Unter­wegs in der mul­ti­kul­tu­rel­len Schweiz

Jona­than Kreut­ner, 37, ist Gene­ral­se­kre­tär des Schwei­ze­ri­schen Israe­li­ti­schen Gemein­de­bun­des und in Zürich aufgewachsen.«Alle mei­ne acht Urgross­el­tern stam­men aus Ost­po­len, sie waren Ost­ju­den – aber in Euro­pa füh­le ich mich aus­ge­rech­net im Osten am wenig­sten daheim. Also dort, wo der geo­gra­phi­sche Ursprung mei­ner Fami­lie liegt. Die Eltern mei­ner Mut­ter waren pol­ni­sche Juden, jene mei­nes Vaters kamen aus Öster­reich. Sie flüch­te­ten 1938 in die Schweiz, als mein Vater ein Jahr alt war. An der Gren­ze wur­den sie von Paul Grü­nin­ger geret­tet.

An vie­len Orten zuhause

Unse­re jüdi­sche Her­kunft war und ist bei uns immer ein The­ma. Mei­ne Fami­li­en­ge­schich­te hat mich auch bereits als Kind inter­es­siert: Woher kom­men wir? Was sind wir? Die Sei­te der Mut­ter habe ich sehr gut gekannt, weil sie selbst vie­les erzähl­te. Von der Geschich­te der Fami­lie mei­nes Vaters hin­ge­gen erfuhr ich kaum etwas.Ich selbst bin in Zürich gebo­ren und auf­ge­wach­sen. Für mich ist hier mei­ne Hei­mat; da, wo ich mich wohl­füh­le. Wo ich mei­nen Lebens­mit­tel­punkt habe. Wo ich auch mit­den­ken und mit­ge­stal­ten kann. Da, wo auch mei­ne Eltern sind – und mei­ne Frau, die aus einer seit Gene­ra­tio­nen schwei­ze­risch-jüdi­schen Fami­lie stammt.Aber selbst wenn mein Lebens­mit­tel­punkt klar in Zürich liegt: Das heisst nicht, dass er sich nicht ver­schie­ben kann. Mir ist ins­ge­samt das euro­pä­isch-kul­tu­rel­le Ver­ständ­nis sehr nah. Ich füh­le mich hier an vie­len Orten zu Hau­se. Frü­her war ich zwar in Deutsch­land und Öster­reich nicht so wohl – das ist ver­mut­lich histo­risch bedingt. Doch das Euro­pä­isch-Jüdi­sche ist für mich das prä­gen­de Ele­ment. Hin­zu kommt aber eine tie­fe Ver­bun­den­heit zu Isra­el. Sigi Feigl hat immer gesagt: Isra­el ist mein Mut­ter­land; für mich stimmt das ganz genau so. Mei­ne Mut­ter war anfangs staa­ten­los und erhielt dann das israe­li­sche Bür­ger­recht. Und ich bin nun Dop­pel­bür­ger Schweiz-Isra­el.

Isra­el ist der emo­tio­na­le Ursprung

Wenn ich nach Isra­el rei­se, ist die Ankunft jeweils etwas ganz Beson­de­res, wie eine Rück­kehr zum emo­tio­na­len Ursprung. Es ist ja auch die­ses klei­ne Fleck­lein Land, in dem die jüdi­sche Geschich­te ihren Anfang genom­men hat. Das trans­por­tiert für mich eine Art Sehn­sucht.Die Reli­gi­on selbst bedeu­tet für mich aber eher Tra­di­ti­on und Iden­ti­tät als Hei­mat. Wenn ich irgend­wo im Aus­land bin, ver­su­che ich mich dort ein­zu­füh­len, zu ver­ste­hen, ich lese mich in die Geschich­te ein. Ich muss nicht über­all ein Fon­due essen gehen, um mich zu Hau­se zu füh­len.

Die Reli­gi­on ver­bin­det alle Juden

Und obwohl ich nicht das Reli­giö­se suche, führt mich der Weg jeweils in die Syn­ago­ge – ein­fach, weil es eben die Reli­gi­on ist, die alle Juden ver­bin­det, auch rein als Begeg­nungs­ort. Viel­leicht ist das auch mei­ne Suche nach Hei­mat.Ich glau­be, wir Juden haben das über Gene­ra­tio­nen hin gelernt: Uns schnell zu inte­grie­ren und dort Teil der Gesell­schaft zu wer­den, wo wir sind. Und dort auch mit­zu­ge­stal­ten. Das Kos­mo­po­li­ti­sche ist uns wich­tig, die ver­schie­de­nen Geschich­ten, die zusam­men­kom­men. Es gibt des­halb nicht eine typi­sche jüdi­sche Bio­gra­phie; immer hat der Ort, wo wir jeweils leben, eine wich­ti­ge Bedeu­tung.

Wir brau­chen nicht viel Integration 

Und im Gan­zen stif­ten unse­re Reli­gi­on und Geschich­te Iden­ti­tät – deren Grund­wer­te tra­gen mit und blei­ben über Gene­ra­tio­nen gleich. Aber die Geset­ze vor Ort ste­hen dar­über. So schaf­fen wir uns vie­ler­orts Hei­mat. Wir brau­chen nicht viel Inte­gra­ti­on.Ich kom­me aber immer auch ger­ne zurück nach Zürich. Ich mag den Anflug über Klo­ten mit den schö­nen Wie­sen und Fel­dern, die Luft, die Sau­ber­keit und das Geord­ne­te. Ich freue mich auf die ver­schie­de­nen Brot­sor­ten, die fri­schen Früch­te. Trotz­dem zählt das für mich nicht unbe­dingt zum Hei­mat­ge­fühl – ich glau­be, das ist viel­mehr… Das ist schlicht und ein­fach Gewohnheit.»
Andreas C. Müller
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