Sexualmoral ist keine Kernkompetenz der Kirche

Sexualmoral ist keine Kernkompetenz der Kirche

  • Als Präsi­dent der Schweiz­er Bischof­skon­ferenz nahm Bischof Felix Gmür am Anti-Miss­brauchs­gipfel in Rom teil.
  • Im Inter­view spricht er über die Ergeb­nisse des Gipfels, wie man Klerikalis­mus begeg­nen kann und warum sich die Kirche beim The­ma Sex­u­al­ität eher zurück­hal­ten sollte.
Auf die katholis­che Kirche pras­selt eine Law­ine von Bericht­en über schw­er­wiegende Miss­brauchs­fälle weltweit here­in. Wie geht es den kirch­lichen Mitar­bei­t­en­den im Bis­tum Basel damit? Felix Gmür: Es ist für sie eine grosse Belas­tung­sprobe, vor allem weil man nicht vergessen darf, dass die aller­meis­ten Seel­sorg­erin­nen und Seel­sorg­er wirk­lich eine sehr gute Arbeit machen und dass es um ein paar wenige Aus­reiss­er geht, vor allem aus früheren Zeit­en. Sie sehen sich diesem The­ma aus­ge­set­zt, wo sie doch alle — nach meinem Wis­sens­stand — kor­rekt han­deln.Vor kurzem wurde der Doku­men­tarfilm «Gottes miss­brauchte Diener­in­nen» gezeigt. Er hat viele schock­iert. Welche Gedanken kamen Ihnen, als sie von diesen neuen Enthül­lun­gen hörten? Natür­lich ist das ein Schock. Es ging in diesem Film ja vor allem um Frankre­ich. Hier sieht man, dass es bei Miss­brauch nicht nur um min­der­jährige Per­so­n­en geht, son­dern um jede abhängige Per­son. Das ist sehr wichtig. Das habe ich auch in Rom bei dem «Miss­brauchs­gipfel» gesagt. Und zum zweit­en sieht man hier, dass der Kern des Miss­brauchs ein Miss­brauch an Macht ist, an geistlich­er Macht.Sie haben sich während des «Miss­brauchs­gipfels» in Rom mit Miss­brauch­sopfern getrof­fen. Was haben Sie im Aus­tausch mit ihnen ler­nen kön­nen? Ich habe mich, seit ich Bischof bin, immer wieder mit Miss­brauch­sopfern getrof­fen. Es ist also nichts Neues für mich. In Rom habe ich mich dann mit drei Schweiz­er Opfern getrof­fen, die ich teil­weise schon kan­nte. Diese Opfer hat­ten eine Stimme an diesem Zusam­men­tr­e­f­fen in Rom. Das erste, was es aus­löst, ist immer wieder eine grosse Betrof­fen­heit, ein Schock. Aber man sieht, dass dies ein weltweites Phänomen ist. Und man hat gemerkt, dass es das Wichtig­ste ist, den Opfern zuhören und ihnen Glauben zu schenken. Es war eine Bestä­ti­gung mein­er Erfahrun­gen, die ich bere­its gemacht habe. Es war den Organ­isatoren wichtig, dass man diese Erfahrung gemein­sam machen kann, dass alle Teil­nehmenden auf dem gle­ichen Erfahrungs­stand sind.Welche Ergeb­nisse hat das Tre­f­fen aus Ihrer Sicht gebracht? Das Wichtig­ste ist, dass ein gemein­sames, weltweites Bewusst­sein dafür geschaf­fen wurde, dass es sich hier um ein Ver­brechen han­delt. Es gibt eben einige Kul­turen, in denen es kein Ver­brechen und auch nicht jus­tizia­bel ist. Ich sage das wieder, obwohl man es mir vorge­wor­fen hat, dass ich dies gesagt habe. Für die Kirche ist es eben in jedem Fall ein Ver­brechen. Es ist also noch etwas anderes als eine Sünde. Ein Ver­brechen wird angezeigt, unter­sucht, ver­fol­gt und geah­n­det mit ein­er Strafe.Im kirch­lichen Geset­zbuch CIC ist das Alter der Ehemündigkeit für Mäd­chen auf 14 Jahre und bei Jun­gen auf 16 Jahre fest­gelegt. Manche Täter reden sich auf­grund dieser Regelung ein, dass sex­ueller Miss­brauch an Jugendlichen nicht so schlimm ist. Dies war auf dem Gipfel kein The­ma. Es wurde lediglich darüber informiert, dass es Kul­turen gibt, die es erlauben, mit 12 Jahren zu heirat­en. Der Vatikan hat aber im Jahr 2001 das Schutzal­ter bezüglich sex­uellem Miss­brauch von 16 auf 18 Jahre erhöht. Beim Tre­f­fen wurde klargestellt, dass