Von der Mühe mit der Menschlichkeit
Gemäss Paul Grüninger (1891–1972) waren es über zwei Tausend Menschen, manche rechnen mit drei Tausend. Der Kommandant der St. Galler Kantonspolizei hat Dokumente gefälscht und Weisungen missachtet. Und damit unzähligen jüdischen Flüchtlingen aus Österreich während des Nazi-Terrors das Leben gerettet. Regisseur Alain Gsponer hat das bewegende Leben des St. Galler Polizeihauptmannes verfilmt, welcher, von der Politik fallen gelassen, in Armut starb. Entstanden ist eine Gratwanderung zwischen Fakten und Fiktion.
Papiere vordatiert
Sie flüchteten nach dem so genannten Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland in die Schweiz. Als der Bundesrat im August 1938 die Grenze schloss, kamen sie über die Grüne Grenze im St. Galler Rheintal. Grenzbeamte, Wirte, Anwohner halfen ihnen. Trotz viel Ablehnung und Hartherzigkeit in der Schweiz – Grüninger war keineswegs allein mit seinem Einsatz. Gedeckt wurde er zudem von Regierungsrat Valentin Keel, der ihn später fallen liess. Grüninger hörte sich die Geschichten der Verfolgten an, entschied, wann immer es ihm möglich schien, dass sie bleiben durften. Danach übergab er die Geretteten der Israelitischen Flüchtlingshilfe. Grüninger datierte etwa die Einreisepapiere vor die Grenzsperrung zurück. Manchmal holte er Häftlinge aus Dachau, indem er deutschen Polizeistellen schrieb, die Einreise der Betreffenden in die Schweiz sei gesichert – was nur die halbe Wahrheit war.
Mann mit christlicher Weltauffassung
Spätestens seit dem 28. September 1938, einen Tag, bevor die Schweiz mit Deutschland die Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden mit einem J vereinbarte, wusste Grüninger, was im Konzentrationslager Dachau geschah. Das schreibt Jörg Krummenacher in seinem Buch «Flüchtiges Glück». Grüninger fand, es sei Pflicht und Tradition der Schweiz, Menschen Asyl zu gewähren, die verfolgt und bedroht werden. Und: «Meine Hilfeleistung an die Juden war begründet in meiner christlichen Weltauffassung», schrieb der Protestant rückblickend. Es hätte eine schöne Geschichte inmitten unsäglichen Unrechts werden können. Doch per Anfang April 1939 wurde Grüninger wegen seines Einsatzes für die Flüchtlinge fristlos entlassen. Das Bezirksgericht St. Gallen verurteilte ihn wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung. Zeitlebens lebte er in Armut, weil er keine feste Stelle mehr fand.
Gerechter unter den Völkern
Er war schon alt, als seine Verdienste in jüdischen Kreisen bekannt wurden. 1971 erklärte ihn die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte «Yad Vashem» zum Gerechten unter den Völkern. Es dauerte aber noch lange, bis er offiziell rehabilitiert wurde. Vor allem linke Kreise kämpften jahrelang dafür, besonders der Rechtsanwalt und heutige Ständerat Paul Rechsteiner und Grüningers Biograph Stefan Keller. 1993 endlich wurde er durch die St. Galler Regierung politisch rehabilitiert, 1994 ehrte ihn der Bundesrat. 1995 schliesslich rehabilitierte ihn das Bezirksgericht St. Gallen mit einem Freispruch auch juristisch. Mit der Entschädigung des Kantons, 1,3 Millionen Franken, gründeten die Nachkommen die Paul-Grüninger-Stiftung. Diese verleiht einen Preis für besondere Menschlichkeit und Mut im Sinne Paul Grüningers.
Ein Platz, ein Stadion, eine Brücke
Heute ist ein kleiner Platz in der St. Galler Altstadt nach ihm benannt. Ebenso das Stadion des SC Brühl, mit dem der leidenschaftliche Fussballer 1915 Schweizer Meister geworden war. Und kürzlich haben die St. Galler Regierung und die Vorarlberger Behörden beschlossen, der Grenzbrücke zwischen Diepoldsau und Hohenems seinen Namen zu geben. Eine Einfache Anfrage des grünen Kantonsrats Meinrad Gschwend hatte den Ausschlag gegeben. Doch anders als bis zu seiner Rehabilitierung wurden linke Politiker diesmal vergebens misstrauisch, als es länger dauerte mit der Antwort der St. Galler Regierung: «Sein Mut und sein Verhalten verdient aus Sicht der Regierung höchsten Respekt und Anerkennung», schreibt die Regierung und begrüsst dementsprechend «die zur Erinnerung an seine Leistung bereits an verschiedenen Orten im Kanton St. Gallen vorgenommenen Benennungen von Anlagen und Einrichtungen wie auch alle zu Ehren seines 40. Todestages an verschiedenen Orten vorgesehenen Aktivitäten.» Heute ist Paul Grüninger ein angesehener und für seine Menschlichkeit hoch geachteter Mann.
Petra Mühlhäuser, Kipa