Reden, zuhö­ren, han­deln: Wir sind an einem Wendepunkt

  • Vom 4.–12. Novem­ber 2023 fin­det die Woche der Reli­gio­nen statt.
  • Rund 100 Ver­an­stal­tun­gen laden zu Begeg­nung und Dia­log zwi­schen den Reli­gio­nen und Kul­tu­ren ein. Orga­ni­siert wird die Woche vom inter­re­li­giö­sen Netz­werk IRAS COTIS.
  • Anläss­lich der Woche der Reli­gio­nen erscheint jähr­lich die inter­re­li­giö­se Zei­tung «zVi­si­te».
  • Die «zVisite»-Redaktion hat vier Men­schen mit unter­schied­li­chen Reli­gio­nen ein­ge­la­den, den inter­re­li­giö­sen Dia­log weiterzudenken.

Vivek Shar­ma: Ich lebe in Olten, bin Hin­du und bekom­me als Reli­gi­ons­fer­ner nur wenig vom inter­re­li­giö­sen Leben mit. Ich war auch noch nie im Haus der Reli­gio­nen in Bern, das näch­stes Jahr sein zehn­jäh­ri­ges Bestehen fei­ert. Ist es ein Bio­top, oder hat es eine Aus­strah­lung über die
die Regi­on hin­aus?

Rifa’at Lenzin: In der gan­zen deutsch­spra­chi­gen Schweiz ist das Haus der Reli­gio­nen ein Begriff. Auch weil es nun doch schon eine lan­ge Geschich­te hat.
David Leut­wy­ler: Es strahlt auch inter­na­tio­nal aus: Ber­lin und Wien ori­en­tie­ren sich dar­an. Es gibt Kon­tak­te nach New York, To­ron­to, Han­no­ver, Mün­chen, Salz­burg und Jeru­sa­lem. Bot­schaf­ter gehen ins Haus der Reli­gio­nen, um es ihren Dele­ga­tio­nen vorzustellen.

Ein Pro­jekt mit Aus­strah­lung. Gibt es schon Nach­ah­mer?
Noë­mi Knoch: Ja, es ist ein Pro­jekt, das inspi­riert. So wur­de etwa nach dem Vor­bild in Bern ein «Haus der Reli­gio­nen» mit vier Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten in Sri Lan­ka gegrün­det. Auch hier in der Schweiz hat das Haus eine Brei­ten­wir­kung, die durch das kul­tu­rel­le Pro­gramm, die Bil­dungs­an­ge­bo­te und Work­shops erreicht wird.
Leut­wy­ler: Im Haus der Reli­gio­nen fin­det ja nicht nur «kon­zi­pier­ter» inter­re­li­giö­ser Dia­log statt. Dar­über hin­aus sind die einen wegen des Mit­tag­essens da, ande­re fürs Gebet, wie­der ande­re besu­chen einen Sprach­kurs. Die­ses Geflecht ver­schie­den­ster Men­schen gene­riert neue Fra­gen des Zusam­men­le­bens. Das Haus der Reli­gio­nen ist ein Zei­chen der Hoff­nung auf ein respekt­vol­les Zusam­men­le­ben in einer mul­ti­kul­tu­rel­len Welt.
Lenzin: Man soll­te auch beden­ken, dass es in der Schweiz auf dem Gebiet des inter­re­li­giö­sen Dia­logs nicht nur das Haus der Reli­gio­nen gibt, son­dern noch vie­le ande­re Gre­mi­en und Foren. Eta­bliert hat sich lan­des­weit bei­spiels­wei­se seit über 15 Jah­ren die Woche der Reli­gio­nen, orga­ni­siert von Iras Cotis, der Inter­re­li­giö­sen Arbeits­ge­mein­schaft in der Schweiz. Oder die Inter­re­li­giö­se Dia­log- und Akti­ons­wo­che IDA in der Ost­schweiz. Schweiz­weit gibt es auch den Tag der offe­nen Moschee. Jedes Dia­log­ge­fäss hat ein ande­res Ziel­pu­bli­kum und eine ande­re Wir­kungs­wei­se – wenn viel­leicht auch nur im Kleinen.

Mit­ein­an­der im Gespräch

Am Gespräch im mul­ti­kul­tu­rel­len Ber­ner Tscharn­er­guet haben teil­ge­nom­men:
Noë­mi Knoch: Pro­gramm­lei­te­rin ad inte­rim im Haus der Reli­gio­nen, Mit­be­grün­de­rin der Initia­ti­ve Inner­jü­di­scher Dia­log.
David Leut­wy­ler: Beauf­trag­ter für kirch­li­che und reli­giö­se Ange­le­gen­hei­ten der Justiz‑, Gemein­de- und Kir­chen­di­rek­ti­on Bern.
Rifa’at Lenzin: Islam­wis­sen­schaft­le­rin, Prä­si­den­tin von Iras Cotis, Inter­re­li­giö­se Arbeits­ge­mein­schaft in der Schweiz.
Vivek Shar­ma: Elek­tro­in­ge­nieur und Slam-­Po­et, er ist in Indi­en auf­ge­wach­sen, hat in den USA stu­diert und lebt in Olten.

