«Seine Mission ist mit der Lebensgabe erfüllt»

«Seine Mission ist mit der Lebensgabe erfüllt»

Die Hin­rich­tung Jesu bewegt bis heute viele Men­schen. Sie wird auf unter­schiedliche Weise in Fil­men, Pas­sion­sspie­len, Bildern und Fotos dargestellt und in unsere Zeit über­set­zt. Dabei stellt sich oft die Frage, warum Jesus ster­ben musste. Wal­ter Kirch­schläger, emer­i­tiert­er Pro­fes­sor für Neues Tes­ta­ment, legt dar, wie Jesus bei den religiösen Autoritäten aneck­te und warum er seinen Tod in Kauf nahm.

Inwiefern lassen die Evan­gelien geschichtliche Rückschlüsse auf die Hin­rich­tung Jesu zu?
Wal­ter Kirch­schläger: Die Evan­gelien sind keine his­torischen Berichte. Sie stim­men allerd­ings in den Eck­dat­en zum Tod Jesu soweit übere­in, dass diese Grund­in­for­ma­tio­nen als his­torisch belast­bar ange­se­hen wer­den kön­nen. Freilich muss man ein­räu­men, dass die drei syn­op­tis­chen Evan­gelien (Mk, Mt, Lk) gegenüber dem Johan­ne­se­van­geli­um im Detail geringe Unter­schiede aufweisen. [esf_wordpressimage id=43554 width=half float=right][/esf_wordpressimage]

In welchen poli­tis­chen Ver­hält­nis­sen lebten Jesus und seine Zeitgenossen?
Im 1. Jahrhun­dert n. Chr. ist das ganze jüdis­che Gebi­et unter römis­che Herrschaft gekom­men. Rom hat zunächst Herodes den Grossen als Vasal­lenkönig einge­set­zt. Nach dessen Tod im Jahr 4 v. Chr. wur­den dessen Söhne von den Römern mit dem Gebi­et beliehen. Die römis­che Herrschaft hat sich dann in unter­schiedlich­er Inten­sität aus­gedehnt.
In Galiläa, im Ursprungs­ge­bi­et Jesu, gab es bis Anfang der 40er-Jahre einen Vasal­lenkönig. Im Haupt­ge­bi­et des Juden­tums (Judäa und Idumäa) wurde Herodes’ Sohn Archelaus 6 n. Chr. wegen zu gross­er Grausamkeit von den Römern durch einen römis­chen Statthal­ter erset­zt. Der fün­fte Inhab­er dieses Amtes war Pon­tius Pila­tus. Damit stand dieses Gebi­et unmit­tel­bar unter römis­ch­er Herrschaft. Aber auch in Gebi­eten, in denen Vasal­lenkönige regierten, galt die römis­che Gerichts­barkeit und Steuer­ho­heit. Das Land litt unter der hohen Steuer­last.

Wie frei waren die Juden in der Ausübung ihres Glaubens?
Während die Römer in unter­wor­fe­nen Gebi­eten ihre eige­nen religiösen Prak­tiken insti­tu­tion­al­isierten, gewährten sie dem jüdis­chen Volk weit­ge­hend die Ausübung ihres Glaubens. Der Tem­pelkult kon­nte weit­erge­führt wer­den, auch wenn die Besatzer an der Tem­pel­s­teuer beteiligt waren. Dieses Zugeständ­nis hat­te nur Bestand, solange die römis­che Herrschaft nicht infrage gestellt wurde und es keine Auf­stände gab.

Was liess Jesus bei anderen Juden aneck­en?
Es lassen sich zwei Fak­ten fest­stellen. Jesus von Nazareth war ein überzeugter und engagiert­er Jude. Er betra­chtete seine Reli­gion als einen wichti­gen Inhalt seines Lebens. Ausser­dem hat­te er ein beson­deres Ver­ständ­nis von sein­er Reli­gion, welch­es mit seinem inten­siv­en, unmit­tel­baren Gottesver­hält­nis zusam­men­hing. Die syn­op­tis­chen Evan­gelien sehen den Ursprung dieses Ver­hält­niss­es in einem Bekehrungser­leb­nis, das sich bei der Taufe durch Johannes den Täufer ereignete. Jesus hat­te dabei erfahren, dass er eine beson­dere Verbindung zum Gott Israels — dem Gott Abra­hams, Isaaks und Jakobs — hat und dass seine Sendung darin beste­ht, die Zuwen­dung dieses Gottes zu den Men­schen zu verkündi­gen und sie dazu zu bewe­gen, sich diesem Gott zu öff­nen.

