Vom Umgang mit Wut, Hass und Gewalt in den Religionen
- Acht Persönlichkeiten, sechs Religionen: eine angeregte Gesprächsrunde, die mit einem tibetischen Berglied und sufischem Drehtanz endet.
- Das Dossier zur Woche der Religionen ist eine interreligiöse Koproduktion unter der Mitarbeit von Pfarrblatt Kanton Bern, «horizonte», «reformiert», «christkatholisch», «tachles» sowie Mitgliedern der muslimischen Glaubensgemeinschaft
- Die Porträts der einzelnen Gesprächsteilnehmerinnen und ‑teilnehmer finden Sie, wenn Sie auf die Bilder klicken.
Das Thermometer zeigt an diesem Juniabend über 30 Grad an. Wir treffen uns im Restaurant Lorenzini in Bern, im «Salotto Siena». Vom Fenster aus sieht man aufs Münster, Strassengeräusche dringen in den Saal. Am Tisch sitzen die Redaktorin Katharina Kilchenmann und der Redaktor Jürg Meienberg und warten auf ihre acht Gäste. Als erste treffen Bronislaw Erlich und Erika Radermacher ein. Redaktion: Frau Rademacher, als wir Sie zur Gesprächsrunde über Wut, Hass und Gewalt in den Religionen eingeladen haben, was ging Ihnen da durch den Kopf?
Erika Radermacher: Es war mir eher unangenehm. Mit echter Gewalt hatte ich nie richtig zu tun. Mit subtiler Gewalt hingegen aber schon.
Redaktion: Sie beide sind Zeugen des zweiten Weltkrieges.
Radermacher: Ich war noch ein Knirps damals. Meine Erinnerungen an den Krieg sind mehr vom Gefühl der Angst als von Gewalt geprägt. Ich habe immer noch dieses Bild, wie wir zu Fuss flüchteten und uns immer wieder hinlegen mussten, weil die Granaten flogen.
Bronislaw Erlich: Ich hatte Glück. Ich erlebte zwar viel seelisches Leid, physische Gewalt jedoch kaum. Aber natürlich kenne ich viele tragische Geschichten von Menschen im Zweiten Weltkrieg und die hoffnungslose Situation vieler Juden. Wenn ich daran denke, was meine Eltern, die im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurden, erleiden mussten, dann habe ich heute noch schlaflose Nächte. Zu wissen, dass man dem Tod ausgeliefert ist, war das Schlimmste.
Während der Diskussion setzt sich Rudolf Szabo an den Tisch.Redaktion: Frau Radermacher, Sie sind evangelisch-lutherisch aufgewachsen und waren viele Jahre Schülerin von Baghwan, einem indischen Meditationsmeister und nicht unumstrittenen Guru. Wieso spielt Meditation eine wichtige Rolle in Ihrem Leben?
Radermacher: In der Lehre von Bhagwan steht der Körper im Zentrum. Man macht viele körperbetonte Meditationen, wie etwa die «Dynamische Meditation». Als ich zum ersten Mal bei einer solchen dabei war, habe ich gesehen, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer danach aussahen: wie Babies, rein und weich. Da dachte ich: Wenn weltweit alle Menschen jeden Tag so meditieren würden, dann gäbe es keine Kriege mehr.
Redaktion: Bei der dynamischen Meditation wird durch die Atmung Energie aufgebaut, anschliessend lässt man diese raus – die einen toben, die anderen schreien.
Radermacher: Das kann man, aber man muss nicht. Ich selber musste das erst lernen. Früher hatte ich viel Wut in mir, die ich einfach runterschluckte. Durch eben solche körperbetonten Meditationen kann man lernen, seine Wut zu spüren, kann sie in Energie umwandeln und ausdrücken. So endet sie nicht in Gewalt.
Rudolf Szabo: Dem kann ich nur beipflichten. Und als ein ehemaliger Schwerverbrecher, der selbst Gewalt angewendet hat, spreche ich aus Erfahrung. Ich wurde zu neun Jahren Gefängnis verurteilt, weil ich den Ex-Liebhaber meiner Ex-Frau fast zu Tode prügelte und sieben bewaffnete Raubüberfälle auf Banken und Postämter begangen habe – aus Geldnot wegen der Alimentenzahlungen für meine fünf Kinder.
