Stille auf dem Abstellgleis

Stille auf dem Abstellgleis

Ijob 7,1–4.6–7Ijob ergriff das Wort und sprach: Ist nicht Kriegs­di­enst des Men­schen Leben auf der ­Erde? Sind nicht seine Tage die eines Tagelöh­n­ers? Wie ein Knecht ist er, der nach Schat­ten lechzt, wie ein Tagelöh­n­er, der auf den Lohn wartet. So wur­den Monde voll Ent­täuschung mein Erbe und Nächte voller Müh­sal teilte man mir zu. Lege ich mich nieder, sage ich: Wann darf ich auf­stehn? Wird es Abend, bin ich gesät­tigt mit Unrast, bis es däm­mert. Schneller als das Weber­schif­fchen eilen meine Tage, der Faden geht aus, sie schwinden dahin. Denk daran, dass mein Leben nur ein Hauch ist. Nie mehr schaut mein Auge Glück.Ein­heit­süber­set­zung 

Stille auf dem Abstellgleis

Mor­gens früh auf dem Abstell­gleis. Frisch und munter, am Anfang eines neuen Jahres, bin ich früher als son­st auf dem Weg zur Arbeit. Ich steige in die S‑Bahn auf dem immer gle­ichen Gleis. Keine Leute im Zug? Da ich ja die Stille liebe – sie ist meine Fre­undin gewor­den –, kann es mir nur recht sein. Der Zug fährt langsam an – aber in die falsche Rich­tung! In Rich­tung Olten? Ich muss nach Lenzburg. Dann gibt es zwis­chen Aarau und Schö­nen­werd einen Ruck. Nichts mehr. Der Zugführer und sein Begleit­er kom­men nach vorne: «Was machen Sie denn da?» Sie hät­ten doch eben die Leute aus dem Zug geschickt. In 30 Minuten fahre der Zug wieder Rich­tung Aarau. Ich solle ja nicht aussteigen, weil die Züge mit 140 Kilo­me­ter pro Stunde vor­beifahren! Auf diese Idee wäre ich gar nicht gekom­men, denn ich bin nicht mehr die Jüng­ste. Dann sitze ich da. Draussen noch Nacht. Ich lehnte mich zurück. Zuerst Ärg­er, dann kehrte Stille ein. Nur vor­beirasende Züge mal rechts, mal links vom Abstell­gleis.Ich bin beein­druckt von der Eile der Züge und ich mit­ten­drin. Nur Ruhe. Nichts mehr. Mein mor­gendlich­er Schwung wurde plöt­zlich abge­bremst. Ich kann nichts mehr bee­in­flussen. Und so sind für mich die vor­beirasenden Züge – mal links, mal rechts – wie «das Weber­schif­fchen», welch­es beim Weben hin und her schnellt – so lesen wir im Buch des Ijob. Beim Ste­hen­bleiben und Nicht­stun wird mir bewusst, wie schnell die Zeit vor­beieilt, die Zeit meines Lebens. Und sie scheint immer schneller zu eilen. Und die Fra­gen kom­men, wie: Was ist im Leben gelun­gen? Was fehlte? Was machte mich glück­lich? Was mache ich mit den Ent­täuschun­gen?Ijob, der alles hat­te, er war reich an materiellen Gütern, reich an Beziehun­gen, reich an Freude, reich an Gesund­heit und reich vor allem durch die Fre­und­schaft mit Gott. Er hat­te dies alles ver­loren auss­er dem nack­ten Über­leben. Man sagt auch, er hat­te nichts mehr als sein Hemd auf dem Leib. Ijob erfuhr Schimpf und Schande. Er klagte und haderte in Nacht und Not. Aber Ijob liess sich nicht run­terkriegen, er blieb dran, bis er im Nichts seinen Gott wieder­ent­deck­te, seine Fre­und­schaft und die Gewis­sheit aus der dunkel­sten Tiefe «Doch ich, ich weiss: mein Erlös­er lebt» (Ijob 19,25).Wenn das Leben nur Eile wäre, nur Kämpfen, nur Denken im Fre­und- und Feind­schema, nur Erhaschen des Glücks, nur Gewin­nen und Ver­lieren – das ist es alles auch – würde unserem Dasein die Puste aus­ge­hen. Hie und da wür­den wir, wenn es hochkommt, vielle­icht Gott kla­gen: «Herr, du hast dich geir­rt, als du mir dies oder jenes geschehen liess­est.»Eine mögliche Lösung und Erlö­sung ist die der Dankbarkeit für das, was war. Nach und nach scheint mir das Danken ein Ausweg zu sein, aus den Wider­stän­den gegenüber dem Wider­fahre­nen her­auszukom­men. Wenn Ent­täuschung über­wiegen würde, ist diese aus men­schlich­er Kraft nicht wegzublasen und «wegzufühlen». Die Ent­täuschun­gen des Lebens kön­nen wir vielle­icht der «Mut­ter Erde» übergeben oder dem Gott, zu dem Ijob geschrien hat.Vielle­icht find­en wir, wenn die Eile an uns vor­beisaust, Sekun­den und Minuten der Stille und des Friedens in uns selb­st mit allem Drum und Dran.Anna-Marie Fürst, The­olo­gin, arbeit­et in der Gefäng­nis­seel­sorge und in der Seel­sorge für Men­schen mit Behin­derung in den Kan­to­nen Aar­gau, Basel-Stadt und Zug
Redaktion Lichtblick
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