Unsere eigene Welt

Unsere eigene Welt

Es ist Som­mer­lager-Zeit! In der Schweiz find­en jedes Jahr über 400 Lager im Rah­men von Jung­wacht Blau­r­ing (Jubla) statt, ein Grossteil davon sind Som­mer­lager. Ob im Lager­haus oder im Zelt, bei Son­nen­schein oder im Schlamm: die Tage und Wochen im «Sola» zählen zu den schön­sten im Leben eines Jubla-Mit­glieds. Was passiert in einem Sola? Und was hat sich über die Jahre geän­dert? Hor­i­zonte auf der Pirsch über die Lager­plätze.Es raschelt im Wald. Zwölf Kinder ver­har­ren ruhig in ihren Schlaf­säck­en und spitzen die Ohren. «Sich­er ein Wild­schwein!», flüstert ein­er, schwank­end zwis­chen Neugi­er und Furcht. Solche Szenen stellt man sich vor, wenn man dem Präs­es der Jubla Schötz beim Erzählen zuhört. Beat Keller ist The­ologe und arbeit­et als Kat­e­chet und kirch­lich­er Jugen­dar­beit­er im luzernischen Schötz. Mit der Jubla Schötz weilt er im Moment im Aar­gau, auf ein­er Wald­wiese ober­halb von Herz­nach ver­bringt die Schar ihr zwei­wöchiges Som­mer­lager. Schon im Vor­feld des Lagers hät­ten sich Kinder und Leit­er erzählt, dass es in Herz­nach Wild­schweine gebe. Das beein­druck­ende Tier ist in Schötz wegen der Auto­bahn A1, die ein Hin­der­nis bildet, noch recht sel­ten anzutr­e­f­fen. Bei jedem Rascheln im Wald ver­muteten die Kinder nun deshalb ein Wild­schwein, erk­lärt Beat Keller schmun­zel­nd.Ster­nen­him­mel und Freiluft­dusche Aber auch falls sich in Herz­nach in den näch­sten Tagen kein Wild­schwein blick­en lässt, sind die Lagertage und ‑nächte voller Erleb­nisse für die 65 Mäd­chen und Jun­gen und die 35 Lei­t­erin­nen und Leit­er. Die Abende unter dem som­mer­lichen Ster­nen­him­mel, die Freiluft­dusche im Wald oder das Sin­gen und Erzählen am Lager­feuer bleiben in Erin­nerung, nicht sel­ten ein Leben lang. Das Som­mer­lager ist eine eigene Welt. «Die beste Zeit» oder «die schön­sten Wochen» im Jahr, sagen Leit­erteam und Kinder oft, wenn sie von der Zeit im Som­mer­lager sprechen. Beim Zusam­men­sein mit den Fre­un­den und Fre­undin­nen draussen in der Natur rückt der gewohnte All­t­ag in weite Ferne. Die «Aussen­welt», wenn man so will, ver­liert für eine Weile an Bedeu­tung. Auch Präs­es Beat Keller hat beobachtet: «Kinder, die zusam­men im Sola waren, haben nach­her eine stärkere Verbindung untere­inan­der.»Ausser­halb von Zeit und Raum Das Zusam­menge­hörigkeits­ge­fühl ergibt sich durch die gemein­samen Erleb­nisse, von denen viele ganz neben­bei stat­tfind­en. Der Zusam­men­halt wird aber auch gestärkt durch die Abgren­zung gegen Aussen. Wer im Som­mer­lager ist, lebt gewis­ser­massen auss­er Zeit und Raum. Das Lager-Mot­to gibt den Span­nungs­bo­gen vor und ver­lei­ht der Sola-Welt Struk­tur. Die Schar weilt nicht ein­fach eine oder zwei Wochen im Lager, son­dern löst einen Krim­i­nal­fall, sucht einen Schatz oder beg­ibt sich auf eine vierzehn­tägige Wel­treise. Häu­fig gehört zum Mot­to auch ein Lager­song, den das Leit­erteam speziell für das Lager dichtet – manch­mal gar sel­ber kom­poniert. Beat Keller weiss von seinen Leit­ern, dass sie nach der Fas­nacht jew­eils nach aus­ge­musterten Kostü­men und Req­ui­siten Auss­chau hal­ten, die sie dann ins Lager mit­nehmen. Die Verklei­dungskiste ist vielle­icht nicht über­all so gut bestückt wie bei der Jubla