Während Szabo spricht, steht Erlich am anderen Ende des Tisches auf und setzt sich neben ihn. Szabo: Im Gefängnis habe ich dann aber dank einem sehr engagierten Gefängnisseelsorger den Rank gefunden. Dort begann ich, mich an christlichen Werten und am Vorbild Jesus Christus zu orientieren. Der Seelsorger sagte mir Sätze wie: «Liebe ist etwas Universelles, Jesus hat es vorgelebt.» Das hat mich tief berührt. Bis dahin meinte ich, Liebe sei ein Trick der Frauen, um uns Männer zu manipulieren.
Redaktion: Frau Radermacher musste erst lernen, ihre Wut zu spüren. Herr Szabo seinerseits musste sie zügeln. Und Sie Herr Erlich, wie haben Sie es mit der Wut?
Erlich: Ich habe meine Wut bagatellisiert und ignoriert. Ich erzähle ihnen ein Beispiel: Während des Krieges arbeitete ich zwei Jahre mit falschen Papieren bei einem deutschen Bauern. Dieser holte die Polizei, weil er sich von mir bedroht fühlte. Er behauptete, ich sei mit einer Mistgabel auf ihn losgegangen. Die Polizisten verprügelten mich und drohten mir, sie würden wiederkommen, um mich umzubringen. Darauf spendierte ich meinen Arbeitskollegen ein Abschiedsbier, denn ich war bereit zu sterben. Doch der Tod kam nicht, die deutschen Polizisten tauchten nicht mehr auf. Als drei Monate später die Amerikaner einmarschierten, schenkten sie mir eine Schachtel Lucky Strike-Zigaretten. Der Bauer hatte Angst, dass ich mich rächen würde, jetzt, wo die deutsche Polizei nicht mehr im Dorf war. Aber ich ging zu ihm und schenkte ihm die Zigaretten – aus Freude, überlebt zu haben. Ich war so glücklich und spürte keinerlei Wut in mir. Ich wollte die ganze Welt umarmen. Ein halbes Jahr später lernte ich ein deutsches Mädchen aus Oberschlesien kennen — meine heutige Frau. Hass wurde für mich bedeutungslos.
Während Erlich spricht, gesellen sich Nurgül Usluoglu und Laavanja Sinnadurai dazu. Sie setzen sich nebeneinander an den grossen Tisch.Redaktion: Herr Ehrlich, wie ist ihr Verhältnis zum Judentum heute?
Erlich: Ich bin als Jude geboren, habe die Traditionen meiner Eltern übernommen. Religion ist für mich ein Verhaltenskodex, eine Zusammenstellung von ethischen Hinweisen, wie der Mensch leben soll. Nehmen wir die zehn Gebote von Moses. Du sollst nicht töten. Das sind Sätze, die vor tausenden von Jahren geschrieben wurden und nie ihre Gültigkeit verlieren werden. Das ist doch das Schönste, was die Menschheit von sich geben konnte.
Redaktion: Frau Usluoglu, wie haben Sie es mit der Religion?
Nurgül Usluoglu: Ich bin in der Türkei in einem muslimischen Elternhaus grossgeworden. Ich musste weder ein Kopftuch tragen, noch regelmässig beten. Meine Eltern lebten mir eine spirituelle Art des Islam vor. Seit einigen Jahren bin ich nun Anhängerin des Sufismus, einer speziellen Form des Islam. Die Sufis sehen den eigentlichen Kern, die Essenz der Religion.
Redaktion: Wir hatten vorher drei Beispiele, wie man mit Wut umgehen kann. Wie ist Ihre Beziehung zu Wut und Hass?
Usluoglu: Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem man als Mädchen keine Wut haben durfte.
Redaktion: Wütend zu sein, war also den Männern vorbehalten?
Usluoglu: Ja. Wut ist eine kraftvolle Energie.
