men­be­din­gun­gen ändern. Der­zeit sind gros­se Agrar­flä­chen in den Hän­den eini­ger weni­ger Gross­grund­be­sit­zer, was zu einer wei­te­ren Ver­schär­fung der Ein­kom­mens­un­ter­schie­de führt. Doch auf­grund der star­ken Lob­by und aus Angst vor sin­ken­den Agrar­ex­por­ten setzt die Regie­rung kei­ne nach­hal­ti­gen Land­re­for­men durch. Die Indu­strie konn­te unter­des­sen nicht genü­gend Arbeits­plät­ze schaf­fen, die für den Abbau der hohen Arbeits­lo­sig­keit not­wen­dig wäre. Und die Fer­ti­gungs­be­trie­be ste­hen unter einem ver­schärf­ten Kon­kur­renz­druck aus Asi­en, vor allem aus China.

Inef­fi­zi­en­tes Bil­dungs­sy­stem behin­dert Wirt­schafts­wachs­tum
Bra­si­li­en ist im inter­na­tio­na­len Ver­gleich kein Wirt­schafts­stand­ort mit aus­ge­präg­ten kom­pa­ra­ti­ven Vor­tei­len und nimmt in Rang­li­sten der inter­na­tio­na­len Wett­be­werbs­fä­hig­keit nur hin­te­re Plät­ze ein, Ten­denz sin­kend. Wie Daten des World Eco­no­mic Forums zei­gen, liegt Bra­si­li­en nahe­zu gleich­auf mit Kasach­stan und Rumä­ni­en. Vor allem das schwa­che Bil­dungs­sy­stem behin­dert die inter­na­tio­na­le Wett­be­werbs­fä­hig­keit des Lan­des. Laut PISA-Stu­die 2012 liegt Bra­si­li­en im Bil­dungs­be­reich weit unter dem OECD-Durch­schnitt. Trotz beacht­li­cher Erfol­ge in den letz­ten Jah­ren besuch­ten 2011 rund 600 000 Kin­der kei­ne Schu­le, und die Hälf­te aller Schü­le­rin­nen und Schü­ler erreich­te nicht den auf dem Lehr­plan vor­ge­se­he­nen Lei­stungs­stand. Nur 28 Pro­zent der Kin­der schaff­ten den Abschluss der acht­jäh­ri­gen Grund­schu­le im vor­ge­se­hen Alter, 32 Pro­zent bra­chen die Grund­schu­le vor­zei­tig ab. Bra­si­li­en ist ein Bei­spiel dafür, wie stark ein inef­fi­zi­en­tes Bil­dungs­sy­stem den Wachs­tums­pro­zess eines Lan­des behin­dert und einen Gross­teil der Bevöl­ke­rung vom Wirt­schafts­wachs­tum aus­schliesst. Nur etwa ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung nimmt am Wirt­schafts­kreis­lauf teil, der gröss­te Teil ist in der Schat­ten­wirt­schaft tätig, lebt am Ran­de des Exi­stenz­mi­ni­mums oder in extre­mer Armut. Nach wie vor sind rund 13 Mil­lio­nen Men­schen sehr arm und ver­fü­gen über weni­ger als einen Dol­lar pro Tag. Die Armuts­ra­te bei Kin­dern bis 11 Jah­ren liegt gemäss Anga­ben des Uno-Kin­der­hilfs­werks Unicef bei 48 Pro­zent, bei Jugend­li­chen zwi­schen 12 und 17 Jah­ren bei 38 Prozent.

Der Nord­osten — das Armen­haus Bra­si­li­ens
Die struk­tu­rel­len Pro­ble­me Bra­si­li­ens sind im Nor­den und Nord­osten beson­ders sicht­bar. Der Anteil der Men­schen, die in abso­lu­ter Armut leben, ist fast dop­pelt so hoch wie im übri­gen Land. Eine rück­stän­di­ge Land­wirt­schaft, die unglei­che Ver­tei­lung des Ein­kom­mens und ein wenig dif­fe­ren­zier­ter Indu­strie­sek­tor sowie lan­ge Dür­re­pe­ri­oden und weni­ge Natur­res­sour­cen haben ihren Anteil dar­an. 61 Pro­zent der Gemein­den im Nord­osten sind laut UNDP (United Nati­ons Deve­lo­p­ment Pro­gram­me) unter­ent­wickelt. Wäh­rend der Human Deve­lo­p­ment Index (HDI) für das gesam­te Land im Jahr 2012 durch­schnitt­lich bei 0,727 gemes­sen wur­de, lag er für die Gemein­den des Nord­ostens zwi­schen 0,500 und 0,599 und ist somit ver­gleich­bar mit Län­dern wie Ango­la, Ban­gla­desch oder der Repu­blik Kon­go. Im Jahr 2011 waren 18,7 Pro­zent der Bewoh­ner der «Região Norde­ste» Analpha­be­ten und 22 Pro­zent erhiel­ten staat­li­che Unter­stüt­zung. 87 Pro­zent der Bevöl­ke­rung sind nicht ans Abwas­ser­sy­stem, 15 Pro­zent kei­ner Strom­ver­sor­gung ange­schlos­sen. 350 000 Kin­der und Jugend­li­che gehen nicht zur Schu­le und jedes sech­ste Kind arbei­tet. Die­se Fak­ten zei­gen deut­lich auf, wie gross die Ungleich­hei­ten in Bra­si­li­en sind, und dass ein Gross­teil der Bevöl­ke­rung von der wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung aus­ge­schlos­sen bleibt. Der UN-Koor­di­na­tor für Bra­si­li­en bezeich­net das Land daher auch als «Welt­mei­ster in sozia­ler Ungleichheit».

Esther Bol­li­ger, Cari­tas Schweiz

 

 

Ihre Mei­nung: Fin­den Sie es gut, dass die FIFA die Aus­tra­gung der Fuss­ball-Welt­mei­ster­schaft an Län­der wie Bra­si­li­en oder Katar (2022) ver­gibt, die mit sozia­len Pro­ble­men von sich reden machen?

Redaktion Lichtblick
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