War­um schä­men sich die Rei­chen nicht?

In Gebens­torf orga­ni­siert die fünf­köp­fi­ge oeku­me­ni­sche Erwach­se­nen­bil­dungs­grup­pe um Hil­de Sei­bert, Maria Hayoz, Maria Poz­za­to, Rudi Neu­berth (ref. Pfar­rer) und Andre­as Zim­mer­mann (kath. Gemein­de­lei­ter) alle zwei Jah­re eine Ver­an­stal­tungs­rei­he zu aktu­el­len sozi­al­po­li­ti­schen Fra­ge­stel­lun­gen. Die­ses Jahr unter dem Titel: Para­dies Schweiz – Rea­li­tä­ten und Visio­nen zu Armut und Reich­tum in unse­rem Land. Noch bis am 14. Novem­ber 2013 fin­det in Gebens­torf jeden Don­ners­tag­abend ein The­men­abend statt (sie­he unten). The­ma ist die Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit in der Schweiz. Kon­kret: Wel­che For­men von Armut gibt es bei uns und wer küm­mert sich um die­se Men­schen? Dar­über hin­aus: Was kann das poli­ti­sche System tun, mög­lichst allen Men­schen ein gutes Leben zu ermög­li­chen? Im Inter­view dis­ku­tie­ren Hil­de Sei­bert, Andre­as Zim­mer­mann, katho­li­scher Gemein­de­lei­ter in Gebens­torf und der refor­mier­te Pfar­rer Rudi Neu­berth, wel­che Erfah­run­gen sie mit Armut und Reich­tum in ihrem All­tag gemacht haben. 

In Gebens­torf über Armut und sozia­le Gerech­tig­keit reden: Funk­tio­niert das? Inwie­weit ist die­ses The­ma in der Gemein­de über­haupt prä­sent?
Andre­as Zim­mer­mann: Gebens­torf ist kei­ne wohl­si­tu­ier­te Vor­orts­ge­mein­de mit hohem Aka­de­mi­ker­an­teil, son­dern hat eine gute Durch­mi­schung. Wir haben einen Aus­län­der­an­teil von 25 Pro­zent. Dar­un­ter auch an die 250 Men­schen aus Syri­en.
Hil­de Sei­bert: Ich sehe bei uns im Dorf immer wie­der älte­re Frau­en mit Kopf­tuch. Sie spre­chen kaum ein Wort Deutsch und schei­nen mir so ent­wur­zelt. Das ist für mich auch eine Form von Armut. 

In Baden klin­geln Armuts­be­trof­fe­ne beim Pfar­rei­se­kre­ta­ri­at. Pas­siert das in Gebens­torf auch?
Rudi Neu­berth: Das gibt es schon, doch. Kommt aber sel­ten vor. Ich erle­be Armut bei uns oft als Armut an Bezie­hun­gen. Gera­de älte­re Men­schen sind auf­grund ein­ge­schränk­ter Mobi­li­tät oft ein­sam. Die Kin­der leben in ande­ren Regio­nen, Freun­de und Bekann­te sind weg­ge­stor­ben. Aber auch die Tat­sa­che, dass wir in unse­rer Gesell­schaft kaum Zeit haben, uns um die­se Men­schen zu küm­mern, ist ein Armuts­zeug­nis.
Andre­as Zim­mer­mann: Das The­ma ist ein Tabu. Gera­de wenn ich Ange­bo­te für Fami­li­en aus­schrei­be, erle­be ich das. Da kommt nie­mand und sagt, ich wür­de eigent­lich gern kom­men, aber ich kann das nicht bezah­len. Die Scham ist gross.
Hil­de Sei­bert: Das dünkt mich typisch für die Schweiz. Bei uns schä­men sich die Men­schen, die arm sind. War­um schä­men sich die Rei­chen nicht? 

Weil die Idee in den Köp­fen her­um­gei­stert, dass es in der Schweiz kei­ne Armut gibt?
Hil­de Sei­bert: Viel­leicht. Vie­les wird ver­drängt, Armut ist bei uns nicht so sicht­bar wie in ande­ren Ländern. 