Redaktion: Und der Sufismus war dann für Sie eine Möglichkeit, Ihre Persönlichkeit als Frau zu finden?
Usluoglu: Genau. Im Sufismus geht es darum, die innere Stärke zu entwickeln, die eben einen direkten Bezug hat zum Göttlichen und zum Geistigen. Da spielt das Geschlecht keine Rolle. Durch den Drehtanz konnte ich die Wut direkt in eine Aktion umsetzen.
Redaktion: Kennen Sie, Frau Sinnadurai, das Gefühl von Wut und Hass?
Laavanja Sinnadurai: In der Pubertät hatte ich eine Identitätskrise. Denn als eine in der Schweiz geborene Tochter von tamilischen Eltern realisierte ich, dass ich nicht die gleichen Freiheiten hatte wie meine Schweizer Freundinnen. Ich durfte nicht gleich lange an Parties bleiben und durfte auch keinen Schweizer Freund haben. Das machte mich wütend.
Johanna Bundi gesellt sich zur Runde. Redaktion: Ein anstrengendes Doppelleben?
Sinnadurai: Oh ja. Zwar habe ich das Doppelleben einer Schweizerin mit tamilischen hinduistischen Wurzeln immer zelebriert. Aber das Leben zwischen zwei völlig verschiedenen Kulturen, das braucht enorm Energie und hat auch eine Kehrseite: Da kann schon mal Wut und Hass aufkommen.
Redaktion: Machen wir einen Sprung aus Sri Lanka in den römisch-katholischen Teil im Bündnerland. Frau Bundi, Ihre religiöse Sozialisierung als Polizistin, wie ist die?
Johanna Bundi: Ich bin in einer Grossfamilie mit sieben Geschwistern aufgewachsen. Die Religion hatte bei uns einen hohen Stellenwert und ich bin überzeugt, dass mein Glaube mir in meinem Beruf als Polizistin sehr hilft. Beispielsweise wenn wir eine Todesnachricht überbringen müssen. Ich erinnere mich an eine dieser schwierigen Situationen, als ich einer Mutter mitteilen musste, dass ihr 13-jähriger Sohn verstorben ist. Da ist ein gutes Fundament eine grosse Hilfe. Und das habe ich dank meinem Glauben.
Redaktion: Als Polizistin sind Sie immer wieder Zeugin von häuslicher Gewalt. Was macht das mit Ihnen?
Bundi: Wenn man ein Kind mit blauen Flecken, halb totgeschlagen im Bettchen liegen sieht, da kommt Wut hoch: Wie kann man einem wehrlosen Geschöpf so etwas antun? Das macht mich unglaublich wütend und gleichzeitig weiss ich, dass ich nicht viel dagegen unternehmen kann.
Szabo: Gewalt gegen Kinder ist sehr schlimm. Ich erinnere mich an einen meiner Postüberfälle, bei dem ich ganz in Schwarz gekleidet war, eine Haube mit Sehschlitzen über dem Gesicht und eine geladene Waffe in der Hand hatte. Eine Mutter mit ihren Kindern war in der Filiale. Sie zog die Kinder zu sich und zitterte am ganzen Leib. Sie weinte und bettelte: Bitte tun Sie meinen Kindern nichts. Da habe ich mir gedacht, ich habe Kinder im genau gleichen Alter. Denen würde ich nie etwas antun. Trotzdem habe ich die Frau eiskalt angewiesen, sich in die Ecke zu stellen und zu tun, was ich ihr sage. Diese Szene hat mich lange verfolgt.
Jacqueline Straub und Loten Namling setzen sich an den Tisch. Die Runde ist nun komplett.Bundi: Haben Sie nachher Kontakt zu dieser Person aufgenommen?
Szabo: Ja, ich habe mich nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis bei ihr entschuldigt. Dabei habe ich erfahren, welch tragische Folgen diese Szene in ihrem Leben hatte. Da erst habe ich gemerkt, was ich getan hatte: etwas, das nicht zu entschuldigen ist.
Redaktion: Herr Namling, Sie setzen sich gegen die Unterdrückung der Tibeter ein. In einer Ihrer Aktionen sind Sie mit einem Sarg von Genf nach Bern marschiert. Ist das Ihre Art, mit Wut umzugehen?