Wie kam es dann zum Kon­flikt zwis­chen Jesus und der religiösen Führung der Juden?
Ab Ende der 20er-Jahre des 1. Jahrhun­derts fol­gte Jesus diesem inneren Auf­trag. Nach dem Tod des Täufers zog er wiederum nach Galiläa, genau in das Herrschafts­ge­bi­et des Herodes Antipas, der den Täufer hat­te hin­richt­en lassen (s. Mk 1,14). Es spricht viel dafür, dass er die Verkündi­gung des Täufers vom Anbruch der Königsh­errschaft Gottes fort­ge­set­zt hat, aber schon bald mit eige­nen Akzen­ten. Während der Täufer die Umkehr der Men­schen aus Angst vor dem Zorn Gottes forderte, stand für Jesus die Zuwen­dung Gottes im Mit­telpunkt: Weil Gott mit sein­er Liebe ernst macht, ist es Zeit, sich ihm zuzuwen­den.
Diese religiöse Sichtweise und die damit ver­bun­dene Prax­is stand quer zu dem, was die damals herrschen­den Reli­gion­s­grup­pierun­gen propagierten. Die Phar­isäer und Schrift­gelehrten waren der Überzeu­gung, dass man die religiösen Weisun­gen genau befol­gen musste, während die Hohe­p­riester sich sorgten, dass sich die Men­schen vom Tem­pelkult abwen­den wür­den und sie damit ihre Ein­nah­men ver­lieren kön­nten. In diesem Kon­flik­t­feld bewegte sich Jesus. Er wurde bei den Reli­gions­be­hör­den angezeigt und überwacht.

Wie zeigte sich der Kon­flikt?
Jesus ver­trat z. B. hin­sichtlich des Ver­ständ­niss­es von Rein­heit eine andere Posi­tion als das damals gängige Juden­tum. Er ver­wies darauf, dass das, was von aussen in den Men­schen kommt, ihn nicht unrein machen kann, son­dern nur das, was aus ihm her­auskommt (vgl. Mk 7,18ff). Ein weit­er­er Stre­it­punkt waren die Heilun­gen Jesu am Sab­bat. Nach jüdis­chem Gesetz ist jede physis­che Betä­ti­gung am Sab­bat ver­boten. Diese Kon­flik­te schaukel­ten sich auf, bis die Phar­isäer schliesslich über­legten, wie sie Jesus töten kön­nten (Joh 5,16–18).
Der Kon­flikt wurde noch dadurch ver­schärft, dass Jesus nach ein bis zwei Jahren Verkündi­gungstätigkeit beschloss, mit seinen Jünger*innen zum Pas­sah­fest nach Jerusalem zu gehen. Dieser Entschluss wird in Lk 9,51 sehr feier­lich dargestellt. Die Men­schen haben damals gespürt, welch­es Poten­zial in diesem Auf­bruch in das Zen­trum der reli­gion­spoli­tis­chen Macht steck­te.
Wenn jemand so kon­se­quent für Rand­grup­pen und die soziale Unter­schicht ein­tritt und sich gegen jede Form von Unrecht wen­det wie Jesus, gerät er in jed­er Gesellschaft in Gefahr. Erst recht, wenn sich dies im religiösen Raum abspielt, in dem Men­schen noch aggres­siv­er reagieren.

Warum liess der Hohe Rat Jesus heim­lich fes­t­nehmen?
Man muss davon aus­ge­hen, dass der Einzug nach Jerusalem nicht unbeachtet blieb. Ob er so majestätisch stattge­fun­den hat wie die Evan­gelien es beschreiben, sei dahingestellt. Die führen­den Reli­gion­s­grup­pen in Jerusalem haben sich­er mit Arg­wohn beobachtet, dass Jesus nach Jerusalem kommt. Damit war ein gewiss­er Öffentlichkeits­grad erre­icht, der für den Hohen Rat gefährlich wurde.
In der Zeit vor dem Pas­sah­fest war Jerusalem ohne­hin von Pil­gern über­flutet. Der Statthal­ter kam extra von Cae­sarea nach Jerusalem hin­auf. Es herrschte Alarm­stufe eins. Durch die Präsenz dieses Rab­bis mit sein­er Gruppe stieg die Gefahr für Tumulte. Es ist ver­ständlich, dass der Hohe Rat etwas unter­nahm — und zwar ohne Auf­se­hen zu erre­gen, nicht öffentlich, nachts.

