Syri­en: Flücht­lings­jun­ge kämpft um sei­ne Zukunft

Syri­en: Flücht­lings­jun­ge kämpft um sei­ne Zukunft

  • Der syri­sche Krieg erfor­dert auch von den Nach­bar­län­dern enor­me Kraft­ak­te. Inner­halb von weni­gen Jah­ren wur­den 250’000 syri­sche Kin­der im Liba­non eingeschult.
  • Cari­tas unter­stützt Flücht­lings­fa­mi­li­en im Liba­non, aber auch ein Pro­jekt für Stütz­un­ter­richt, mit des­sen Hil­fe sich Flücht­lings­kin­der ins liba­ne­si­sche Schul­sy­stem inte­grie­ren können.
 Bil­al war gera­de mal fünf Jah­re alt, als sei­ne Fami­lie auf­grund des Krie­ges der Stadt Hassa­ke im Nord­osten Syri­ens den Rücken kehr­te und in Bei­rut, der Haupt­stadt des Liba­nons, Zuflucht such­te. Dass die Fami­lie Syri­en so schnell nach Aus­bruch des Kon­flikts ver­las­sen konn­te, war mög­lich, weil der Vater bereits vor dem Krieg regel­mäs­sig in Bei­rut auf dem Bau gear­bei­tet hat­te.

300 Dol­lar monat­lich für eine drecki­ge, feuch­te Wohnung

Als die Lage in der syri­schen Hei­mat 2012 immer brenz­li­ger wur­de, liess sich die gan­ze Fami­lie im Nor­den der liba­ne­si­schen Haupt­stadt nie­der. Dort, im neu­en und stark bevöl­ker­ten Quar­tier «Bir Hassan», des­sen enges Gas­sen­ge­flecht sich stän­dig ver­än­dert, fan­den über die Jah­re sehr vie­le syri­sche Flücht­lin­ge Zuflucht. Gemäss Behör­den­an­ga­ben sind es rund 1,5 Mil­lio­nen – also 16,7 Pro­zent der syri­schen Bevöl­ke­rung. Offi­zi­ell regi­striert durch das UNHCR waren zu Anfang die­ses Jah­res 946’000 Per­so­nen.Solan­ge Bil­als Vater Ismaïl Arbeit hat­te, lief alles rela­tiv gut. Doch dann bekam die­ser Gesund­heits­pro­ble­me. Wegen sei­ner kran­ken Nie­ren fand er kei­ne Stel­le mehr auf dem Bau. Mit vier Kin­dern konn­te sich die Fami­lie kaum mehr über Was­ser hal­ten. Mut­ter Ami­ra ver­such­te, das kläg­li­che Fami­li­en­ein­kom­men als Putz­frau auf­zu­bes­sern. Eini­ge Jah­re lang erhielt die Fami­lie zudem finan­zi­el­le Unter­stüt­zung vom Flücht­lings­kom­mis­sa­ri­at der Ver­ein­ten Natio­nen (UNHCR), aber die­se Hil­fe lief aus.Ismaïls Fami­lie lebt mitt­ler­wei­le in einer eben­erdi­gen Drei­zim­mer-Woh­nung. Die Stras­se vor der kal­ten und feuch­ten Woh­nung ist vol­ler Schlamm. Um die 300 Dol­lar Mie­te im Monat bezah­len zu kön­nen, muss sich die Fami­lie ver­schul­den.

Bil­als gröss­ter Wunsch: Ein Fahrrad

Bil­al, der wegen des Krie­ges und der Flucht Lücken in sei­ner Schul­zeit hat­te, ver­sucht mit sehr viel Ein­satz, die feh­len­den Kennt­nis­se auf­zu­ho­len. Er besucht die Schu­le «Omar Fak­hou­ry» im Quar­tier «Jnah». Bil­al ist ein fein­glied­ri­ger und zurück­hal­ten­der Jun­ge. «Ara­bisch ist mein Lieb­lings­fach», sagt er und ergänzt: «Alle beschei­ni­gen mir gros­se Fort­schrit­te».Bil­als gröss­ter Wunsch: «Ich hät­te gern ein Fahr­rad», sagt er mit einem Lächeln und Schalk in den Augen. Doch dann ver­schwin­det das Lächeln jäh aus sei­nem Gesicht: «Als die Kämp­fe aus­bra­chen, wur­de alles sehr schwie­rig», erzählt er. Erin­nert er sich wirk­lich? Oder hat er ver­in­ner­licht, was in der Fami­lie erzählt wird? Vie­len syri­schen Kin­dern ist deut­lich anzu­mer­ken, wie trau­ma­ti­siert sie sind.