Loten Namling: Es war nicht Wut, die mich dazu bewegt hatte, sondern Frustration. Frustration, dass sich seit 50 Jahren trotz unserem gewaltlosen Kampf im Tibet nichts verändert hat. Auch nach der 35. Selbstverbrennung von tibetischen Mönchen hat niemand reagiert – weder die Politik noch die Medien. Das brachte mich zum Weinen und ich konnte nicht mehr schlafen. Mit meinem Marsch wollte ich auf die hoffnungslose Situation im Tibet aufmerksam machen, denn ich wusste, mich selber verbrennen werde ich nicht. Dazu fehlt mir der Mut.
Redaktion: Frau Straub, Sie sind römisch-katholisch und möchten seit Jahren Priesterin werden, was Sie als Frau in ihrer Kirche nicht können. Und Sie boxen. Haben Sie auf Ihrem Boxsack Papst Franziskus abgebildet?
Jacqueline Straub: Mit Papst Franziskus fahren wir Katholiken ganz gut, mit ihm muss man sich nicht anlegen. Aber es gab schon Situationen in meinem Leben, bei denen ich in den Boxclub ging, um meine ganze Wut rauszulassen. Etwa nachdem ich eine Hassmail erhalten hatte. Feindbilder jedoch habe ich mir abgewöhnt. Die bringen nichts und rauben mir nur Energie.
Es ist heiss im Raum. Johanna Bundi tupft sich den Schweiss von der Stirn. Ebenso Loten Namling, dann bestellt er einen Grüntee.Redaktion: Sie bekommen Hassmails? Löst Ihr Wunsch, Priesterin zu werden, so starke Reaktionen aus?
Straub: Allerdings! Ich muss mir beispielsweise von gleichaltrigen Priesteranwärtern anhören: «Du kannst nicht Priesterin werden, der Heilige Geist kann gar nicht in dir wirken», oder «Gott kann nun mal keine Frauen berufen». Solche Aussagen verletzen mich. Und dazu kommt: Wenn jemand denkt, dass Gott etwas nicht kann, stellt er dessen Allmacht in Frage. Damit stellt er sich über Gott, was einem Menschen nicht zusteht.
Bundi: Mit einem Wechsel zur reformierten Kirche könnten Sie ganz einfach Pfarrerin werden.
Straub: Das stimmt, das habe ich mir natürlich auch überlegt. Ich will die römisch-katholische Kirche aber nicht verlassen. Ich finde, man muss sich dafür einsetzen. Manchmal muss man halt – etwas blumig gesagt – jemandem mit dem Fuss in den Hintern treten, damit etwas vorangeht.
Usluoglu: Das sind Muster, die sich auf der ganzen Welt wiederholen: Die Unterdrückung des Weiblichen ist praktisch überall zu finden. Es ist die Angst des Mannes vor der Frau. Doch warum muss der Mann die Frau kontrollieren?
Straub: Ich denke, es ist das Unbekannte.
Bundi: Es ist noch gar nicht so lange, dass es im Polizeidienst Frauen gibt. Und wir erleben heute noch, dass die Kollegen Angst vor uns haben. Die Männer fürchten um ihre Karriere, ja um ihre Existenz.
Erlich: … und ihre Dominanz vielleicht.
Bundi: Ja, auch Dominanz. Da helfen auch Frauenquoten wenig.
Namling: Ich glaube, das Ego ist der entscheidende Punkt. Je nach dem, wie man aufgewachsen ist, wird das Ego sehr verletzlich. Abschaffen lässt es sich nicht, aber man kann es in Balance bringen. Zu schnell geraten Männer in der Schweiz aus der Balance, wenn Frauen mächtiger, besser oder intelligenter sind.
Sinnadurai: In Sri Lanka sind die Frauen stark und haben eine grosse Bedeutung. Aber seit wir in der Diaspora leben, hat sich vieles verändert. Die Frauen haben es nun schwerer, weil die Männer vor ihnen hierher kamen. Nun versuchen wir als zweite Generation, die Gleichberechtigung wieder herzustellen.