der Miss­brauch von Min­der­jähri­gen («minori») in jedem Fall ein Ver­brechen ist, unab­hängig von ihrem Alter.Welche weit­eren Ergeb­nisse brachte der «Miss­brauchs­gipfel»? Ein weit­eres ist das Hil­f­sange­bot des Vatikans: Wenn es einen Vor­fall gibt und eine Diözese damit Mühe hat, gibt es eine Task Force, die dann behil­flich ist. Schliesslich hat die Ein­sicht in die Notwendigkeit, Über­griffe zu ver­fol­gen und zu unter­suchen, weltweit Fuss gefasst. Ich für mich habe gel­ernt, dass es einige Kul­turen gibt, in denen dieses The­ma in der Öffentlichkeit – nicht nur in der Kirche — tabuisiert ist.Welche Mass­nah­men müssen nun in der über­schaubaren Zeit von einem Jahr aus Rom bzw. in den Bistümern fol­gen? Aus mein­er Sicht schaue ich jet­zt zuerst auf die Schweiz, weil wir für uns sel­ber ver­ant­wortlich sind und dies nicht ein­fach delegieren kön­nen. Jet­zt müssen die Präven­tion­s­mass­nah­men, die wir bei der let­zten Bischof­skon­ferenz beschlossen haben, wirk­lich greifen: Die Auszüge aus dem Strafreg­is­ter und die Son­der­pri­vatauszüge müssen einge­fordert und ein­gere­icht wer­den, die Zusam­me­nar­beit des Bis­tums mit den staat­srechtlichen Anstel­lungs­be­hör­den muss richtig geregelt wer­den. Die Präven­tion­s­mass­nah­men müssen umge­set­zt und kon­trol­liert wer­den. Das ist unsere Auf­gabe.In den deutschen Bistümern soll im Zusam­men­hang mit der Miss­brauch­sa­u­far­beitung ein syn­odaler Prozess angestossen wer­den. Ist in der Schweiz ein ähn­lich­er Prozess geplant? Nein, es sind keine syn­odalen Prozesse zu diesem The­ma geplant. Das ist auch schwierig, weil wir sprach­lich und damit ein­herge­hend kul­turell grosse Hür­den haben. Wir sind schon weit­er mit unseren Mass­nah­men. Wir müssen nicht nochmals reden, son­dern umset­zen. Wir haben jet­zt die vierte Auflage unser­er schweizweit gel­tenden Richtlin­ien und da ste­ht alles Wesentliche drin. Während der Umset­zung sieht man dann, wo vielle­icht etwas fehlt oder etwas präzisiert wer­den muss.Als eine sys­temis­che Ursache von Miss­brauch machte Papst Franziskus den Klerikalis­mus aus. Ist das für Sie nachvol­lziehbar? Wo fängt Klerikalis­mus für Sie an und was muss man dage­gen machen? Es ist ein Wort des Pap­stes und ver­schiedene Leute stellen sich unter­schiedliche Dinge darunter vor. Ich finde es zielführen­der, wenn wir von Macht­miss­brauch in ver­schiede­nen Aus­prä­gun­gen sprechen. Das ist klar­er und direk­ter und man kann direk­tere Mass­nah­men dage­gen ergreifen: beispiel­sweise Mach­tausübung trans­par­ent und nachvol­lziehbar zu machen. Damit man weiss, wer wann warum etwas gesagt oder gemacht hat und wer in Prozesse mitein­be­zo­gen wird oder nicht. Man kann schauen, wo die Gefahr liegt, dass Macht nicht kon­trol­liert wird. Das finde ich zielführen­der. Der Begriff Klerikalis­mus meint aus mein­er Wahrnehmung, dass die Macht in der Kirche an den Klerik­er­stand gebun­den ist.Doch es ist so, dass es Klerikalis­mus auch bei nicht-ordinierten Men­schen gibt, bei Kirchen­mit­gliedern beispiel­sweise, die ein bes­timmtes Kirchen­sys­tem bevorzu­gen. Das kann man so sehen. Der Papst hat das so gese­hen und wurde dafür kri­tisiert. Er sagte deshalb aber auch, dass der Kampf gegen Miss­brauch und Klerikalis­mus das ganze Volk Gottes bet­rifft.Wir haben irgend­wo eine Aus­deu­tung von Klerikalis­mus gele­sen, die sagt, dass Klerikalis­mus auch die Hal­tung ist, zu erwarten, dass Rom, beziehungsweise die näch­sthöhere Instanz, jet­zt alles regeln soll. Deshalb set­zte ich genau bei uns an. Wir sind für die Schweiz zuständig und für die