Sich dem Leid stellen
Bischof Felix Gmür beim Interview am Bischofssitz in Solothurn, August 2024
© Christoph Wider

Sich dem Leid stellen

Bischof Felix Gmür gibt Auskunft über den Stand der Umsetzung der Massnahmen gegen den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz. Die Resultate der ­kanonischen Voruntersuchung gegen die Bischöfe kennt auch er nicht, will sich aber für eine schnelle Antwort aus Rom einsetzen.


Seit der Präsen­ta­tion der Miss­brauchsstudie ist ein Jahr ver­gan­gen. Was waren damals Ihre Gedanken?

Bischof Felix Gmür: Es ist sehr schlimm, was da alles passiert ist, und zwar wegen der betrof­fe­nen Men­schen, weil da so viel Ver­trauen miss­braucht wurde. Wir müssen das erstens aufar­beit­en und uns dem Leid der Betrof­fe­nen stellen. Und zweit­ens müssen wir alle nur möglichen Schritte unternehmen, dass das nicht wieder vorkom­men kann.

Welche Mass­nah­men kon­nten Sie inzwis­chen umset­zen? Welche Fortschritte wur­den erre­icht?

Wir haben fünf Mass­nah­men beschlossen. Erstens geht es um die pro­fes­sionelle Opfer­ber­atung. Da sind wir mit den kan­tonalen ­Opfer­ber­atungsstellen im Kon­takt. Wir sind dabei, das zu final­isieren. Das erfordert viel Kom­mu­nika­tion. Anfang 2025 gibt es dazu Infor­ma­tio­nen. Es geht darum, dass es in allen Sprachre­gio­nen wirk­lich unab­hängige Anlauf­stellen gibt. Diese Stellen sind für die ­Betrof­fe­nen und für Ange­hörige. Die Mel­dun­gen wer­den weit­er­hin in den jew­eili­gen ­Bistümern, Lan­deskirchen oder Ordens­ge­mein­schaften bear­beit­et, wenn die betrof­fe­nen Per­so­n­en das wollen. Eine Per­son hat auch das Recht, dass es nicht zu ein­er Anzeige kommt, wenn sie das so wün­scht. Die staatlichen Opfer­ber­atungsstellen sind ja die einzi­gen Stellen, die keine Anzeigepflicht haben, kirch­liche und andere staatliche Stellen hinge­gen schon. Das garantiert den Betrof­fe­nen absolute Unab­hängigkeit.

Unab­hängige Anlauf­stellen für Miss­brauchs­be­trof­fene sind aufge­gleist

In ein­er ausseror­dentlichen Ver­samm­lung am 4. Sep­tem­ber hat die Römisch-Katholis­che Zen­tralkon­ferenz (RKZ) die Finanzierung von Fall­pauschalen an die unab­hängi­gen Opfer­ber­atungsstellen der Kan­tone beschlossen. Damit ist eine der fünf Mass­nah­men umge­set­zt.

Und weit­er?

Zweit­ens geht es um die psy­chol­o­gis­che ­Abklärung von kün­fti­gen Seel­sorg­ern und Seel­sorg­erin­nen. Da arbeit­en wir mit ein­er Stelle zusam­men, die Assess­ments macht für Kader­leute. Hier müssen wir noch abklären, was die speziellen Erfordernisse im kirch­lichen ­Bere­ich sind. Ich rechne damit, dass diese Mass­nahme auf das Stu­di­en­jahr 2025/26 einge­führt wer­den kann. Auch das ist kom­plex, denn die Abklärung ist sehr unter­schiedlich, je nach­dem, ob es um jün­gere oder ältere Bewer­berin­nen und Bewer­ber geht. Wichtig ist für uns: Erst wenn die Qual­ität passt, kann die Mass­nahme umge­set­zt wer­den.

Drit­tens?

Wir haben bei den Per­son­al­dossiers klare Stan­dards einge­führt. Da geht es auch darum, dass Schu­lun­gen entwick­elt wer­den kön­nen. Es geht ja nicht nur um die Per­son­al­dossiers in den Bistümern, auch jede Kirchge­meinde hat ihre Unter­la­gen. Die Selb­stverpflich­tung, keine Akten zu ver­nicht­en, die mit Miss­brauch zu tun haben, haben inzwis­chen alle Bistümer, die Pfar­reien, fast alle Lan­deskirchen und die Ordens­ge­mein­schaften unter­schrieben.

Viertens?

Beim Strafgericht, ich war mit Bischof Joseph Maria beim Papst, warten wir noch auf die Antwort aus Rom, dann kön­nen wir das desig­nen.

Und die fün­fte Mass­nahme?

Die weit­er­führende Forschung bis 2026 haben wir auch beschlossen. Es geht weit­er, und zwar kon­tinuier­lich. Wenn Ver­bände und andere Insti­tu­tio­nen beteiligt sind, dann muss man eben immer wieder auf Antwort und Fortschritte warten, und das dauert dann seine Zeit.

Was hat sich im Bis­tum Basel verän­dert?

Wir haben die Behand­lung der Mel­dun­gen von Miss­brauchsvor­wür­fen vere­in­heitlicht und stan­dar­d­isiert. Jede Mel­dung geht an eine ­externe unab­hängige Koor­di­na­tion­sper­son. Wenn zum Beispiel eine Pas­toral­raum­lei­t­erin uns etwas meldet, leit­en wir das sofort weit­er. Auch die Forscherin­nen haben jed­erzeit Zugriff auf diese Unter­la­gen, und die Ergeb­nisse wer­den regelmäs­sig kom­mu­niziert. Bei den neueren Fällen gibt es glück­licher­weise keine sehr schlim­men Über­griffe. Eine Verge­wal­ti­gung, das ist ja klar, da geht man zur Polizei. Das hat­ten wir Gott­sei­dank bei den neueren Mel­dun­gen nicht mehr.