Redaktion: Im Hinduismus gibt es die Göttin Shakti, die für Wut und Zerstörung steht. Spüren Sie diese Shakti-Energie manchmal?
Sinnadurai: Ich spüre immer wieder diese innere Stärke und frage mich staunend, woher sie wohl kommt. Als Juristin bin ich oft mit traurigen Schicksalen, mit Wut und Hass konfrontiert – vor allem von der älteren Generation der Tamilen. Aber ich sage mir, ich bin dafür nicht verantwortlich, auch nicht für die Gewalt in Sri Lanka. Und ich kann nichts dafür, dass ich in der Schweiz geboren wurde und hier in Sicherheit lebe.
Redaktion: Wir haben über Krieg gespro chen. Aber auch andere Ereignisse können Wut auslösen, zum Beispiel schwere Krank heiten. Sie, Frau Usluoglu, haben als Onko login bestimmt Erfahrung in diesem Bereich
Usluoglu: In gewisser Weise schon, ja. Bei einer Krebskrankheit wird unser Fundament erschüttert. Es geht um Leben und Tod. Um grundsätzliche Fragen wie: Wofür lebe ich eigentlich? Was ist wirklich wichtig im Leben? All das, was wir im Alltag vergessen haben, weil wir dachten, das Leben gehe ewig. Dort hole ich die Menschen gerne ab. Es gibt verschiedene Formen, sie zu unterstützen: Chemotherapie, Psychotherapie, Physiotherapie und Gespräche. Ich ergänze dieses Angebot mit dem Drehtanz der Sufis. Dabei kommt alles, nicht nur der Körper, in Bewegung. Und das hat eine starke Wirkung.
Redaktion: Was geschieht beim Drehtanz?Usluoglu: Beim Drehen kommt man zuallererst mit dem Körper in Kontakt und dann, fast automatisch, mit dem Geistigen. Und wenn man das spürt, werden alle Fragen aufgelöst.
Szabo: Mir hat die Spiritualität auch geholfen, allerdings die christliche. Mit dem Gefängnisseelsorger machten wir eine Art Meditation. Und im Gebet hat er mich symbolisch ans Kreuz genagelt wie einst die Verbrecher neben Jesus. Zu wissen, dass Jesus alle Schuld auf sich nimmt, hat mir enorm geholfen. Da spürte ich auf einmal wieder Kraft in mir. Auch spirituelle Kraft. Unglaublich.
Redaktion: Frau Bundi, welche Rolle spielt die Religion bei der Polizeiarbeit?
Bundi: Die meisten Polizisten sind Christen. Nach und nach kommen auch andere Religionszugehörige dazu. Bei der Arbeit auf der Strasse stelle ich einen kulturellen Wandel fest. Da musste ich mir von einem Muslim auch schon anhören: Du bist ja nur eine Frau. Auch der Umgang mit Verdächtigten ist manchmal heikel. Es kann beispielsweise vorkommen, dass ein Verdächtiger sich nackt ausziehen muss, weil er gefährliche Gegenstände auf sich tragen könnte. Das kann sehr erniedrigend sein und Wut und Hass auslösen. Manchmal muss man das aber durchsetzen.
Redaktion: Hat Religion die Kraft die Welt zu verändern?
Erlich: Die Religion hat einen sehr grossen Einfluss, aber die Menschen müssen sie ernst nehmen. Ich finde: Die Religion muss lauter werden und nicht Ruhe geben, bis etwas in Bewegung kommt. Es reicht nicht, von 9 bis 10 Uhr einen Gottesdienst abzuhalten. Religion muss sich aktiv mehr Gehör verschaffen.
Redaktion: Wie ist das für Sie als Holocaust-Überlebender, wenn – wie seit einiger Zeit festzustellen ist – antisemitische Äusserungen zunehmen? Wenn in Frankreich beispielsweise Juden gebeten werden, ihre Kippa nicht zu tragen?