Cari­tas-Geld für die Schuldensanierung

In «Zah­le», der Ebe­ne von Bekaa, kämpft die 24-jäh­ri­ge Mazz­in für den Schul­be­such ihrer Nich­te und ihres Nef­fen. Seit­dem ihr Mann vor eini­gen Mona­ten nach Syri­en zurück­kehr­te, hat sie nichts mehr von ihm gehört. Sie lebt in einer soge­nann­ten «infor­mel­len Ein­rich­tung», einem Lager aus not­dürf­tig mit Holz­bret­tern abge­stütz­ten Zelt­pla­nen auf einem Stück Erde. Den Boden hat Mazz­in mit zwei wei­te­ren Fami­li­en vom Grund­stücks­be­sit­zer gemie­tet. Im Win­ter ist das Grund­stück vol­ler Schlamm und jeder Schritt wird zur Gefahr. Mazz­in küm­mert sich zudem um die Kin­der ihres Bru­ders, dem es gesund­heit­lich zu schlecht geht, um sei­ne Kin­der selbst gross zu zie­hen.Mazz­in erhält seit fünf Jah­ren eine finan­zi­el­le Unter­stüt­zung von Cari­tas. Dadurch kann sie einen Teil ihrer Schul­den zurück­zah­len und eine Aus­bil­dung zur Schnei­de­rin und Fri­sö­rin machen. Die Unter­stüt­zung der Cari­tas hilft ihr auch, ihrem Nef­fen und ihrer Nich­te den Schul­be­such zu ermög­li­chen. Aber den Gross­teil des Gel­des wird sie für Essen und Medi­ka­men­te aus­ge­ben. Eine sol­che Not­hil­fe, die die Emp­fän­ger mit einer Bank­kar­te an einem Geld­au­to­ma­ten bezie­hen kön­nen, ver­hin­dert, dass Fami­li­en immer tie­fer in die Schul­den­fal­le gera­ten.

Nur die Hälf­te besucht den Unterricht

Die Zahl der schul­pflich­ti­gen syri­schen Kin­der im Liba­non wird auf 500’000 geschätzt, 250’000 sind ein­ge­schult. Um sei­ne feh­len­den Schul­kennt­nis­se auf­zu­ho­len, besucht Bil­al jeden Tag zusätz­lich Stütz­un­ter­richt. Rund 4’600 syri­sche und liba­ne­si­sche Kin­der besu­chen die­se Kur­se. Die liba­ne­si­schen Behör­den ord­nen die­se Kur­se an und bestim­men das Anfor­de­rungs­pro­fil mit dem Ziel, die Inte­gra­ti­on der Kin­der in das regu­lä­re Schul­sy­stem zu för­dern. «Gera­de Schü­ler mit Lern­schwie­rig­kei­ten und auch sozia­len Pro­ble­men sind die Ziel­grup­pe die­ser Stütz­kur­se», erklärt Abbas Hawil­le, Bil­als Ara­bisch­leh­rer.

Auch die Eltern wer­den einbezogen

Auch die Eltern der syri­schen und liba­ne­si­schen Kin­der wer­den in regel­mäs­si­gen Sit­zun­gen in das Pro­jekt ein­be­zo­gen. Der Gross­teil der Eltern nimmt an die­sen Sit­zun­gen teil. Somit unter­stützt das Pro­jekt nicht nur die Kin­der, son­dern auch die Eltern und das gesam­te liba­ne­si­sche Schulsystem.
Andreas C. Müller
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