Schau­stel­ler-Pfar­rer schlägt Alarm: Die Chil­bi stirbt!

Schau­stel­ler-Pfar­rer schlägt Alarm: Die Chil­bi stirbt!

  • Mit der Absa­ge der Bas­ler Herbst­mes­se und wei­te­rer Chil­bi­ver­an­stal­tun­gen im zwei­ten Halb­jahr hat sich die Situa­ti­on für Schau­stel­ler und Markt­fah­ren­de noch­mals erheb­lich verschlechtert.
  • Adi Bolz­ern ist Schau­stel­ler- und Markt­händ­ler­seel­sor­ger. Ange­sichts der Ein­schrän­kun­gen für Mas­sen­ver­an­stal­tun­gen infol­ge der Coro­na-Pan­de­mie spricht er von der «schlimm­sten Situa­ti­on», in der sich die Bran­che je befun­den habe.
  • Unter Schau­stel­lern ist man sich einig: «Es braucht jetzt Hil­fe vom Bund, sonst geht es nicht mehr.» Für August ist eine gros­se Demon­stra­ti­on in Bern geplant.
 Eine Dach­woh­nung irgend­wo in Aar­au: Anstatt dass Maya Hau­ri irgend­wo auf Kir­mes­plät­zen nach dem Rech­ten sieht, hockt sie mit Circus‑, Schau­stel­ler- und Markt­händ­ler­seel­sor­ger Adi Bolz­ern bei sich zuhau­se am Tisch und zün­det eine Ziga­ret­te an. Neben ihr auf dem Tisch lässt sie ein Karus­sell­mo­dell lau­fen. Lich­ter fun­keln, Musik träl­lert. Die Schau­stel­le­rin seufzt: «Wer hät­te gedacht, dass uns ein­mal eine Pan­de­mie trifft. Noch vor einem Jahr habe ich mit 150 Per­so­nen mein 40-Jahr-Jubi­lä­um als Schau­stel­le­rin gefei­ert.»

Maya Hau­ri: «Habe noch immer kei­ne Perspektive»

Die 63-jäh­ri­ge Volks­mu­sik­lieb­ha­be­rin, die Grös­sen wie Andre­as Gaba­lier per­sön­lich kennt, gilt im Aar­gau als «Gran­de Dame der Schau­stel­le­rei». Für gut 70 Pro­zent aller Chil­bis und Jugend­fe­ste im Kan­ton ver­gibt Maya Hau­ri die Plät­ze an die Schau­stel­ler, unter ande­rem für das Argo­via-Fest, den Aar­au­er Mai­en­zug, den MAG, das Lenz­bur­ger Jugend­fest. Zudem besitzt die gewief­te Unter­neh­me­rin ver­schie­de­ne Fahr­ge­schäf­te, unter ande­rem drei histo­ri­sche Karus­sel­le und einen Auto­scoo­ter.Seit Mit­te März sitzt Maya Hau­ri zuhau­se – zur Untä­tig­keit ver­dammt –, wegen des Coro­na­vi­rus’. «Da kann einem schon die Decke auf den Kopf fal­len», meint sie und nimmt ihr Hünd­chen Kit­ty auf den Arm. «Wenn ich den­ke, wie die Wir­te gejam­mert haben, weil sie zwei Mona­te schlies­sen muss­ten. Wir haben noch immer kei­ne Per­spek­ti­ve, um unse­re Arbeit wie­der auf­zu­neh­men.»Jüng­ste Hiobs­bot­schaft war die Absa­ge der Bas­ler Herbst­mes­se. Von einem neu­er­li­chen «har­ten Schlag für alle Schau­stel­ler-Unter­neh­men» spricht die lang­jäh­ri­ge Markt­fah­re­rin und meint: «Jetzt muss wirk­lich etwas unter­nom­men wer­den. So kann es nicht wei­ter­ge­hen.»