Erlich: Das ist tatsächlich unglaublich und unbegreiflich. Das muss bekämpft werden durch Aufklärung. Der zweite Weltkrieg endete mit einer Atombombe. Ich fürchte, ein dritter Weltkrieg würde mit einer solchen beginnen. Bewahre uns Gott davor, denn das wäre das Ende unseres Planeten!
Redaktion: Was haben Ihre Erfahrungen mit Ihrem Glauben gemacht? Helmut Schmidt hat einmal gesagt: «Die Christenheit, der Glaube, hört bei Auschwitz auf.» Ist das für Sie ähnlich?
Erlich: Nein, der Glaube hört nie auf. Die Menschen sind ständig Schwankungen unterworfen, Propaganda, was weiss ich. Aber die Religion ist unveränderlich, sie predigt das Gute. Was haben die Juden verschuldet, dass man sie so hasst? Der Herrgott hat die Welt doch für alle Menschen geschaffen.
Bundi: Und man hat nichts daraus gelernt! Wie viele Genozidverbrechen passieren heute, im 21. Jahrhundert!
Erlich: Sie haben Recht. Doch was soll man machen? Wenn Religion schon nicht helfen kann, was dann?
Radermacher: Alle Religionen wollen eigentlich im Ursprung das Gleiche: Liebe und Frieden. Doch vieles wird falsch gedeutet und missverstanden. Deshalb erleben wir genau das Gegenteil davon. Aus meiner Erfahrung als Begleiterin von Menschen, die ihren Weg suchen, ist eine der grössten Verletzungen die, wenn man als Kind nicht wahrgenommen wird; wenn man nicht als das gesehen wird, was man ist und immer mehr ein falsches Selbst aufbaut.
Szabo: Ich gebe Ihnen Recht! Alles beruht auf Kränkungen und Verletzungen. Das habe ich in den langen Jahren im Gefängnis gelernt. Aber dafür fehlt meist das Bewusstsein. Man gibt instinktiv immer den anderen die Schuld für die eigenen Verfehlungen.
Sinnadurai: Und verpasst dabei, Eigenverantwortung zu übernehmen. Das ist die typische Opferrolle.
Redaktion: Frau Radermacher, Sie haben gesagt, wenn die ganze Welt so meditieren würde, wie Sie es gelernt haben, gäbe es keinen Krieg mehr. Ist das nicht etwas naiv?
Radermacher: Als Kind war ich immer fasziniert vom Zaubern. Ich glaube, das hat meinen Weg beeinflusst, meinen Weg zum Heilen und in die Energiewelt. Denn dort zaubert man: Was da genau geschieht, weiss man nicht. Aber es hat eine Wirkung, und die ist sichtbar. Wenn zum Beispiel an einer Kreuzung, wo immer Unglücke passieren, mehrere Leute meditieren, dann gibt es messbar weniger Unfälle. Das ist doch Zauberei. Und mit Zauberei meine ich, dass es Heilungsmethoden gibt, die man weder kontrollieren noch erklären kann.
Sinnadurai: Wenn ich ehrlich bin, Frau Radermacher, finde ich das etwas naiv. Weder Ihr Zauber noch die Religion helfen für den Weltfrieden!
Namling: Da stimme ich Ihnen zu. Seit Jahrtausenden passieren im Namen der Religion die schlimmsten Sachen. Im Namen jeder Religion – auch der meinen, dem Buddhismus. Ich glaube, es geht darum einzusehen: Jeder Mensch will glücklich sein. Niemand will leiden. Das hat nichts mit Religion zu tun, das ist etwas grundlegend Menschliches. Religiöse Oberhäupter müssen anerkennen und sich dafür einsetzen, dass keine Religion besser ist als die andere. Deshalb müssen Missionierungen gestoppt werden. Sie lösen Angst und Gewalt aus. Es ist wichtig, dass wir jede Religion akzeptieren, nicht nur im Mund, sondern im Herzen.
Erlich: Genau daran scheitert es meistens.
Radermacher: Achtung! Allgemeine Forderungen bringen wenig. Wenn man überhaupt Veränderung hervorbringen kann, dann nur da, wo man lebt und arbeitet.
