Radio lie­fert mehr als blos­se Information

Radio lie­fert mehr als blos­se Information

  • Am 4. März ent­schei­det die Schweiz über die Bei­be­hal­tung der Radio- und Fern­seh­emp­fangs­ge­büh­ren. Deren Abschaf­fung hät­te wohl auch Kon­se­quen­zen für die Reli­gi­ons­sen­dun­gen. Hori­zon­te beglei­te­te die Fach­re­dak­ti­on Reli­gi­on von Schwei­zer Radio SRF bei der Arbeit.
  • Schwei­zer Radio und Fern­se­hen SRF pro­du­zie­ren unter dem Label «Stern­stun­den Reli­gi­on» ins­ge­samt elf ver­schie­de­ne Reli­gi­ons­sen­dun­gen. Sie­ben davon sind Radio­pro­duk­tio­nen, die zwi­schen 60‘000 und 260‘000 Höre­rin­nen und Hörer erreichen.
 Hoch über Basel im ruhi­gen Bru­der­holz­quar­tier ist ein Teil des Radio SRF, genau­er der Bereich Kul­tur, daheim. Hier arbei­tet auch die Radio-Fach­re­dak­ti­on Reli­gi­on. Am Emp­fang trifft Judith Wipf­ler auf Lukas Amstutz. Die refor­mier­te Theo­lo­gin ist die Team-Lei­te­rin der Radio-Fach­re­dak­ti­on Reli­gi­on. Der men­no­ni­ti­sche Pastor will sei­ne näch­ste Radio­pre­digt ein­spre­chen. Judith Wipf­ler muss den Kopf in den Nacken legen, um den hoch­ge­wach­se­nen Mann zu begrüs­sen: «Schön bist du da». Lukas Amstutz lächelt.

Erst räus­pern, dann sprechen

Ankunft im Stu­dio: Als erstes fällt auf, wie­viel Ein­fluss die Umge­bung auf den Geräusch­pe­gel hat. Das Stu­dio ist so aus­ge­klei­det, dass jedes Neben­ge­räusch geschluckt wird. Es geht um die Stim­me, um nichts ande­res. Lukas Amstutz nimmt vor einem Mikro­fon Platz, brei­tet sei­ne Blät­ter aus. Judith Wipf­ler geht in den Neben­raum. Dort: Ein hoher gros­ser Tisch, vie­le Bild­schir­me, noch mehr Knöp­fe sowie Schie­be­reg­ler, Mikro­fo­ne. Zet­tel hän­gen an den Wän­den, «Ach­tung Auf­nah­me» steht in roten Buch­sta­ben dar­auf. Eine gros­se Glas­schei­be gewährt Ein­blick und Durch­blick in wei­te­re Stu­di­os. Bevor Lukas Amstutz los­legt, ermu­tigt Judith Wipf­ler ihn: «Räus­pe­re dich ruhig, huste ein paar Mal und dann star­test du, wenn du bereit bist!» Eini­ge Augen­blicke spä­ter fängt Lukas Amstutz an und auf einem Bild­schirm läuft sicht­bar die digi­ta­le Auf­nah­me.

Lei­se­ste Neben­ge­räu­sche stören

«Ein Mund­ge­räusch», sagt Judith Wipf­ler plötz­lich und zeigt auf einen ein­zel­nen roten senk­rech­ten Strich in der Audio­da­tei auf dem Bild­schirm. Judith Wipf­ler fährt mit dem Zei­ge­fin­ger dem roten Bal­ken auf einem Bild­schirm ent­lang: Wo gespro­chen wird, wölbt sich der Bal­ken auf meh­re­ren Zen­ti­me­tern Län­ge ober­halb und unter­halb der Mit­te aus. Wo geschwie­gen wird, sieht man nur eine dün­ne Linie. Ein­zel­ne senk­rech­te Aus­schlä­ge, mil­li­me­ter­breit, ent­lar­ven die Mund­ge­räu­sche. Die ent­ste­hen wenn der Spre­chen­de sei­nen Mund öff­net und stö­ren auf dem Sen­der; sie müs­sen spä­ter raus­ge­schnit­ten wer­den. Der Ver­gleich hinkt, doch es erin­nert an das Prü­fen eines Tex­tes auf Recht­schrei­bung und Inter­punk­ti­on, bevor man ihn abschickt.«Je nach Eigen­art der Spre­chen­den dau­ert das zwi­schen 15 und 20 Minu­ten», erklärt Judith Wipf­ler. Sie schaut kon­zen­triert, rech­net nach. Acht bis zehn Minu­ten Radio­pre­digt sei­en das Ergeb­nis von rund zwei Stun­den Arbeit, kom­plett von der Ter­min­ver­ein­ba­rung mit dem Spre­cher bis zum Abspie­len der Pre­digt im Radio. Zur Arbeit an einer Radio­pre­digt gehört auch, dass Judith Wipf­ler das Skript der Pre­digt vor­her kri­tisch liest. «Ich «höre» beim Lesen bereits, ob der Text auch gespro­chen funk­tio­niert», erklärt Judith Wipf­ler, aus ihr spre­chen 17 Jah­re Erfah­rung als Radio­re­dak­to­rin. Wäh­rend der Auf­nah­me springt sie plötz­lich zur Tür und schal­tet die Decken­lam­pe aus, das fei­ne Sum­men lenkt sie ab.

