Religion zum Anfassen

Religion zum Anfassen

Der Katholizis­mus war schon immer ein Beken­nt­nis «zum Anfassen», eine Kon­fes­sion voller lebendi­ger Tra­di­tion mit Prozes­sio­nen, Wall­fahrten, Weihrauch und ver­schieden­em Volks­brauch­tum. Rit­uelle Hand­lun­gen prä­gen nicht nur die Messli­turgie, son­dern auch den All­t­ag.So bei Aus­saat und Ernte oder bei ein­schnei­den­den Weg­marken wie Geburt oder Tod. Mit dem UNESCO-Abkom­men zur Bewahrung von imma­teriellem Kul­turerbe wird nun dieses religiöse Volks­brauch­tum gesam­melt und doku­men­tiert.Die Baden­er Pfar­reisekretärin Rita Wil­di staunte nicht schlecht, als unlängst eine Frau das Pfar­ramt betrat und sich danach erkundigte, eine Kapelle sauber fegen zu dür­fen. Sie hätte in ein­er schwieri­gen Sit­u­a­tion Gott gelobt, dies zu tun, wenn ihr Anliegen erhört würde. Was als eigen­tüm­lich­er Spleen daherkommt, entstammt ein­er alten religiösen Volk­stra­di­tion. «Ver­schiedentlich haben sich die Leute aufger­afft, mit eigens beschafften Besen eine Kapelle zu fegen», weiss Volk­skundler Kurt Lus­si, Kura­tor des Volks­fröm­migkeitsmu­se­ums in Ettiswil bei Sursee. «Der­ar­tige Rit­uale soll­ten meist dazu beitra­gen, die Reini­gung im Inneren zu unter­stützen und sich von allfäl­li­gen Krankheit­en zu befreien.» Dem gle­ichen Zweck dien­ten kleine Marien­fig­uren, in welche Reliquien­staub ver­ar­beit­et wor­den war. Von diesen kost­baren «Sch­ab­madon­nas» sch­abten sich die Leute, während sie für sich ein kurzes Gebet sprachen, jew­eils ein ganz kleines Biss­chen in den Tee oder Kaf­fee.Reli­gion hat Kul­tur nach­haltig geprägt Beim Stich­wort religiös­es Volks­brauch­tum denken die meis­ten Men­schen zunächst ein­mal an Wall­fahrten und Prozes­sio­nen wie beispiel­sweise zum Fron­le­ich­nam­stag. «Die Römisch-Katholis­che Lan­deskirche Aar­gau ist bere­its vom Kan­ton Aar­gau ange­fragt wor­den, sich im Rah­men des UNESCO-Abkom­mens für die Bewahrung und Doku­men­ta­tion von kirch­lich-religiösem Volks­brauch­tum zu engagieren», erk­lärt Bern­hard Lind­ner von der Erwach­se­nen­bil­dungsstelle der Römisch-Katholis­chen Lan­deskirche Aar­gau Bil­dung mobil. «Der Christliche Glaube hat unsere Kul­tur nach­haltig geprägt. Entsprechend wichtig und wertvoll ist es, die kul­turell prä­gende Kraft ver­schieden­er religiös­er Volks­bräuche zu sam­meln und den Men­schen in der heuti­gen Zeit wieder näher zu brin­gen.» Von vie­len dieser Bräuche wisse man, dass sie einen kost­baren Beitrag zum Gelin­gen des gesellschaftlichen Miteinan­ders leis­teten.Hil­fe im Umgang mit Krankheit­en Vieles dreht sich bei religiösem Volks­brauch­tum um Feste bei Jahreszeit­en­wech­seln. Bittprozes­sio­nen und Wet­tersegen wiederum halfen den Men­schen im Umgang mit ver­schiede­nen dro­hen­den Gefahren. Volk­skundler Kurt Lus­si unter­schei­det zwis­chen kirch­lichem und nicht-kirch­lichem Volks­brauch­tum. «Zu ersterem gehört alles, zu dem von der Insti­tu­tion Kirche ein genauer Ablauf vorgeschrieben ist. Beispiel­sweise der rit­uelle Umgang mit Ster­ben­den oder Rit­uale rund um die Heili­gen­verehrung wie beispiel­sweise der Bla­siussegen.» Bei nicht kirch­lich geregel­ter, religiös­er Prax­is sei es zu inter­es­san­ten Ver­mis­chun­gen mit hei­d­nis­chem Volks­glauben gekom­men. «Das Chris­ten­tum hat das Hei­den­tum allerd­ings nicht ver­drängt, son­dern sich mit ihm ver­mis­cht», präzisiert der Volk­skundler und Muse­um­sku­ra­tor