Straub: Der Frieden fängt in jedem selbst an; wenn jeder versucht, friedsam zu leben. Das fängt bereits in der Familie an. Wenn dort Streit und Gewalt zum Alltag gehört, dann…
Namling: Ja, das ist vielleicht das Wichtigste überhaupt für einen respektvollen Umgang mit anderen Menschen: ein liebevolles Elternhaus.
Usluoglu: Für mich gibt es keine Veränderung, solange alles nur im Kopf bleibt. Nehmen wir das Beispiel des Vatikans, der den Antisemitismus «verbieten» will, das ist doch…
Namling: …Das ist genau das Problem. Es ist eine Anordnung von oben! Es muss von unten kommen…Usluoglu: Ja, aber es ändert sich nichts, wenn die Einsicht nur im Kopf stattfindet. Deswegen brauchen wir auch die Meditation. In der Meditation kommen wir in das Erlebnis. Religion wurde immer missbraucht, um Dogmen zu kreieren. Doch die Menschen heutzutage wollen keine Dogmen mehr. Sie wollen Freiheit. Religion muss Menschen frei machen und nicht einsperren. Wenn wir eingesperrt werden, entsteht Wut.
Seit eineinhalb Stunden diskutieren die Gäste. Laavanja Sinadurai muss los. Sie steht auf und verabschiedet sich.Redaktion: In seinem letzten Buch hat der Dalai Lama formuliert, Ethik sei wichtiger als Religion.
Namling: Wer hat Religion gemacht? Die Menschen. Was ist die Grundlage von allen Menschen? Das ist die Ethik. Bevor man Religion versteht, muss man die Ethik verstehen. Love is the ground of all religions.Bundi: Leider haben wir aber das Problem, dass viele Menschen heute Religion mit einem Beigeschmack wahrnehmen. Wenn ich in meinen Umfeld von Ethik spreche, dann ist das okay. Wenn ich aber von Religion spreche, dann schauen mich die Leute mit grossen Augen an und sagen: Aus welcher Sekte kommst du denn?
Erlich: Man muss die Menschen dazu bringen, an Freundschaft und Brüderlichkeit zu glauben, nicht nur davon zu träumen!
Bundi: Sie können den Leuten das nicht hineinhämmern! Sie müssen das leben.
Straub: Aber wir haben auch so viele Stereotype. Gerade gegen Juden, selbst heute noch. Für mich als katholische Theologin ist klar, das Judentum ist nicht zu trennen vom Christentum. Trotzdem halten sich viele Vorurteile, etwa Juden seien geldgierig. Stereotypen, die schon Hitler benutzt hatte.
Erlich: Das sind alles Lügen, die aufgebaut wurden, um die Juden zu bekämpfen. Ghettos, Inquisition, Ausschwitz; all das werde ich nie verstehen!
Straub: Genau hier liegt das Problem. Bilder, die irgendwann einmal von den Religionen gemacht wurden, sind heute noch da, ohne dass man ihren Ursprung kennt. So werden Muslime heute schnell als Terroristen bezeichnet. Ich erlebe das sogar unter Meinesgleichen: Selbst unter Theologen gibt es immer wieder Vorurteile gegenüber anderen Religionen und Menschen. Da frage ich mich: Haben wir ein Recht, über andere zu urteilen?
Radermacher: Diese Prägung geschieht bereits im Kindesalter. Ich kann mich gut erinnern, ich war noch ganz klein, als meine Brüder von einem Tag auf den andern nicht mehr mit Judenkindern spielen durften. Keiner hat verstanden, warum. Das wurde einfach befohlen.
Namling: Die Chinesen hatten im Tibet genau die gleiche Taktik. Schrecklich.
Bronislaw Erlich steht auf, sein Taxi wartet. Er zieht sein Sakko an und nimmt den Gehstock. Erlich: Nur noch dies: Gott ist wichtig, aber die Menschen sind genau so wichtig. Würde Jesus heute vom Kreuz heruntersteigen, würde er sich die Augen reiben und sagen: «Gopfriedstutz! Was habt ihr mit meiner Lehre gemacht!» Viele Menschen sind wahrscheinlich nicht reif für das, was der Herrgott uns sagt.