Demon­stra­ti­on im August geplant

Maya Hau­ri hofft auf Unter­stüt­zung vom Bund. Hier­für wol­le das Gewer­be im August auf dem Bun­des­platz in Bern demon­strie­ren, lässt Peter Howald, am Tele­fon zuge­schal­tet, durch­blicken – er ist Prä­si­dent des Schau­stel­ler­ver­ban­des Schweiz (SVS). Es sei­en die hohen Fix­ko­sten, unter denen die Schau­stel­ler zusätz­lich zum Erwerbs­aus­fall beson­ders lit­ten: Lager­hal­len für abge­stell­te Fahr­ge­schäf­te koste­ten hohe Mie­ten – zwi­schen 2’000 und 30’000 Fran­ken im Monat.Ihr gröss­ter Wunsch sei es, dass bald alles wie­der so sei wie frü­her, meint Maya Hau­ri. Aber das dürf­te wohl erst gesche­hen, wenn ein Impf­stoff gegen das neue Virus gefun­den wird, fürch­tet die Schau­stel­le­rin. Zwar könn­ten aktu­ell in ein­zel­nen Kan­to­nen wie­der Ver­an­stal­tun­gen für bis zu 1’000 Per­so­nen statt­fin­den, «aber wer will schon an eine Chil­bi, wenn im Rah­men eines Schutz­kon­zepts Besu­cher­kon­tin­gen­te und Auf­ent­halts­zeit­li­mi­ten gel­ten wie aktu­ell in den Schwimm­bä­dern.» Fer­ner müss­ten die Kir­mes­be­su­cher Abstands­re­geln ein­hal­ten und auf einem Fahr­ge­schäft eine Mas­ke tra­gen – ganz zu schwei­gen davon, dass Pas­sa­gie­re war­ten müs­sen, bis sämt­li­che Sitz­flä­chen und Hal­te­grif­fe nach einer Fahrt des­in­fi­ziert wur­den.

Adi Bolz­ern: «Die Schau­stel­ler haben kei­ne Lobby»

Adri­an Bolz­ern ist katho­li­scher Prie­ster und Circus‑, Schau­stel­ler- und Markt­händ­ler­seel­sor­ger. Nach­denk­lich meint er: «Die aktu­el­le Situa­ti­on ist wohl die schlimm­ste, die es für Schau­stel­ler seit Jahr­zehn­ten je gege­ben hat.» Der 41-Jäh­ri­ge steht mit den mei­sten der Schau­stel­ler­fa­mi­li­en in der Deutsch­schweiz in regel­mäs­si­gem Kon­takt und beob­ach­tet aktu­ell viel Unru­he und Hilf­lo­sig­keit. «Die Schau­stel­ler sind ver­un­si­chert. Sie wis­sen nicht, was sie tun sol­len. Ob sich in die­sem Jahr noch Mög­lich­kei­ten eröff­nen, «zu spie­len», wie es in der Schau­stel­ler­spra­che heisst? Oder ob man sich für eine ande­re Arbeit ver­pflich­ten soll?Nicht sel­ten hört der Seel­sor­ger gegen­wär­tig von man­chen Sor­gen. «Das Schlim­me ist, als Seel­sor­ger kannst du nicht direkt hel­fen», sagt er. «Du kannst Besu­che machen, zuhö­ren, trö­sten.» Sei­ne Phil­ipp Neri-Stif­tung kann punk­tu­ell finan­zi­el­le Unter­stüt­zung lei­sten – zur Über­brückung oder für eine ein­ma­li­ge Sache, wenn bei­spiels­wei­se das Auto kaputt gegan­gen ist. Seit Aus­bruch der Coro­na-Pan­de­mie gehe es aber für vie­le um Exi­stenz­er­hal­tung – auf­grund von hohen Aus­fäl­len. «Da ist der Bund gefor­dert», meint auch Adi Bolz­ern. Die­ser müs­se hel­fen, so, wie er ande­re Bran­chen unter­stützt habe. Aber: «Es besteht in der Tat die Gefahr, dass die Schau­stel­ler ver­ges­sen gehen», denn: «Die­se Leu­te haben kei­ne Lob­by wie ande­re Bran­chen.»

Franz Schul­er: «Glück, dass ich noch einen ande­ren Job habe»