konkrete Lage hier. Ich kann und will das nicht nach Rom geben. Weil es unsere Sache ist.Diese Hal­tung muss in die andere Rich­tung aber auch bis an die Basis gehen, oder? Ja, streng nach dem Sub­sidiar­ität­sprinzip: Dort, wo sich Prob­leme stellen, müssen sie gelöst wer­den. Man soll ein Prob­lem nur dann weit­ergeben, wenn man sel­ber an eine Gren­ze stösst. In diesem Sinne hat der Vatikan eine Task Force ein­gerichtet. Wenn ein Bischof in seinem Land bezüglich Miss­brauch an seine Gren­ze stösst, kann diese Task Force gerufen wer­den.Ist die Task Force für die Basis der Ansprech­part­ner auf Bis­tum­sebene, wenn es zum Beispiel um Prob­leme mit intrans­par­enten Struk­turen geht? Es kommt natür­lich immer auf das konkrete Beispiel an und oft sind bei­de Seit­en – staatskirchen­rechtliche und pas­torale – beteiligt. Aber je nach Prob­lem in ein­er Pfar­rei ist der Pas­toral­raum oder auch die Bis­tum­sre­gion Ansprech­part­ner.Eine andere These ist, dass ein neuer Umgang und ein neues Nach­denken über die Sex­ual­moral helfen kön­nten, die Miss­brauch­skrise oder auch den Klerikalis­mus in den Griff zu bekom­men. Die kirch­liche Lehre ist sehr strikt beim The­ma Sex­ual­moral. Wäre es sin­nvoll, dass wis­senschaftliche Erken­nt­nisse und die verän­derte Leben­sre­al­ität der Men­schen kirch­lich­er­seits mehr rezip­iert wür­den? Das stimmt, da beste­ht Hand­lungs­be­darf. Wenn man sagt, Erken­nt­nisse find­en nicht Ein­gang in die Kirche, dann stimmt das auf der Ebene des Kat­e­chis­mus. Da find­et es kaum Ein­gang. Doch Erken­nt­nisse find­en Ein­gang im Modus des Nach­denkens und Hin­ter­fra­gens bei vie­len Ver­ant­wor­tungsträgern. Und hier wäre ein – ich nenne es mal «entspan­nter­er Umgang» mit dem The­ma – wirk­lich allen dien­lich.Ist in der Aus­bil­dung denn ein solch «entspan­nter­er Umgang» mit dem The­ma möglich? Zur aktuellen Aus­bil­dung habe ich keine Rück­mel­dun­gen, aber ich erin­nere mich, dass das in mein­er eige­nen Aus­bil­dung möglich war.Auch da müssen wir also in die Diöze­sen schauen? Und an die Uni­ver­sitäten.Ist die The­olo­gie zu eingetrock­net für diese The­men? Nach mein­er Wahrnehmung – die Sex­ual­moral ist nicht mein Spezial­ge­bi­et – hat die The­olo­gie Vorschläge für einen «entspan­nteren Umgang» damit. Vor allem human­wis­senschaftliche Erken­nt­nisse wer­den da aufgenom­men. Man muss aber auch wahrnehmen, dass vie­len Men­schen die offizielle Sex­ual­moral gar nicht bekan­nt ist oder sich nach mein­er Wahrnehmung viele nicht daran hal­ten; das ist ein Zeichen der Zeit, das es zu erken­nen gilt.Auf das man nicht mit Abwehr reagiert, son­dern fragt: Warum ist das so? Genau. Es ist ein Zeichen der Zeit und dann kommt es darauf an, wie man dieses Zeichen der Zeit deutet.Welche Hal­tung sollte die Kirche in Bezug auf die Sex­ual­moral ein­nehmen? Sollte sie nicht eher ins Wohnz­im­mer als ins Schlafz­im­mer der Leute schauen? Sie sollte ins Wohnz­im­mer und auf den Arbeit­splatz schauen. Sex­ual­moral ist nicht die Kernkom­pe­tenz der Kirche und sie sollte sich weniger dazu äussern. Sie sollte weniger darüber reden und auch nicht moral­isieren, son­dern dem Gewis­sensentscheid der Men­schen den Vor­rang geben und darüber nicht urteilen.Sie sollte also eine beglei­t­ende Rolle ein­nehmen? Ja, das ist über­haupt die Rolle der Kirche, zu begleit­en. Es geht mein­er Ansicht nach in erster Lin­ie darum, dass ich die Men­schen, wenn sie Fra­gen haben oder begleit­et wer­den wollen, dazu ermutige, sich mit ihrer Art von Beziehung auseinan­derzuset­zen. Mit deren Verbindlichkeit oder Schwierigkeit­en. In