Da geschieht also sehr viel. Gle­ichzeit­ig passieren immer wieder Fälle, wie die Ver­haf­tung eines Tessin­er Jugend­seel­sorg­ers Anfang August. Obwohl das Bis­tum mit den Behör­den voll kooperiert, entste­ht der Ein­druck: Schon wieder Miss­brauch in der Kirche! Ist das nicht ein Kampf gegen Wind­mühlen?

Das ist eine Katas­tro­phe. Der Admin­is­tra­tor Bischof Alain de Rae­my war wirk­lich schock­iert, es sind alle schock­iert. Zugle­ich habe ich gele­sen, dass in der Ostschweiz ein Lehrer mit ein­er 15-jähri­gen Schü­lerin in die Ferien fährt. Wie kann das heute noch passieren? Ich kann auch nicht die Hand ins Feuer leg­en, dass nichts passiert. Das kann ich nicht. Die Men­schen sind, wie sie sind. Aber wenn etwas passiert und wir erfahren davon, dann wird sofort Anzeige erstat­tet und das funk­tion­iert gut.

Bischof Felix Gmür gewährt den Deutschschweiz­er Pfar­rblät­ter jährlich ein gross­es Inter­view. Bild © Christoph Wider

Wie haben Sie den Kon­takt mit Miss­brauchs­be­trof­fe­nen erlebt?

Die ganze Bischof­skon­ferenz hat­te Kon­takt mit Vertreterin­nen und Vertretern der Betrof­fe­nen. Das hat wirk­lich die Wahrnehmung verän­dert. Die Schilderun­gen ein­er betrof­fe­nen Per­son machen auch mich als Zuhör­er zu ein­er Art Mit­be­trof­fen­em. Das hat alle sehr mitgenom­men. Auch im Basler Bischof­s­rat hat­ten wir einen Aus­tausch mit Betroffenen­organisationen. Die Leute aus dem Bischof­s­rat haben damals in Dels­berg wirk­lich nach Worten gerun­gen, um ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrer Betrof­fen­heit Aus­druck zu ver­lei­hen. Das Ver­brechen bekommt ein Gesicht, wenn man mit Betrof­fe­nen redet. Und das verän­dert, indem man bess­er wahrnehmen kann, was das in diesen Leuten zer­stört hat, auch wenn man das nie richtig nachvol­lziehen kann. Aber ich kann etwas von der tiefen Ver­let­zung spüren.

Und diese Ver­let­zung wird jet­zt auf allen Ebe­nen herange­lassen?

Es wird zuge­lassen. Und das inspiri­ert auch zum Han­deln. Aber es ist auch schwierig, solche Geschicht­en zu hören, das sagen auch die Juristin­nen. Das lässt einen ja nicht kalt. Ich nehme an, dass es Staat­san­wäl­ten ähn­lich geht. Wir ken­nen das ja aus der Seel­sorge, dass einen Einzelschick­sale sehr mit­nehmen kön­nen.

Bischof Bon­nemain hat Anfang des ­Jahres die Ergeb­nisse ein­er kanon­is­chen Vorun­ter­suchung an das Dikas­teri­um für die Bis­chöfe in Rom ein­gere­icht. Es ging dabei um Vor­würfe gegen emer­i­tierte und amtierende Mit­glieder der Schweiz­er Bischof­skon­ferenz, nicht adäquat mit Fällen sex­uellen Miss­brauchs umge­gan­gen zu sein. Was ist der Stand der Dinge?

Zuständig ist das Dikas­teri­um für die Bis­chöfe – und ich weiss nichts. Ich habe gestern noch Bischof Bon­nemain gefragt – er weiss auch nichts.

An wen wird die Antwort gehen?

Auch das wis­sen wir nicht. Sich­er wird die Antwort an jene gehen, gegen die sich die Vor­würfe richt­en.

Das mut­massen Sie jet­zt?

Ja, ich nehme es an. Und ich nehme an, dass die Antwort über die Nun­tiatur kom­men wird. Ich hoffe ausser­dem, dass die einge­hende Antwort dann ger­ade alle unter­sucht­en Fälle behan­deln wird. Ich habe sel­ber nach Rom geschrieben und gesagt, wir brauchen jet­zt die Resul­tate.

Sie haben in Rom nachge­hakt?

Ja, als Präsi­dent der Bischof­skon­ferenz habe ich Ende Juni in dieser Sache nach Rom geschrieben.

Haben Sie Antwort erhal­ten?

Nein, es kam noch keine Antwort. Sie sind jet­zt aber auch in den Ferien. Aber sie wis­sen es. Sie haben eben auch viele, viele Akten zu bear­beit­en.

Sobald die Antwort da ist: Wird sie öffentlich gemacht?

Das wird sich­er öffentlich gemacht.

Von wem?

Das weiss ich nicht. Es ist das im Grunde auch keine Angele­gen­heit der Bischof­skon­ferenz. Aber es ist für mich klar, dass es kom­mu­niziert wer­den muss. Die Men­schen warten darauf, sie haben auch ein Recht sowie ein Inter­esse zu wis­sen: War da jet­zt etwas oder war da nichts.

Falls keine Antwort kommt, wür­den Sie nochmals nach­hak­en?

Ich bin ja im Okto­ber in Rom, da kön­nte ich nach­hak­en. Ich weiss vom zuständi­gen Erzbischof, dass in seinem Dikas­teri­um genau gear­beit­et wird. Das finde ich kor­rekt so. Das braucht eben auch seine Zeit.

Veronika Jehle und Klaus Gasperi
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