Warum schwieg Papst Pius XII.?

Warum schwieg Papst Pius XII.?

«Die Verantwortung fällt auch auf die, die schweigen»

Der christliche Antisemitismus und das Schweigen von Papst Pius XII. zur Judenverfolgung

In einem Vor­trag in Basel beleuchtete Peter Her­tel den christlichen Anti­semitismus. Der The­ologe und Autor sieht diese Tra­di­tion der Kirche als Grund, warum Papst Pius XII. den Holo­caust nicht öffentlich verurteilte.
Edith Stein (1891–1942), im KZ Auschwitz ermordet, in ein­er Auf­nahme von etwa 1920 | © wikimedia/Fotograf unbekan­nt
«Seit Wochen sehen wir in Deutsch­land Tat­en geschehen, die jed­er Gerechtigkeit und Men­schlichkeit Hohn sprechen. Ich bin überzeugt, dass es sich um eine all­ge­meine Erschei­n­ung han­delt, die noch viele Opfer fordern wird. Die Ver­ant­wor­tung fällt auch auf die, die dazu schweigen. Seit Wochen warten und hof­fen nicht nur die Juden, son­dern Tausende treuer Katho­liken in Deutsch­land – und ich denke, in der ganzen Welt –, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe …»Diese klar­sichti­gen Worte schrieb Edith Stein, katholis­che Philosophin jüdis­ch­er Herkun­ft, bere­its im April 1933, gut zwei Monate nach Hitlers Mach­tantritt, in einem Brief an Papst Pius XI. in Rom. Die Antwort kam von Kar­di­nal­staatssekretär Euge­nio Pacel­li: Ihr Schreiben sei pflicht­gemäss dem Papst vorgelegt wor­den. Auf den Inhalt ging der Kar­di­nal nicht ein.1939 trat Pacel­li als Pius XII. selb­st das Amt des Pap­stes an. Edith Stein, die 1933 in den Orden der Karmelitin­nen ein­trat, wurde am 9. August 1942 von den Nazis im KZ Auschwitz-Birke­nau ermordet. 1998 wurde sie von der Kirche heiligge­sprochen. Für Pius XII. läuft seit 1965 ein Ver­fahren zur Seligsprechung.Die Bew­er­tung von Han­deln und Schweigen des Pap­stes angesichts der Juden­ver­nich­tung bleibt umstrit­ten. Neue Ken­nt­nisse soll die im Jahr 2020 erfol­gte Öff­nung der vatikanis­chen Archive brin­gen. In einem von der Zeitschrift «auf­bruch» ver­anstal­teten Vor­trag am 25. Okto­ber in der christkatholis­chen Predi­gerkirche Basel legte der deutsche The­ologe und Jour­nal­ist Peter Her­tel, der als früher­er Radioredak­tor des NDR auch Zeitzeu­gen zu dem The­ma befragt hat­te, seine Sicht dar.

Warum schwieg Pius XII.?

Her­tel lastet Pius XII. an, dass er gegenüber den Ver­brechen der Nazis an den Juden weit­ge­hend geschwiegen habe und die Schoah nicht aus­drück­lich ver­dammte, obwohl er davon Ken­nt­nis hat­te. Eben­so sei der Papst untätig geblieben, als im Jahr 1943 mehr als 1000 Juden aus Rom in die Ver­nich­tungslager deportiert wur­den – obwohl er auch Kirchen und Klöster anwies, Ver­fol­gten Asyl zu geben. Dass viele Juden im Schutz der Kirche gerettet wur­den, hielt Her­tel eher den beteiligten kirch­lichen Insti­tu­tio­nen als dem Papst zugute.Warum schwieg Pius XII.? Für Peter Her­tel liegt die erste Antwort darin, dass Pacel­li mit den seit Jahrhun­derten ver­fes­tigten Vorurteilen des Anti­ju­dais­mus aufwuchs und in der the­ol­o­gis­chen Tra­di­tion des christlichen Anti­semitismus stand.Den zweit­en Schlüs­sel sieht Her­tel in der Kirchen­poli­tik: Als im April 1933 Edith Stein an den Papst schrieb, ver­han­delte Kar­di­nal­staatssekretär Pacel­li mit der Naziregierung über das Reich­skonko­r­dat, von dem er sich Freiräume für die katholis­che Kirche in Deutsch­land erhoffte. Ein kirch­lich­es Ein­treten gegen die Ver­brechen der deutschen Machthaber an den Juden hätte das Konko­r­dat gefährden kön­nen, das dann im Juli 1933 unterze­ich­net wurde. «Da stand das Wohl der eige­nen Kirchen­mit­glieder höher als die Men­schen­rechte», bilanzierte Her­tel.