dieser Auseinan­der­set­zung ist die Sex­u­al­ität ein Aspekt, aber nicht mehr. Wenn man ein­er­seits alles auf das sech­ste Gebot (du sollst nicht ehe­brechen) ein­schränkt und ander­er­seits die kirch­lichen Aus­sagen noch ausweit­et auf andere For­men von Sex­u­al­ität, dann ist das schwierig.Was sind – mit Blick auf die Diözese Basel – sin­nvolle näch­ste Schritte für eine Kirche, die so erschüt­tert ist, dass sog­ar treue, kirchen­poli­tisch gemäs­sigte Basiskatho­liken Mühe mit ihrer Kirche haben? Die Kirche muss die Struk­turen, die Fehlver­hal­ten begün­sti­gen, über­denken. Das zweite: Die Kirche muss sich mit ihrem Kern beschäfti­gen, das heisst mit ihrem Blick auf Jesus Chris­tus. Und mit Blick auf diesen Jesus soll sie die Men­schen begleit­en in ihrem Glaubensleben, in ihren Zweifeln. Wieso ist das Leben sin­nvoll? Was mache ich daraus? Wie hil­ft mir Gott dabei? Woher schöpfe ich Kraft und Hoff­nung? — Das alles ist die Auf­gabe der Kirche und darauf sollte sie sich wieder ver­mehrt konzen­tri­eren. Doch ihre Hausauf­gaben muss sie machen: Die Entschei­dung­sprozesse müssen trans­par­ent gemacht, angeschaut und geän­dert wer­den, wo notwendig.Papst Franziskus hat von Dezen­tral­isierung gesprochen und emp­fiehlt eine stärkere Län­derzuständigkeit beim The­ma Miss­brauch­spräven­tion. Wenn man das auf die Frage nach Struk­turverän­derun­gen überträgt: Was bedeutet das für das Ineinan­der von Ort­skirche und Weltkirche? Wo kol­li­dieren diese Grössen? Das eine sind die Her­aus­forderun­gen, die wir hier lösen müssen. Zum Beispiel ein­er­seits die Zusam­me­nar­beit inner­halb der pas­toralen Seite, also zwis­chen den ver­schiede­nen Dien­sten – das heisst den ordinierten wie nicht-ordinierten Seel­sor­gen­den, dem kat­e­chetis­chen Per­son­al, den ehre­namtlich Täti­gen. Ander­er­seits die Zusam­me­nar­beit von pas­toraler Seite und staatskirchen­rechtlich­er Struk­tur. Das bet­rifft nicht mal die ganze Schweiz, son­dern meine Diözese und das kann ich nicht delegieren. Das andere ist, es gibt Fra­gen, die wer­den nicht von einem Bischof alleine entsch­ieden, son­dern im Kol­legium aller. Entwed­er auf Schweiz­er Ebene oder im Kol­legium der Bis­chöfe aus Mit­teleu­ropa oder Osteu­ropa und so weit­er. Das sind het­ero­gene Grup­pen, die ganz ver­schiedene Län­der­wirk­lichkeit­en wider­spiegeln. Es ist nicht zielführend, wenn ein Bischof ein­fach etwas bes­timmt. Son­dern es ist zielführend, dass alle gemein­sam eine Fragestel­lung iden­ti­fizieren und dann eine Antwort suchen.Wäre es denn denkbar, dass die Bis­chöfe des deutschsprachi­gen Raumes sagen: wir stellen fest, dass die Abschaf­fung des Pflichtzöli­bats oder die Wei­he von Frauen zu Diakonin­nen sin­nvoll ist und dann eine entsprechende Lösung anstreben? Denn ein Sys­tem, an dem nicht wirk­lich geschraubt wird, verän­dert sich ja nicht. Es geht also um die Frage nach eine regionalen Lösung? Ich muss nochmal auf das The­ma Präven­tion zurück­kom­men. Beim The­ma Präven­tion streben wir eine Lösung aller deutschsprachi­gen Län­der an, weil das eben auch eine Kul­turfrage ist. Für die Frage des Zöli­bats wird an der Ama­zonassyn­ode im Okto­ber 2019 disku­tiert wer­den. Ich weiss aber nicht, ob das dann region­al bleibt. Ich finde das kön­nte man in den europäis­chen Län­dern auch besprechen. Wir waren in der Kirche immer schon glob­al und sind es heute noch mehr und ger­ade der deutschsprachige Raum ist gröss­er als man gemein­hin annimmt. Man kön­nte eine solche Diskus­sion sich­er anstossen, das wäre gut.
Anne Burgmer
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