Vor 31 Jah­ren wur­de der Ver­ein Iras Cotis gegrün­det, der von 70 Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten und Orga­ni­sa­tio­nen getra­gen wird, vor 21 Jah­ren der Ver­ein Haus der Reli­gio­nen. Wo sehen Sie die Anfän­ge des inter­re­li­giö­sen Dia­logs?
Lenzin: In der Schweiz wur­de an die Erfah­rung ange­knüpft, die man bei der inner­christ­li­chen Öku­me­ne gemacht hat­te. Bei Iras Cotis, einer der Pio­nier­or­ga­ni­sa­tio­nen auf die­sem Gebiet, ging es anfäng­lich dar­um, Geflüch­te­ten – damals waren es Men­schen aus Indo­chi­na – ­zu ermög­li­chen, ihre reli­giö­sen Bedürf­nis­se wahr­zu­neh­men.
Leut­wy­ler: Am Anfang des Dia­logs stan­den kon­kre­te Bedürf­nis­se, etwa nach sakra­len Räu­men, denn die Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten hat­ten – und haben nach wie vor – gros­se Schwie­rig­kei­ten, sol­che zu fin­den.
Knoch: Nach dem Zwei­ten Welt­krieg stand der christ­lich-jüdi­sche Dia­log im Fokus. 1946 wur­de die christ­lich-jüdi­sche Arbeits­ge­mein­schaft CJA gegrün­det. Seit den 1990er-Jah­ren kamen wei­te­re Orga­ni­sa­tio­nen dazu, die auch als Reak­ti­on auf das aktu­el­le Welt­ge­sche­hen und den demo­gra­fi­schen Wan­del ent­stan­den. Der inter­re­li­giö­se Dia­log ver­än­dert und ent­wickelt sich. Immer wie­der ste­hen wir vor Anfängen.

Wur­den die Zie­le der inter­re­li­giö­sen Pio­nie­re erreicht?
Leut­wy­ler: Es ist ja nicht die Idee, Zie­le zu errei­chen, die dann als erle­digt gel­ten. Erst aus der Pra­xis des Zusam­men­le­bens ergibt sich der Dia­log. Das Leben, in wel­chem ver­schie­de­ne Kul­tu­ren und Reli­gio­nen zusam­men­tref­fen, fin­det über­all im All­tag statt: in Schul­klas­sen, in der Innen­stadt, im Büro. Es geht um gegen­sei­ti­ges Inter­es­se, respekt­vol­les Begeg­nen, aber auch um Regeln und um Finan­zen. So gese­hen ist man noch lan­ge nicht am Ziel.
Lenzin: Im Haus der Reli­gio­nen scheint zumin­dest das Zusam­men­le­ben im Klei­nen gelun­gen zu sein. Es gab vie­le Schwie­rig­kei­ten, vie­les muss­te aus­ge­han­delt wer­den. Etwa mit Blick auf den Umgang mit Toten im Haus oder die Durch­füh­rung von Pro­zes­sio­nen. Es gilt immer wie­der, einen Kon­sens zu fin­den. Das ist kein Pro­zess, der ein­fach abge­schlos­sen wer­den kann.
Knoch: Das Ziel, ein Haus mit ver­schie­de­nen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten unter einem Dach zu bau­en, mit wür­di­gen Orten fürs Fei­ern und Beten, wie auch Aus­tausch­or­te im «Dia­log­be­reich» zu schaf­fen, wur­de erreicht. Im Haus der Reli­gio­nen – Dia­log der Kul­tu­ren tref­fen Men­schen mit unter­schied­li­chen reli­giö­sen und kul­tu­rel­len Hin­ter- oder Vor­der­grün­den auto­ma­tisch auf­ein­an­der. Es ist ein Neben- und ein Mit­ein­an­der. Und doch: Zu tun gibt es noch sehr viel.