Tages­ak­tu­el­ler Jour­na­lis­mus für die Ohren

Auf­ge­zeich­ne­te Radio­pre­dig­ten sind das eine. Doch Radio ist auch ein tages­ak­tu­el­les Medi­um. Der Haupt­an­teil ihrer Arbeit besteht denn auch aus jour­na­li­sti­schen Bei­trä­gen, erklärt Judith Wipf­ler. Ein ent­schei­den­der Moment ist des­halb die täg­li­che, mor­gend­li­che «Desk­Sit­zung». Im Ange­sicht eines gros­sen Bild­schirms, der fort­lau­fend alle Radio­sen­dun­gen zeigt, wer­den die Inhal­te bespro­chen. Unter Lei­tung von San­dra Leis, die heu­te als Che­fin vom Dienst auf Radio SRF 2 Kul­tur wal­tet, gehen die ver­schie­de­nen Fach­re­dak­to­rin­nen und Fach­re­dak­to­ren ihre The­men durch. Das muss schnell gehen, in einer Vier­tel­stun­de müs­sen alle tages­ak­tu­el­len The­me­nin­puts bespro­chen sein. Judith Wipf­ler gibt ein Bei­spiel: «Mit­te Janu­ar ent­schied die refor­mier­te Syn­ode in Zürich, dass alle refor­mier­ten Stadt­zür­cher Kirch­ge­mein­den zu einer Kirch­ge­mein­de Zürich zusam­men­ge­hen sol­len. Da muss­te ich dann abends rasch live in die Sen­dung von Kul­tur-Aktu­ell und das erklä­ren».An dem Mor­gen, an dem Lukas Amstutz zur Pre­digt kommt, geht Rapha­el Rauch für die Radio-Fach­re­dak­ti­on Reli­gi­on an die «Desk­Sit­zung». Rapha­el Rauch ist der Frisch­ling im Team, seit April 2017 arbei­tet der jun­ge Theo­lo­ge, Poli­to­lo­ge und Jour­na­list im Team von Judith Wipf­ler. Heu­te gibt es für die Fach­re­dak­ti­on Reli­gi­on Radio SRF kei­ne  spe­zi­el­len The­men. Eilig geht es zur Redak­ti­ons­sit­zung ein Stock­werk höher. Aus dem Fen­ster sieht man in der Fer­ne das neue SBB-Gebäu­de direkt am Bahn­hof. Drei Stock­wer­ke wird SRF dort zur Mie­te bezie­hen.

Taugt ein Stu­dio für die Hosentasche?

Am Tisch sit­zen neben Team­lei­te­rin Judith Wipf­ler noch Maya Bränd­li, Kath­rin Uelt­schi und Rapha­el Rauch. Sie gehen den Pro­duk­ti­ons­plan für die näch­sten «Perspektiven»-Sendungen durch. Was für The­men kom­men in Fra­ge, wo las­sen sich gute Ori­gi­nal­tö­ne ein­fan­gen, kön­nen sich die Redak­to­rin­nen und der Redak­tor gegen­sei­tig mit Audio­schnip­seln aus­hel­fen? Die Zeit ver­geht wie im Flug.Zur zwei­ten Hälf­te der Redak­ti­ons­sit­zung erschei­nen wei­te­re Mit­ar­bei­ten­de: Redak­to­rin Noe­mi Grad­wohl und Ton­tech­ni­ker Lukas Unholz. Letz­te­rer stellt dem Team ein neu­es Repor­ter­werk­zeug für das Smart­phone vor. Es ermög­licht Tele­fon­in­ter­views in Stu­dio­qua­li­tät und ent­puppt sich ins­ge­samt als Stu­dio für die Hosen­ta­sche. Die Anwe­sen­den wer­fen sich skep­ti­sche Blicke zu, stel­len kri­ti­sche Rück­fra­gen. Sie wol­len über­zeugt wer­den.Ob an der «Desk­Sit­zung», bei der The­men­pla­nung oder wäh­rend der kur­zen Gesprä­che beim Dahin­ei­len von A nach B: Hier arbei­ten Men­schen, die von «ihrem» Medi­um, dem Radio, zutiefst über­zeugt und mit Feu­er­ei­fer bei der Sache sind.