Schötz, zur fes­ten Aus­rüs­tung gehört sie aber bei vie­len Scharen.Weg mit der Uhr! «Grimm und Co.» lautet das Mot­to der Jubla Schötz dieses Jahr. Auf dem Lager­platz ste­ht ein hoher Turm. Zuoberst hängt ein Perück­en-Zopf. Jeden Tag ein neues Märchen, zwei Wochen in ein­er Märchen­welt. Instink­tiv wis­sen die Scharen, dass diese ganz eigene Lager­welt vor Ein­flüssen der Aussen­welt geschützt wer­den muss. Besuche von Ver­wandten und Bekan­nten wür­den das Pro­gramm stören und wer­den, wenn über­haupt, nur am Besuch­stag zuge­lassen. Eben­falls seit den Anfän­gen haben die Leitung­steams ver­sucht, zu starke Tech­nisierung von ihrer Sola-Welt fernzuhal­ten. Mehrere ehe­ma­lige Jubla-Leute bericht­en, dass sie schon vor vierzig Jahren bei der Anreise ihre Uhren abgeben mussten.Vom VW-Büssli zum Sat­telschlep­per Ein heute 60-jähriger ehe­ma­liger Jung­wächter erin­nert sich, wie er als Zwanzigjähriger ins Sola fuhr: «Unser gesamtes Lager­ma­te­r­i­al hat­te in einem VW-Büssli Platz. Leit­er und Kinder kamen unge­fähr gle­ichzeit­ig auf dem leeren Platz an und errichteten gemein­sam das Lager.» Vierzig Jahre später: Einige Leit­er der Jubla Schötz trafen bere­its am Mittwoch vor Lager­be­ginn in Herz­nach ein. Ihnen fol­gte ein Sat­telschlep­per mit Lager­ma­te­r­i­al. In drei Tagen erstell­ten die Leit­er, von denen viele handw­erk­liche Berufe ler­nen, die Grup­pe­nun­terkün­fte aus Hol­zlat­ten, Schalltafeln und Blachen sowie eine WC-Grube, ein wasserdicht­es Festzelt für die Mahlzeit­en, eine Dusche mit Durch­laufer­hitzer und Garder­obe sowie eine weitläu­fige Küche mit einigem Kom­fort. Einen Bag­ger und sog­ar einen kleinen Trak­tor bracht­en die Leit­er auf den Platz.Bezug zur Natur fördern Die Wald­wiese in Herz­nach gehört Land­wirt Patrick Gasser, der auf dem nahen Eich­hof wohnt und arbeit­et. Angst, dass die Jubla Schötz mit ihrem «Bag­ger­li» seine schmucke Wiese zer­stört, hat er nicht. «Es gibt einen Ver­trag, der ganz klar definiert, was man bauen darf und was nicht.» Beim Löcher­graben müssen die Gäste den Humus bei­seite leg­en, vor der Abreise wieder ein­füllen und die Gras­narbe darauf­set­zen. Seit vier Jahren ver­mi­etet Patrick Gasser seine Wiese, inzwis­chen hat er etwa 12 bis 15 Lager erlebt – und mehrheitlich gute Erfahrun­gen gemacht. «Die Lager passen gut zu unserem agro­touris­tis­chen Ange­bot auf dem Hof», sagt er. Auf dem Eich­hof kön­nen Touris­ten im Stroh schlafen oder campieren. Für die Wiese bezahlen die Scharen 750 Franken pro Woche. Damit kann Patrick Gasser den Fut­ter­ver­lust und den Arbeit­saufwand deck­en, reich wird er nicht. Und doch ver­mi­etet er den Platz gerne: «Beim ‚Schlafen im Stroh’ begeg­ne ich Kindern, die zur Natur über­haupt keinen Bezug mehr haben. Deshalb unter­stütze ich die Kinder und Jugendlichen, die draussen etwas unternehmen und werken.»Vom Autotele­fon zur Wan­der-App In ein­er Ecke der Werk­statt hat Patrick Gasser zehn Steck­dosen: «Das ist die Ecke zum Handy-Aufladen, die von den Lei­t­erin­nen und Leit­ern rege genutzt wird.» sagt er. Das Handy im Sola ist Fluch und Segen. Ein Blick zurück auf die Neun­ziger­jahre macht bewusst, wie ras­ant sich die tech­nis­che Entwick­lung in diesem Bere­ich vol­l­zog. Ein ehe­ma­liger Jung­wachtleit­er erzählt: «Als wir im Jahr 1996 zum