Er sagt auf Wiedersehen und verlässt die Tischrunde. Auch Jacqueline Straub muss los und verabschiedet sich. Radermacher: Ich finde nach wie vor, wenn man von der ganzen Welt redet, verpasst man die Gelegenheit, auf sich selber zu schauen. Man kann nur da etwas bewirken, wo man selber ist. Und je mehr Menschen das begreifen, desto mehr Frieden kommt in die Welt.
Szabo: Mein Motto ist: Geh mit jemandem so um, wie du willst, dass mit dir umgegangen wird.
Bundi: Die Welt ist nicht geschaffen worden, um in Frieden zu leben. Sonst hätten wir ja diese Prüfungen nicht, die Jesus uns auferlegt.
Usluoglu: Ich finde, die Medien spielen eine wichtige Rolle in dieser Diskussion. Sex and Crime, das verkauft sich gut. Daneben passiert aber auch sehr viel Gutes auf der Welt. Nur, das kommt nicht in die Schlagzeilen. Deshalb bekommen die Menschen vor dem eigenen Nachbarn Angst. Weil man nur das Böse sieht. Oft rate ich meinen Patienten, den Fernseher auszuschalten.
Redaktion: Wie gehen Sie persönlich damit um?Usluoglu: Mein Weg zu leben, ist, den Körper und die Gefühle wahrzunehmen. Wir sind Menschen mit Liebe und Mitgefühl. Klar, wir müssen auch Grenzen setzen, um uns zu schützen.
Namling: Ja, aber nicht Mauern bauen. Und damit meine ich nicht nur physische Mauern, wie Trump zwischen Mexiko und den USA errichten will, sondern auch die Mauern im Kopf. Trumps Mauer zu Mexiko ist überwindbar, nicht aber die Mauer, welche die Religion im Kopf errichtet – die ist beinahe unzerstörbar. Wir müssen herausfinden, wie wir diese Mauer einreissen können.
Redaktion: Zwei Menschen in unserer Runde hier haben diese geistigen Mauern durchbrochen. Herr Erlich, indem er seinen Feinden Zigaretten schenkte. Und Sie, Herr Szabo, indem Sie den Weg der Versöhnung suchten.
Szabo: Ja, das kostete viel Kraft. Aber nichts in meinem Leben hat sich mehr gelohnt als das.
Bundi: Solche Mauern dürfen gar nicht erst entstehen. Ich habe einen zehnjährigen Sohn. Für mich ist wichtig, dass wir als Eltern unseren Kindern Werte mitgeben und eine Ethik vermitteln, die Türen öffnen. Es ist, als ob man einen Stein ins Wasser wirft, der seine Kreise zieht.
Die Redaktoren bedanken sich bei ihren Gästen, die sich nach und nach verabschieden. Erika Radermacher reicht Loten Namling die Hand. Er schaut sie an und meint: «Machen Sie weiter mit der Zauberei». Beide lachen. Auch Nurgül Usluoglu will aufbrechen. Doch sie kommt mit Loten Namling ins Gespräch, setzt sich wieder an den Tisch. Nach etwa zehn Minuten bittet Loten Namling um Ruhe und kündigt ein tibetisches Lied an. Er leide zwar an einer Kehlkopfentzündung, sagt er, und der Arzt habe ihm das Singen untersagt. Trotzdem möchte er eines der Lieder aus den Bergen seiner Heimat vortragen. Er singt und seine kräftige Stimme durchdringt den Saal. Nurgül Usluoglu steht auf, zieht die Schuhe aus, verbeugt sich tief und beginnt einem Drehtanz. Rudolf Szabo schliesst die Augen und hört zu. Text: Christa Amstutz, Marie-Christine Andres, Hannah Einhaus, Katharina Kilchenmann, Jürg Meienberg, Nicola MohlerDieses Gespräch erschien am 26. Oktober 2017 als Beilage von Horizonte als «Dossier zur Woche der Religionen» und als Beilage weiterer kirchlicher Publikationen unter dem Namen «zVisite».
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