Wegen des Feld­ge­bets unter Anlei­tung des Imams Muris Bego­vic geriet die Armee­seel­sor­ge kürz­lich in den Fokus der SVP. Sie nahm die Öff­nung in der Armee zum Anlass, Vor­ur­tei­le gegen ande­re Reli­gio­nen in der Bevöl­ke­rung zu schü­ren. Wie kann dem begeg­net wer­den?
Leut­wy­ler: Zum einen mit einer umfas­sen­den Infor­ma­ti­on, die in die­sem kon­kre­ten Fall fehl­te. Hier hät­te man wis­sen müs­sen, dass Armee­an­ge­hö­ri­ge in aller Regel an Weih­nach­ten, Ostern und Pfing­sten frei haben. Hin­ge­gen lei­sten die mus­li­mi­schen Armee­an­ge­hö­ri­gen am Tag des Opfer­fe­stes, dem höch­sten isla­mi­schen Fei­er­tag, ganz nor­mal Dienst. So kam es auch, dass sie in einer Pau­se das gemein­sa­me Gebet ver­rich­te­ten.
Lenzin: Vor­aus­set­zung ist immer, dass die Bereit­schaft zum Dia­log vor­han­den ist. Par­tei­en und Medi­en, die ein nicht exi­stie­ren­des Pro­blem kre­ieren, um es dann bewirt­schaf­ten zu kön­nen, sind weder an einem Dia­log noch an einer sach­li­chen Dis­kus­si­on inter­es­siert.
Leut­wy­ler: Umso wich­ti­ger ist es, mit An­dersdenkenden in Kon­takt zu sein. Wenn wir nur in unse­ren Bubbles unter­wegs sind, ver­hin­dert das den Aus­tausch. Erst im direk­ten Kon­takt wächst Verständnis.

Wie funk­tio­nie­ren Staat und Reli­gi­on zusam­men? Gibt es Gre­mi­en als Ansprech­part­ner? Wo sind die Schnitt­stel­len?
Lenzin: Bezüg­lich der Lan­des­kir­chen ist das Ver­hält­nis Staat-Reli­gi­on gere­gelt. Die übri­gen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten exi­stie­ren für den Staat nicht. Mus­li­me haben zwar als Indi­vi­du­en Rech­te, sind aber als Reli­gi­ons­ge­mein­schaft im luft­lee­ren Raum. Mich hat immer wie­der erstaunt, wie wenig Bewusst­sein in der Bevöl­ke­rung für die­ses Pro­blem vor­han­den ist. Erfreu­li­cher­wei­se gibt es nun in eini­gen Kan­to­nen, allen vor­an Zürich und Bern, Bestre­bun­gen, nicht aner­kann­te Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten bes­ser ein­zu­bin­den.
Leut­wy­ler: Die Dis­kus­si­on, dass es zwi­schen den Reli­gio­nen in der Schweiz eine gros­se Schief­la­ge bezüg­lich der finan­zi­el­len Res­sour­cen gibt, ist in den letz­ten Jah­ren brei­ter gewor­den. Für sol­che Her­aus­for­de­run­gen kön­nen im inter­re­li­giö­sen Dia­log Lösun­gen ent­wickelt werden.

Laut Umfra­gen bezeich­nen sich über dreis­sig Pro­zent der Schwei­zer Bevöl­ke­rung als kon­fes­si­ons­los. Inwie­fern ändert sich die Rol­le des inter­re­li­giö­sen Dia­logs, wenn die Gesell­schaft immer säku­la­rer wird?
Leut­wy­ler: Reli­gi­on ist Kern unse­res Kalen­ders, unse­rer Spra­che, unse­rer Bau­ten. Reli­gi­on ist über­all und nicht von der Kul­tur zu tren­nen. Ich emp­fin­de es als Schwie­rig­keit, wenn Reli­gi­on zuneh­mend vom All­tag abge­trennt und ledig­lich als «Gebet» oder «Ein­hal­tung von Nor­men» ver­stan­den wird.
Knoch: Ich glau­be, dass man im Dia­log auch in einer immer säku­la­re­ren, reli­gi­ons­kri­ti­sche­ren Gesell­schaft mehr errei­chen kann.

Wel­ches ist Ihr Fazit?
Lenzin: Der inter­re­li­giö­se Dia­log ist an einem Wen­de­punkt, weil nach­fol­gen­de Gene­ra­tio­nen womög­lich ande­re Anlie­gen haben. Und vor allem muss es im Zusam­men­le­ben ver­mehrt dar­um gehen, nicht nur zu reden, son­dern auch zu han­deln.
Knoch: Eine wei­ter­hin zuneh­men­de Pro­fes­sio­na­li­sie­rung und struk­tu­rel­le gesell­schaft­li­che Ein­bet­tung ist gefragt. Wir müs­sen der sprach­li­chen Viel­falt, der Ver­la­ge­rung gesell­schaft­li­cher Dis­kus­sio­nen in sozia­le Medi­en und der Betei­li­gung ver­schie­de­ner poli­ti­scher Ebe­nen gerecht wer­den. Dafür braucht es adäqua­te Ressourcen.

Marie-Christine Andres Schürch
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