Kurt Lus­si. «Die Heili­gen beispiel­sweise, das ken­nen wir bei ver­schiede­nen Kul­turen als eine Art Ahnengeis­ter. Da ist die Kirche einen Kom­pro­miss einge­gan­gen.»Wie Bildza­uber und Voodoo Inter­es­sant werde es aber über die in Grup­pen prak­tizierten religiösen Hand­lun­gen hin­aus. Dort, wo wie mit dem Aus­fe­gen von Kapellen oder dem „Raf­feln von Sch­ab­madon­nas» von unter­schiedlichen Men­schen diesel­ben Dinge prak­tiziert wer­den. Kurt Lus­si ken­nt in diesem Zusam­men­hang auch skur­rile Beispiele, mit denen er als Volk­skundler bere­its kon­fron­tiert wurde. Um sich beispiel­sweise gegen das «Toggeli» zu schützen, einen «Druck­geist», der sich des Nachts auf die Brust set­zt und für Atem­not sorgt, legte sich eine betagte Frau jew­eils zum Schlafen ein Bajonett zwis­chen die Beine. Eben­so wisse man vom Aufle­gen von Heili­gen­bild­chen bei Krankheit­en. Und dass in eini­gen Kapellen regel­rechte Kaf­feelöf­fel­samm­lun­gen zusam­mengekom­men seien, erzäh­le von Kranken, die ihre «abgeschleck­ten Löf­fel» in der Hoff­nung auf Gene­sung auf den Altären der Heili­gen ablegten. Der­ar­tige Prak­tiken erin­nerten stark an hei­d­nis­chen «Bildza­uber» oder «Voodoo», meint Kurt Lus­si. Bern­hard Lind­ner warnt demge­genüber davor, sämtlich­es christlich­es Brauch­tum automa­tisch auf Hei­d­nis­ches zurück­zuführen. Sein­er Mei­n­ung nach sind zum Beispiel die Fas­nachts­bräuche rein christlichen Ursprungs. «Das haben auch Volk­skundler schon fest­gestellt. Und zur Fas­nacht: Das waren die Nächte vor dem Beginn der Fas­ten­zeit. Da hat man nochmals alles gegeben und die Win­ter­vor­räte aufge­braucht.»Anstelle von Wet­tersegen gibt’s heute Autoseg­nun­gen Das UNESCO-Abkom­men habe let­ztlich nicht die Auf­gabe, vom Ausster­ben bedro­ht­es Volks­brauch­tum zu schützen, so Bern­hard Lind­ner. Das Gegen­teil sei der Fall. «Bild­starkes Brauch­tum wirkt anziehend. Viele Leute fahren mit­tler­weile extra zu Prozes­sio­nen ins Tessin.» Es sei allerd­ings logisch, dass gewisse Bräuche an Bedeu­tung ver­lieren und möglicher­weise ver­schwinden. Als Beispiel nen­nt Bern­hard Lind­ner den Wet­tersegen. «Heute find­en wir beim Grossis­ten das ganze Jahr über das­selbe Ange­bot, unab­hängig vom Wet­ter. Wir haben gar kein Ver­ständ­nis mehr dafür, dass schlecht­es Wet­ter früher Hunger bedeuten kon­nte.» Inter­es­sant sei überdies, dass sich in Anbe­tra­cht neuer Äng­ste in Anbe­tra­cht unser­er verän­derten Lebenswelt neues Brauch­tum entwick­le. Anstelle von Wet­tersegen fän­den halt Töff- und Trak­torseg­nun­gen statt. «Die Angst vor Verkehrsun­fällen ist bei uns mit­tler­weile greif­bar­er als jene vor dem Hunger.»Andreas C. Müller  Christlich­es Brauch­tumIm Rah­men eines unlängst abgeschlosse­nen UNE­SO-Abkom­mens soll imma­terielles Kul­turgut gesam­melt und doku­men­tiert wer­den. Zum imma­teriellen Kul­turgut gehören zahlre­iche christliche Bräuche und Tra­di­tio­nen. Die diesjährige Som­merserie «Mit allen Sin­nen» ver­ste­ht sich als Pilot für eine weit­er­führende Rei­he, in der Hor­i­zonte ab August Monat für Monat christlich­es Brauch­tum vorstellen und erk­lären wird. In der fol­gen­den Aus­gabe disku­tieren der Volk­skundler Kurt Lus­si und der Aar­gauer The­ologe Thomas Jenel­ten über die Bedeu­tung von religiösem Brauch­tum für die Gesellschaft zu ver­schiede­nen Zeit­en.
Redaktion Lichtblick
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