Was stand hin­ter diesem aggres­siv­en Vorge­hen?
Die Phar­isäer hat­ten religiöse Motive. Sie über­schrit­ten dafür auch mit gutem Gewis­sen Gren­zen, weil sie glaubten, Gott damit einen Gefall­en zu tun. Der Hohe Rat ging aus macht­poli­tis­chen und wirtschaftlichen Inter­essen gegen Jesus vor. Der Hohe­p­riester Kajaphas äussert in Joh 11,48 die Sorge, dass «die Römer kom­men und uns die heilige Stätte und das Volk nehmen», d. h. dem Hohen Rat seine sin­guläre Stel­lung hin­sichtlich des Tem­pelkultes entziehen wür­den.

Was warf der Hohe Rat Jesus vor?
Dass Jesus Gott als seinen Vater beze­ich­net hat. Das war schw­er ver­daulich für jüdis­che Men­schen, weil das die einzi­gar­tige Stel­lung des Ein-Gott-Glaubens in Israel zu unter­minieren schien.
Schon in Jesu Ver­hal­ten zeigte sich sein beson­der­er Anspruch. In Mt 12,8 sagt Jesus: «Denn der Men­schen­sohn ist Herr über den Sab­bat.» Die Autorität, mit der er das Gesetz inter­pretierte, stiess an Ver­ständ­nis­gren­zen. Durch den Vor­wurf der Gottes­sohn­schaft wurde der Wider­stand gegen Jesus schliesslich mehrheits­fähig.

Welch­es Ziel ver­fol­gte der Hohe Rat?
Er hat­te von Anfang an das Ziel, Jesus zu Tode zu brin­gen. Um sich damit an die römis­che Gerichts­barkeit wen­den zu kön­nen, musste er eine klare Anklage haben. Diese kon­nte nur Hochver­rat laut­en.

Die jüdis­chen Reli­gions­führer durften nie­man­den hin­richt­en lassen. Wie bracht­en sie den römis­chen Statthal­ter dazu, die Hin­rich­tung Jesu anzuord­nen?
Der Ver­dacht des Hochver­rats gestützt durch die reli­gion­spoli­tis­che Behörde hat einem römis­chen Statthal­ter ver­mut­lich genügt. Pon­tius Pila­tus war ein Oppor­tunist. Beim Auf­s­tand der Galiläer hat er dort zur Abschreck­ung ein­fach Men­schen kreuzi­gen lassen. Religiöse Fra­gen inter­essierten ihn nicht. Er war nur daran inter­essiert, dass wieder Ruhe einkehrt.

Hätte Jesus sein­er Hin­rich­tung ent­ge­hen kön­nen?
Wenn er alles darange­set­zt hätte, diesem Verdikt zu entkom­men, hätte er gar nicht nach Jerusalem gehen dür­fen. Das wusste Jesus. Er war Real­ist. Mit der Tem­pel­reini­gung hat sich die Lage dann zuge­spitzt. Es war klar, dass dieses Ereig­nis Fol­gen haben würde, auch wenn es nur ein klein­er Zwis­chen­fall war. Ver­mut­lich hätte Jesus auch mit ein­er kleinen Gruppe nach dem let­zten Mahl über den Ölberg durch das Kidrontal im Schutz der Dunkel­heit fliehen kön­nen. Ob man ihn weit­er­ver­fol­gt hätte, kann man nicht mehr beurteilen.
Aber der Weg nach Jerusalem und das Gebet am Ölberg machen klar, dass Jesus – koste es, was es wolle – bei sein­er Gottesverkündi­gung bleiben wollte und die Fol­gen in Kauf nahm. Das hängt mit seinem Sendungs­be­wusst­sein zusam­men. In Joh 4,34 sagt er: «Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vol­len­den.» Seine let­zten Worte am Kreuz laut­en: «Es ist zum Ziel geführt» — und nicht «Es ist voll­bracht» (Joh 19,30). Seine Mis­sion ist mit der Lebens­gabe erfüllt.