ersten Mal ein so genan­ntes ‚Autotele­fon’ ins Lager mitschleppten, hat­te diese Kiste prak­tisch nir­gends Emp­fang. Zum Tele­fonieren mussten wir weit vom Lager­platz wegge­hen.» In noch früheren Zeit­en, ohne Handy, gin­gen die Leit­er zum näch­sten Bauern­hof oder ins Dorf, um jeman­den anzu­rufen. Dies tat man natür­lich nur im Not­fall, wie die Anek­dote eines ehe­ma­li­gen Leit­ers zeigt: Seine Schar ver­mis­ste mehr als zwei Tage lang zwei Leit­er. Erst der Anruf bei der Polizei brachte Klarheit: Die bei­den waren betrunk­en mit gestohle­nen Ves­pas erwis­cht wor­den und im Gefäng­nis gelandet. «Heute würde man via SMS sofort informiert, damals macht­en wir uns aber ern­sthaft Sor­gen um die zwei Ver­mis­sten.» Vor allem auch in medi­zinis­chen Not­fällen ist man gegenüber früher mit dem Handy entsch­ieden bess­er gerüstet. Das betont auch Clau­dio Spescha als Vertreter von Jung­wacht Blau­r­ing Schweiz: «Inner­halb des Not­fal­lkonzepts ein­er Schar spielt das Handy eine wichtige Rolle».Strom gehört zur Grund­ver­sorgung Während die Daheimge­bliebe­nen noch vor zwanzig Jahren höch­stens eine Fes­t­netz-Tele­fon­num­mer beka­men, wo sie während gewiss­er Tageszeit­en jeman­den vom Leitung­steam erre­ichen kon­nten, erhal­ten Eltern heute Lager-Infos via Blog und Face­book, oder sie kön­nen im What­sApp-Chat ihre bren­nen­den Fra­gen stellen. Heute gibt es prak­tisch auf jedem Lager­platz eine Möglichkeit, an Strom zu kom­men. Wer keine Kabel ziehen will und keine Steck­dose beim nahen Bauer benutzen kann, nimmt einen Strom-Gen­er­a­tor mit. Diese sind im Gegen­satz zu früher rel­a­tiv gün­stig. «Dass ein Lager­platz mit Strom ver­sorgt ist, ist heute nor­mal», erk­lärt ein ehe­ma­liger Leit­er, und zieht den Ver­gle­ich: «Wenn heute ein Zim­mer kein WLAN hat, gilt das ja auch als schlecht­es Hotel.»Sola-Welt wird durch­läs­siger Die verbesserte Erre­ich­barkeit macht die geschützte Sola-Welt durch­läs­siger. Die Eltern sind stärk­er im Lager präsent. «Die Kinder wer­den dadurch immer wieder aus ihrer Lager­welt, ihrer Gruppe her­aus­geris­sen – das typ­is­che Lager­leben ver­liert an Reiz.», find­et ein ehe­ma­liger Scharleit­er. Es gibt Scharen, die gegenüber Handys eine lib­erale Hal­tung zeigen und sich darauf ver­lassen, dass nach etwa zwei Tagen der Akku sowieso leer ist und sich das Prob­lem von sel­ber erledigt. Meist aber wer­den Eltern und Kinder bei der Anmel­dung zum Lager über den Umgang mit Smart­phone und Co. informiert und darauf hingewiesen, dass der Gebrauch uner­wün­scht ist. «Es gibt sich­er einige Scharen, die im Som­mer­lager bewusst abschal­ten wollen», ver­mutet Clau­dio Spescha von Jung­wacht Blau­r­ing Schweiz. Obwohl Präs­es Beat Keller berichtet, dass viele Leit­er nicht mit Karte, son­dern mit Hil­fe der Nav­i­ga­tions­funk­tion ihres Handys wan­dern gehen, hat das Karten­le­sen noch nicht aus­ge­di­ent. Nach Auskun­ft von Jung­wacht Blau­r­ing Schweiz basieren die Wan­derun­gen, die von einem soge­nan­nten «Coach» im Voraus genehmigt wer­den müssen, auf der Lan­deskarte im Massstab 1:25 000 und auf ein­er tra­di­tionellen Marschta­belle. Auch wenn diese seit einiger Zeit bequem als Excel-Tabelle erstellt wer­den kann.          
Marie-Christine Andres Schürch
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