Hertel lastet Pius XII. an, dass er gegenüber den Verbrechen der Nazis an den Juden weitgehend geschwiegen habe und die Schoah nicht ausdrücklich verdammte, obwohl er davon Kenntnis hatte. Ebenso sei der Papst untätig geblieben, als im Jahr 1943 mehr als 1000 Juden aus Rom in die Vernichtungslager deportiert wurden – obwohl er auch Kirchen und Klöster anwies, Verfolgten Asyl zu geben. Dass viele Juden im Schutz der Kirche gerettet wurden, hielt Hertel eher den beteiligten kirchlichen Institutionen als dem Papst zugute.Warum schwieg Pius XII.? Für Peter Hertel liegt die erste Antwort darin, dass Pacelli mit den seit Jahrhunderten verfestigten Vorurteilen des Antijudaismus aufwuchs und in der theologischen Tradition des christlichen Antisemitismus stand.Den zweiten Schlüssel sieht Hertel in der Kirchenpolitik: Als im April 1933 Edith Stein an den Papst schrieb, verhandelte Kardinalstaatssekretär Pacelli mit der Naziregierung über das Reichskonkordat, von dem er sich Freiräume für die katholische Kirche in Deutschland erhoffte. Ein kirchliches Eintreten gegen die Verbrechen der deutschen Machthaber an den Juden hätte das Konkordat gefährden können, das dann im Juli 1933 unterzeichnet wurde. «Da stand das Wohl der eigenen Kirchenmitglieder höher als die Menschenrechte», bilanzierte Hertel.
Der alte kirchliche Antisemitismus
Über die Kontroverse um die Rolle von Papst Pius XII. hinaus bleibt es für die Kirche von zentraler Bedeutung, sich ihrer Tradition der Judenfeindschaft zu stellen. Dazu zeichnete Peter Hertel in seinem Vortrag eine Linie von der Theologie der Antike bis zum Holocaust.Als das Christentum im römischen Reich zur führenden Religion aufstieg, sah es sich als das «wahre Israel», während das Judentum verworfen sei. Die Juden, so hiess es beim Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos im Jahr 386, seien Christusmörder, für die es keine Verzeihung gebe. Als 388 ein christlicher Mob die Synagoge in Callinicum in Syrien niederbrannte, erwirkte der Kirchenlehrer Ambrosius bei Kaiser Theodosius den Verzicht auf die Bestrafung der Brandstifter und auf den Wiederaufbau der Synagoge.Dieser Konflikt sei zum Modell für den Umgang von Staat und Kirche mit den Juden geworden, sagte Hertel. Im Mittelalter duldeten oder förderten Päpste die «Judenmission» und Zwangstaufen von Juden, deren Ausschluss von Ämtern, ihre Kennzeichnung durch besondere Kleidungsstücke oder ihre Einsperrung in Ghettos. Auch der Reformator Martin Luther forderte 1543 Zwangsarbeit für Juden und das Niederbrennen ihrer Synagogen.
Kirche prägte Verhaltensmuster im Volk
Laut Hertel führten die antijüdischen Einstellungen in Politik und Theologie zu Verhaltensmustern im Volk: «Schliesslich wurde der christliche Antisemitismus selbstverständliches Allgemeingut der Bevölkerung. Er drang in die Volksfrömmigkeit ein und nahm dämonische Züge an. Den angeblich gottlosen Juden traute man alles zu, selbst dass sie mit dem Teufel im Bunde seien.»Als im 19. Jahrhundert die gesellschaftliche Bedeutung der Religion abnahm und eine Entwicklung zur rechtlichen Gleichstellung der Juden einsetzte, verschob sich in Deutschland die Judenfeindschaft von der Religion auf die sogenannte «Rasse»: «Was solls, wenn ihr euch taufen lasst. Ihr seid und bleibt Juden.» Die aufkommende Rassenideologie baute auf der alten christlichen Judenfeindschaft auf.«Die Nazis nutzten ganz konkret die Vorurteile, um die Bevölkerung auf ihre sogenannte Endlösung der Judenfrage einzustimmen», legte Hertel dar. Elemente und Symbole des christlichen Antisemitismus wurden von den Nazis übernommen, wie angebliche Ritualmorde der Juden oder ihre Ausgrenzung durch sichtbare Zeichen an den Kleidern. Hertels Fazit: «Ohne den christlichen Antisemitismus und seine Jahrhunderte alten, in der Gesellschaft verfestigten Vorurteile hätte es den Holocaust wohl nicht gegeben.»Mit dem II. Vatikanischen Konzil hat die Kirche ein neues Verhältnis zum Judentum gewonnen. Mit Blick auf die Zukunft stellt sich die Frage, ob diese Wende auch die Verhaltensmuster im Volk so dauerhaft und wirksam zu prägen vermag, wie es über Jahrhunderte die christliche Judenfeindschaft getan hat.Christian von ArxVortrag von Peter Hertel im Wortlaut auf der Website des «aufbruch»
Risse in den Wänden, Verschmutzungen, Feuchtigkeit vom Boden und ein undichtes Dach bedrohen manche Kirche oder Kapelle. Besonders betroffen sind die Pfarreien von Ardon (VS), Aqu...