Adi Bolz­ern ist häu­fig zu Besuch bei Maya Hau­ri. Reli­gi­on spielt für die Schau­stel­le­rin eine gros­se Rol­le. Ihr Stief­va­ter sei streng katho­lisch gewe­sen, der wöchent­li­che Kirch­gang war selbst­ver­ständ­lich. Die gebür­ti­ge Aar­gaue­rin, die über ihren mitt­ler­wei­le ver­stor­be­nen Mann zur Schau­stel­le­rei kam, ist ihrem Glau­ben treu geblie­ben und hat vor bald 15 Jah­ren zum ersten Mal auf ihrem Auto­scoo­ter einen Got­tes­dienst für Schau­stel­ler fei­ern las­sen. Im Lau­fe der Jah­re erlang­te die­ser ähn­lich gros­se Popu­la­ri­tät wie der Zir­kus­got­tes­dienst in Luzern.Auch in Bru­negg blei­ben die Fahr­ge­schäf­te par­kiert. Franz und Danie­la Schul­er besit­zen einen der grös­se­ren Schau­stel­ler­be­trie­be im Aar­gau. Die mei­sten ken­nen die Schul­ers wegen ihres Flag­schiff­be­triebs Scor­pi­on. Auf jedem grös­se­ren Chil­bi­platz der Deutsch­schweiz hat die­ses Action-Gefährt mitt­ler­wei­le sei­nen festen Platz – auch an der Bas­ler Herbst­mes­se.Gewöhn­lich ist Franz Schul­er mit sei­nen Leu­ten von März bis Dezem­ber an 30 bis 40 Wochen­en­den im Jahr auf den Rum­mel­plät­zen. Aktu­ell ruhen sei­ne Fahr­ge­schäf­te aber auf einem Platz in Mägen­wil. Dank einem guten Geschäfts­jahr 2019 bedroht die Coro­na-Pan­de­mie die Schul­ers zumin­dest zum gegen­wär­ti­gen Zeit­punkt noch nicht exi­sten­zi­ell. Franz Schul­er hat­te zudem noch Glück, dass er als Last­wa­gen­fah­rer arbei­ten kann, bis «es» wie­der los geht.

 Mil­lio­nen­teu­re Fahr­ge­schäf­te sind nichts mehr wert

«Wäre die Kri­se letz­tes Jahr gekom­men, dann hät­te ich ver­kau­fen müs­sen», sagt er und erklärt: «Vie­le, die zur­zeit mit dem Rücken zur Wand ste­hen, haben das Pech, dass sie nicht ein­mal ihre Fahr­ge­schäf­te ver­kau­fen kön­nen – die­se sind zum gegen­wär­ti­gen Zeit­punkt nichts wert, weil in Anbe­tracht der aktu­el­len Situa­ti­on doch nie­mand ins Schau­stel­ler­ge­wer­be inve­stie­ren möch­te.» Ein Fahr­ge­schäft kostet neu zwi­schen einer und drei Mil­lio­nen Fran­ken – als Occa­si­on immer noch einen höhe­ren sechs­stel­li­gen Betrag.Dass die Bas­ler Herbst­mes­se  und die «Lozär­ner Määs» abge­sagt wur­den, dürf­te für man­chen Schau­stel­ler­be­trieb den Todes­stoss bedeu­ten, ist Danie­la Schul­er sicher. Gewöhn­lich strei­ten die Schau­stel­ler für einen Platz am Rhein­knie erbit­tert um Stand­plät­ze, was zeigt, wel­che Bedeu­tung der Anlass für die Bran­che hat.

Hof­fen auf Bundesgeld

Auch wenn die Aus­sich­ten im Moment sehr schlecht sind: Seel­sor­ger Adi Bolz­ern ist über­zeugt: «Schau­stel­ler sind Über­le­bens­künst­ler. Das, was die Schau­stel­ler aktu­ell erle­ben, wür­de wohl kei­ne ande­re Bran­che über­le­ben.» Im Moment domi­niert jedoch die Unsi­cher­heit: «Zwar dür­fen wie­der Ver­an­stal­tun­gen für 1’000 Per­so­nen statt­fin­den», so Danie­la Schul­er, «wir könn­ten also auch wie­der sel­ber Volks­fe­ste orga­ni­sie­ren, aber kei­ne Gemein­de gibt uns eine Bewil­li­gung. Die haben alle Angst.»Seel­sor­ger Adi Bolz­ern ist sich sicher: «Spä­te­stens im kom­men­den Jahr wer­den wir bei der Phil­ip Neri-Stif­tung vie­le Gesu­che um Unter­stüt­zung erhal­ten – und trotz­dem nie­man­den ret­ten kön­nen.» Auf die Fra­ge, wie vie­le Schau­stel­ler die gegen­wär­ti­ge Kri­se in den Bank­rott trei­ben wird, meint Maya Hau­ri sinn­bild­lich für den Kampf­geist der Bran­che: «Ich hof­fe immer, dass es alle schaf­fen und sich über Was­ser hal­ten kön­nen. Und ich hof­fe sehr, dass der Bund uns unter die Arme greift. Für eine Air­line, die nicht ein­mal mehr uns gehört, gibt’s Mil­li­ar­den. Da muss es doch auch etwas für uns geben.»
Andreas C. Müller
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