Jesus wurde wie ein Ver­brech­er hin­gerichtet. Wie ver­sucht­en sich die Jün­gerin­nen und Jünger seinen Tod zu erk­lären?
Das Entset­zen am Rüst­tag vor dem Pas­sah­fest des Jahres 30 ist nicht vorstell­bar. Da brach für die Jün­gerin­nen und Jünger eine Welt zusam­men. Alles, was sie gehofft und geglaubt hat­ten, war vor­bei. Zumin­d­est die Jünger sind geflo­hen, weil sie über­leben woll­ten. Das kann als his­torisch ange­se­hen wer­den. Denn Mitläufern dro­ht­en schwere Strafen.
Nach dem Tod Jesu kann man im Blick auf die Evan­gelien Geschichte und The­olo­gie nicht mehr voneinan­der tren­nen. Die Frauen, die am näch­sten Tag zum Grab gehen, erzählen, dass ihnen ein Engel erschienen sei, der ihnen gesagt habe: «Er lebt.» Das ist die ursprünglich­ste Oster-For­mulierung. «Er ist aufer­standen» ist schon eine the­ol­o­gis­che Deu­tung.
Jet­zt ste­hen wir vor der Dialek­tik: «Der Tote lebt». Wie ist das zu ver­ste­hen? Entschei­dend ist dabei die Gottes­frage: Ist der eine Gott Israels, der zum Leben ja sagt, angesichts des Todes Jesu provoziert zu han­deln? Wenn er nicht han­delt, ver­liert er seine Iden­tität als Gott, der Leben schafft und der zu den Gerecht­en ste­ht. An Ostern wird klar, dass Gott zu seinem Sohn im Tod noch ja sagt und dass dieser Tod nicht in eine Katas­tro­phe führt, son­dern weit­er­führt in ein neues Leben. Die Evan­ge­lis­ten reden in einem rät­sel­haften Text davon, dass der, der an Gott glaubt, «durch den Tod hin­durch ins Leben geht» (Joh 5,24). Dies zeigt uns, wie die frühe Kirche zu diesem The­ma denkt.
Die Rede von der Grabesruhe am Karsam­stag kann man vergessen. Jesus wird zwar begraben, aber er geht bere­its in seinem Tod hinein in die Fülle Gottes. Sein Leben ist zur Vol­len­dung geführt (Joh 19,28). Gott lässt seinen Sohn nicht im Tod wie bish­er jeden anderen Men­schen. Er vol­lzieht an ihm vor­weg­nehmend das, was er allen anderen Men­schen in Zukun­ft als Leben­shoff­nung eröffnet. Den Jün­gerin­nen und Jüngern ist bewusst, dass sie damit etwas Uner­hörtes, eine schein­bare «Torheit», verkündi­gen (vgl. 1 Kor 1,23–25).
Ostern ist der Test­fall für die Iden­tität Gottes, ist die ulti­ma­tive Gotte­sof­fen­barung.

Was bedeutet aus Ihrer Sicht, dass Jesus «für uns» gestor­ben ist?
Diese the­ol­o­gis­che Kurz­formel ist missver­ständlich. Sie kann so aufge­fasst wer­den, dass Jesus ster­ben musste, weil Gott noch eine Wiedergut­machung braucht. Seit Anselm von Can­ter­bury (11./12. Jh.) wird diese Formel oft in dieser sat­is­fak­torischen Weise gele­sen. So ist sie aber nicht gemeint.
Die Kurz­formel meint vielmehr, dass Jesus in sein­er Grund­hal­tung für andere Men­schen, in sein­er Bezeu­gung der Liebe Gottes selb­st in den Tod geht. Ich kann den Satz «Jesus ist für uns gestor­ben» nur beja­hen, wenn ihm der Satz «Jesus hat für uns gelebt» voraus­ge­ht und der Satz «Jesus ist für uns aufer­standen» fol­gt.
Der insti­tu­tionellen Kirche ist vorzuw­er­fen, dass sie nicht gegen diese Sat­is­fak­tionsvorstel­lung vorge­ht, dass sie z. B. die litur­gis­chen Büch­er nicht davon säu­bert. Es scheint, als wäre Gott jemand, der sagt: «Erst muss noch ein­er ster­ben, dann kön­nen wir wieder miteinan­der reden.» Dieses Gottes­bild lässt sich nicht recht­fer­ti­gen. Die Bibel erzählt ja von einem Vater, der seinen reuigen Sohn schon von Weit­em kom­men sieht und ihm ent­ge­genge­ht.

Marie-Christine Andres Schürch
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