Der alte kirchliche Antisemitismus

Über die Kon­tro­verse um die Rolle von Papst Pius XII. hin­aus bleibt es für die Kirche von zen­traler Bedeu­tung, sich ihrer Tra­di­tion der Juden­feind­schaft zu stellen. Dazu zeich­nete Peter Her­tel in seinem Vor­trag eine Lin­ie von der The­olo­gie der Antike bis zum Holo­caust.Als das Chris­ten­tum im römis­chen Reich zur führen­den Reli­gion auf­stieg, sah es sich als das «wahre Israel», während das Juden­tum ver­wor­fen sei. Die Juden, so hiess es beim Kirchen­lehrer Johannes Chrysos­to­mos im Jahr 386, seien Chris­tus­mörder, für die es keine Verzei­hung gebe. Als 388 ein christlich­er Mob die Syn­a­goge in Call­inicum in Syrien nieder­bran­nte, erwirk­te der Kirchen­lehrer Ambro­sius bei Kaiser Theo­do­sius den Verzicht auf die Bestra­fung der Brand­s­tifter und auf den Wieder­auf­bau der Syn­a­goge.Dieser Kon­flikt sei zum Mod­ell für den Umgang von Staat und Kirche mit den Juden gewor­den, sagte Her­tel. Im Mit­te­lal­ter dulde­ten oder förderten Päp­ste die «Juden­mis­sion» und Zwangstaufen von Juden, deren Auss­chluss von Ämtern, ihre Kennze­ich­nung durch beson­dere Klei­dungsstücke oder ihre Einsper­rung in Ghet­tos. Auch der Refor­ma­tor Mar­tin Luther forderte 1543 Zwangsar­beit für Juden und das Nieder­bren­nen ihrer Syn­a­gogen.

Kirche prägte Verhaltensmuster im Volk

Laut Her­tel führten die anti­jüdis­chen Ein­stel­lun­gen in Poli­tik und The­olo­gie zu Ver­hal­tens­mustern im Volk: «Schliesslich wurde der christliche Anti­semitismus selb­stver­ständlich­es All­ge­meingut der Bevölkerung. Er drang in die Volks­fröm­migkeit ein und nahm dämonis­che Züge an. Den ange­blich got­t­losen Juden traute man alles zu, selb­st dass sie mit dem Teufel im Bunde seien.»Als im 19. Jahrhun­dert die gesellschaftliche Bedeu­tung der Reli­gion abnahm und eine Entwick­lung zur rechtlichen Gle­ich­stel­lung der Juden ein­set­zte, ver­schob sich in Deutsch­land die Juden­feind­schaft von der Reli­gion auf die soge­nan­nte «Rasse»: «Was solls, wenn ihr euch taufen lasst. Ihr seid und bleibt Juden.» Die aufk­om­mende Rassenide­olo­gie baute auf der alten christlichen Juden­feind­schaft auf.«Die Nazis nutzten ganz konkret die Vorurteile, um die Bevölkerung auf ihre soge­nan­nte Endlö­sung der Juden­frage einzus­tim­men», legte Her­tel dar. Ele­mente und Sym­bole des christlichen Anti­semitismus wur­den von den Nazis über­nom­men, wie ange­bliche Rit­ual­morde der Juden oder ihre Aus­gren­zung durch sicht­bare Zeichen an den Klei­dern. Her­tels Faz­it: «Ohne den christlichen Anti­semitismus und seine Jahrhun­derte alten, in der Gesellschaft ver­fes­tigten Vorurteile hätte es den Holo­caust wohl nicht gegeben.»Mit dem II. Vatikanis­chen Konzil hat die Kirche ein neues Ver­hält­nis zum Juden­tum gewon­nen. Mit Blick auf die Zukun­ft stellt sich die Frage, ob diese Wende auch die Ver­hal­tens­muster im Volk so dauer­haft und wirk­sam zu prä­gen ver­mag, wie es über Jahrhun­derte die christliche Juden­feind­schaft getan hat.Chris­t­ian von ArxVor­trag von Peter Her­tel im Wort­laut auf der Web­site des «auf­bruch»
Christian von Arx
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