Infor­ma­ti­on und mehr beim Wäscheglätten

Elf Sen­dun­gen ins­ge­samt ver­ant­wor­ten die «Stern­stun­den Reli­gi­on» unter Lei­tung von Judith Hard­eg­ger. Sie­ben davon sind Radio­pro­duk­tio­nen und kom­men aus der ihr ange­glie­der­ten Fach­re­dak­ti­on Reli­gi­on Radio SRF unter Judith Wipf­lers Lei­tung. Neben Radio­pre­digt und Radio­got­tes­dienst ver­ant­wor­tet sie wöchent­lich die Sen­dun­gen «Ein Wort aus der Bibel», «Blick­punkt Reli­gi­on», «Text zum Sonn­tag», «Per­spek­ti­ven» und nicht zuletzt den «Zwi­schen­halt» auf Radio SRF 1, in dem die belieb­ten «Glocken der Hei­mat» erklin­gen.Die­se Sen­dun­gen lie­fern – unter­schied­lich auf­be­rei­tet – ver­tie­fen­de Hin­ter­grün­de zu aktu­el­len The­men in Kir­che und Gesell­schaft. Das reicht von Bericht­erstat­tung über die Pasto­ral­räu­me über die Hei­li­ge Vere­na und die Refor­ma­ti­on bis hin zu her­aus­for­dern­den The­men wie der «Segen für alle». Bei den Pre­dig­ten wird auf eine gute Ver­tei­lung der Spre­che­rin­nen und Spre­cher auf die ver­schie­de­nen Kon­fes­sio­nen geach­tet. Für jeden Geschmack ist etwas dabei, nicht nur inhalt­lich, son­dern auch vom For­mat her. Die eine Sen­dung kommt mit Musik und in Mund­art daher, die ande­re beschränkt sich auf Mode­ra­ti­on und Ori­gi­nal-Töne. Was in einer Sen­dung nur kurz ange­ris­sen wer­den kann, fin­det Ver­tie­fung zu einem spä­te­ren Zeit­punkt. Je nach Sen­dung wer­den 60‘000 bis 260‘000 Höre­rin­nen und Hörer erreicht.Die­se «glät­ten» beim Lau­schen viel­leicht Wäsche oder rüsten Gemü­se, neh­men die Stim­men aus dem Äther mit auf eine lan­ge Auto­fahrt oder das hei­mi­sche Sofa. Radio geht fast immer und fast über­all, denn kein Bild for­dert Auf­merk­sam­keit. Gleich­zei­tig trans­por­tiert Radio mehr als Drucker­schwär­ze: Es ist ein Unter­schied, ob die For­mu­lie­run­gen einer burn­out-betrof­fe­nen Pfar­re­rin in gedruck­ter Form vor­lie­gen oder ob ihre beben­de Stim­me für jeden hör­bar nach Wor­ten tastet.

Spre­che­rin­nen und Spre­cher sind trotz Erfah­rung noch nervös

Zurück ins Stu­dio: Lukas Amstutz gehört seit fünf Jah­ren zum Radio­pre­digt-Team und ver­tritt die frei­kirch­li­chen Gemein­schaf­ten. Er hat sei­ne Pre­digt mitt­ler­wei­le ein­mal gespro­chen. Bei einem Wort stol­per­te er, setz­te neu an. Auch das wird spä­ter geschnit­ten. Judith Wipf­ler, die hin­ter dem hohen, halb­run­den Stu­dio­tisch steht, zieht einen Reg­ler am Misch­pult hoch. Jetzt kann sie der Pastor im Neben­raum hören. Judith Wipf­ler bit­tet ihn, die erste Sei­te sei­ner Pre­digt noch­mals zu spre­chen.«Es hören rund 140‘000 Men­schen zu, selbst erfah­re­ne Spre­cher sind noch auf­ge­regt», erklärt die Redak­to­rin. Und tat­säch­lich: Beim zwei­ten Durch­gang ist der Sprech­fluss von Lukas Amstutz deut­lich ruhi­ger und ent­spann­ter. Er erklärt die Unter­schie­de zur gewohn­ten Sonn­tags­pre­digt: «Ich habe kei­ne direk­te Reak­ti­on vom Publi­kum. Das ist unge­wohnt. Gleich­zei­tig bin ich sehr fokus­siert auf mich und das, was ich sage». Judith Wipf­ler nickt. Dann beglei­tet sie Lukas Amstutz zum Emp­fang, rennt zwi­schen­durch in die Cafe­te­ria und orga­ni­siert ein Sand­wich für ihn, denn er hat kei­ne Zeit, vor dem näch­sten Ter­min in Ruhe zu essen. Die Ver­ab­schie­dung ist herz­lich. Die Geschich­te vom Guten Hir­ten Auf einem Tisch, vor ver­schie­de­nen Bibel­aus­ga­ben, steht eine alte Holz­fi­gur: Ein Guter Hir­te, leicht lädiert. In Bad Zurz­ach stand die­ser Jesus mit Schäf­lein um den Hals im Archiv der katho­li­schen Pfar­rei St. Vere­na; kei­ner woll­te ihn. Doch Judith Wipf­ler war über eine Hori­zon­te-Repor­ta­ge auf ihn auf­merk­sam gewor­den und fand Gefal­len an der Figur. Sie durf­te sie mit­neh­men und gab ihr ein neu­es Daheim im Radio­stu­dio.Die­ser Bei­trag von Judith Wipf­ler wur­de gesen­det am 31.12.2017 im Syl­ve­ster­pro­gramm von Radio SRF 2 Kul­tur, Mode­ra­ti­on: Patri­cia Moreno. 
Anne Burgmer
mehr zum Autor
nach
soben