Wann ist der Mensch gut?

Wann ist der Mensch gut?

Koloss­erbrief 3, 12–15Beklei­det euch also, als Erwähl­te Got­tes, Hei­li­ge und Gelieb­te, mit inni­gem Erbar­men, Güte, Demut, Mil­de, Geduld! Ertragt ein­an­der und ver­gebt ein­an­der, wenn einer dem ande­ren etwas vor­zu­wer­fen hat! Wie der Herr euch ver­ge­ben hat, so ver­gebt auch ihr! Vor allem beklei­det euch mit der Lie­be, die das Band der Voll­kom­men­heit ist! Und der Frie­de Chri­sti tri­um­phie­re in euren Her­zen. Dazu seid ihr beru­fen als Glie­der des einen Lei­bes. Seid dankbar! Ein­heits­über­set­zung 2016 

Wann ist der Mensch gut?

«Man kann doch auch ein guter Mensch sein, wenn man nicht gläu­big ist!?» Leicht unsi­cher und dar­um fra­gend, gleich­zei­tig aber auch pro­vo­zie­rend und abweh­rend stellt der jun­ge Mann klar, dass er den christ­li­chen Glau­ben hin­ter sich gelas­sen hat. Ich bestä­ti­ge ihm sei­ne The­se, fra­ge aber zurück, was er denn unter einem guten Men­schen ver­ste­he. Die Fra­ge ver­wirrt ihn, denn zunächst fällt ihm nur eine nega­ti­ve Ant­wort ein: «Wenn man nichts Böses tut.» Dann aber merkt er, dass die Fra­ge nach dem Bösen eben­so unge­nau ist wie die nach den Guten. Sein neu­er Ver­such: «Ein guter Mensch ist man, wenn man sich an die Geset­ze hält und sei­nen Mit­men­schen gegen­über freund­lich und ehr­lich ist.»Ein guter Mensch zu sein, ist offen­sicht­lich nicht so ein­fach. Wer ent­schei­det dar­über? Was sagt das eige­ne Herz, das Gewis­sen? Wir sind aber bekann­ter­mas­sen Mei­ster im Selbst­be­trug. Wie reagiert die Umge­bung? Wer nir­gends aneckt, muss nicht gut sein, es reicht, wenn er gut ange­passt ist. Nicht immer ist Nach­ge­ben gut.Das Bas­ler Mün­ster steht dank des 1000-Jah­re-Jubi­lä­ums sei­ner Wei­he in die­sem Jahr in beson­ders fest­li­cher Auf­merk­sam­keit. Eine Kir­che an die­sem Ort gabs schon frü­her, aber das Kai­ser­paar Hein­rich II. und Kuni­gun­de hat ihr zu beson­de­rer Grös­se ver­hol­fen und soll, zumin­dest laut einem spä­te­ren Bericht, am Wei­he­tag (11.10.1019) selbst anwe­send gewe­sen sein. Sie sind bei­de hei­lig­ge­spro­chen wor­den, weil sie es ver­stan­den haben, kirch­li­che und welt­li­che Macht zu ver­meh­ren, jeweils die eine im Dienst der ande­ren. Dabei hat Hein­rich stän­dig mili­tä­risch grau­sa­me Feld­zü­ge und jahr­zehn­te­lan­ge Krie­ge geführt. Intri­ge, Hin­ter­list und Gewalt­an­wen­dung gehör­ten zu sei­nem Geschäft. War er ein guter Mensch, so gut, dass er spä­ter hei­lig genannt wur­de?Ich stel­le mir vor, das Kai­ser­paar war zum Got­tes­dienst im Bas­ler Mün­ster, und der Lek­tor hat den Abschnitt aus dem Pau­lus­brief vor­ge­le­sen, der für den Namens­tag der bei­den aus­ge­wählt ist. Dies sind ermah­nen­de Wor­te, die umschrei­ben wol­len, was ein guter Mensch ist – oder prä­zi­ser, wor­an man einen gläu­bi­gen Men­schen erkennt. Wie sich Kuni­gun­de selbst beur­teilt hat, wis­sen wir nicht. Als ihr Mann 1024 starb und sie kei­ne Kin­der hat­te, ging sie ins Klo­ster, wo sie bis 1033 leb­te. Hein­rich II. hät­te sich sicher nach Pau­lus als erwählt und von Gott geliebt bezeich­net. Aber über Demut, Mil­de und Geduld hät­te er sich viel­leicht gewun­dert. Er hät­te viel­leicht Ber­told Brecht vor­weg­ge­nom­men und gesagt, so wie Pau­lus sich das vor­stellt, so wäre ich gern, aber die Ver­hält­nis­se, die sind nicht so.Uns führt die­ser Gedan­ke zur Fra­ge, an wel­chen Merk­ma­len man den guten Men­schen erken­nen kann. Gel­ten die­se für einen guten Mann eben­so wie für eine gute Frau? Ist eine gute Mut­ter auch eine gute Geschäfts­frau, ein guter Vater ein guter Poli­ti­ker, ein guter Ban­ker ein guter Mensch? Oder ist gut sein nur ganz pri­vat mög­lich?Von den Span­nun­gen, die aus­zu­hal­ten sind, wenn man die ver­schie­de­nen Rol­len des Lebens gut erfül­len will, blieb auch der Kai­ser nicht ver­schont. Gut ist nicht immer gut.Lud­wig Hes­se, Theo­lo­ge, Autor und Teil­zeit­schrei­ner, war bis zu sei­ner Pen­sio­nie­rung Spi­tal­seel­sor­ger im Kan­ton Baselland
Redaktion Lichtblick
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