Was gab euch den Anstoss für das gewähl­te The­ma?
Hil­de Sei­bert: Im Grun­de geht um Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit. Wir beleuch­ten zunächst, wel­che For­men von Armut gibt es bei uns und wer sich um die­se Men­schen küm­mert. Danach fra­gen wir aber auch, was das poli­ti­sche System dazu tun kann, mög­lichst allen Men­schen im Lan­de ein gutes Leben zu ermög­li­chen. Zu jedem The­men­abend haben wir Exper­ten ein­ge­la­den. Unter ande­rem zwei Ver­tre­te­rin­nen von ATD Vier­te Welt, den Sozio­lo­gen Ueli Mäder und die Poli­ti­ker Céd­ric Wer­muth von der SP und Thier­ry Bur­kart von der FDP sowie Max Cho­pard (SP) und Syl­via Flücki­ger (SVP). Da geht es um die 1:12-Initiaitve und das Volks­be­geh­ren für einen ver­bind­li­chen Min­dest­lohn.
Andre­as Zim­mer­mann: Wir hat­ten auch schon über­legt, die Idee für ein bedin­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men zum The­ma zu machen. Aber wir konn­ten bei der Pla­nung noch nicht davon aus­ge­hen, dass die nöti­gen Unter­schrif­ten zusam­men­kom­men. Und es wäre dann scha­de gewe­sen, über etwas zu dis­ku­tie­ren, das als The­ma so kei­ne bren­nen­de Aktua­li­tät besitzt. 

Hin­sicht­lich der 1:12-Initiative seid ihr nun brand­ak­tu­ell, die Abstim­mung ist im Novem­ber.
Hil­de Sei­bert: Das kann man sagen. Die SP hät­te die Abstim­mung ger­ne schon im Sep­tem­ber gehabt. Uns hin­ge­gen ist es schon recht, dass sie im Novem­ber statt­fin­det (lacht).

Was hofft ihr, mit der The­men­rei­he errei­chen zu kön­nen?
Andre­as Zim­mer­mann: Wir möch­ten den Leu­ten die Mög­lich­keit für ein umfas­sen­de­re Bild der Wirk­lich­keit zu bie­ten.
Hil­de Sei­bert: Auch Mut machen, etwas zu tun. Gegen­steu­er geben zur weit ver­brei­te­ten Idee, dass man ja doch nichts ändern kön­ne. Viel­leicht ent­steht im Anschluss an die The­men­aben­de eine Initia­ti­ve, ein Pro­jekt. Das wäre schön. 

Wie kann man denn kon­kret hel­fen?
Rudi Neu­berth: In mei­nem Arbeits­all­tag habe ich etwas gelernt. Das ein­fach­ste ist es, Armuts­be­trof­fe­nen finan­zi­el­le Unter­stüt­zung zu geben. Schwie­ri­ger ist die seel­sor­ge­ri­sche Arbeit. Aber am schwie­rig­sten ist es, die­se Men­schen aus ihrer Iso­la­ti­on zu bekommen. 

Andre­as C. Müller 

 

Para­dies Schweiz — Rea­li­tä­ten und Visio­nen zu Armut und Reich­tum in unse­rem Land 

Ort: Refor­mier­tes Kirch­ge­mein­de­haus, Gebens­torf
jeweils um 19.30 Uhr. Der Ein­tritt ist frei, Anmel­dung nicht erforderlich. 

Donners­tag, 24. Okto­ber:
Rea­li­tä­ten (mit Prof. Dr. Ueli Mäder, Autor des Buches «Wie Rei­che den­ken und lenken») 

Don­ners­tag, 31. Okto­ber:
Krea­ti­ve Ideen – gut umge­setzt (es stel­len sich vor: das «Lern­werk», das «Christ­li­che Sozi­al­werk Hope, «Car­tons du Coeur», «Tisch­lein deck dich» sowie die «Schwei­zer Tafel») 

Don­ners­tag, 7. Novem­ber:
Poli­ti­sche Vor­stös­se (unter der Lei­tung von Hans Fahr­län­der dis­ku­tie­ren zur Min­dest­lohn-Initia­ti­ve der SP-Natio­nal­rat Max Cho­pard und die SVP-Natio­nal­rä­tin Syl­via Flücki­ger – zur 1:12-Initiative der SP-Natio­nal­rat Céd­ric Wer­muth und der Prä­si­dent der FDP Aar­gau Thier­ry Burkart) 

Don­ners­tag, 14. Novem­ber:
Wir fra­gen nach unse­rer Ver­ant­wor­tung und unse­ren Mög­lich­kei­ten als Kir­che und Pfarrei. 

 

 

Die For­de­rung nach Lohn­ober­gren­zen und der Ein­füh­rung eines gesetz­lich garan­tier­ten Min­dest­loh­nes sor­gen aktu­ell für poli­ti­sche Kon­tro­ver­sen. Was braucht es Ihrer Mei­nung nach, um in der Schweiz Armut erfolg­reich zu bekämpfen?

Redaktion Lichtblick
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