
Bild: © Elvert Barnes auf Flickr
Hass und Gewalt im Namen Gottes?
Religion ist eine Quelle von Hass und Krieg – da sind sich viele Menschen heutzutage einig. Vor allem, wenn wir uns anschauen, in welchem Zusammenhang in den Nachrichten über Religion berichtet wird. Aber stimmt das? Legitimieren Religionen an sich Gewalt? Ein Gespräch mit dem Theologen Reinhold Bernhardt.
Gibt es verschiedene Formen religiöser Radikalisierung?
Prof. em. Dr. Reinhold Bernhardt: Ich schlage eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Radikalisierung vor. Auf der einen Seite haben wir die Radikalisierung, die sich im Grenzbereich von Religion und Politik bewegt und die gemeinhin auch als Fundamentalismus bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um «aktivistische Radikalität». In diese Kategorie gehört beispielweise der sogenannte Islamische Staat (IS); diese Art der Radikalisierung findet sich aber auch bei Christinnen und Christen. Denken wir etwa an die Anschläge auf Ärztinnen und Ärzte von Abtreibungskliniken in den USA. Auf der anderen Seite steht eine Art «Rückzugsradikalismus». Ihm gehören sehr strenggläubige Menschen an, die sich eher zurückziehen und überhaupt nicht im Sinn haben, mit Gewalt oder politisch motiviert zu handeln. Beispiele dafür sind die Amischen in den USA oder die Piusbruderschaft auf katholischer Seite. Das ist eine ganz auf die Idee, auf das Zentrum der Religion bezogene Radikalität. Es ging und geht diesen Gläubigen darum, die «radix», lateinisch für Wurzel – daher kommt ja das Wort «radikal» – wiederherzustellen. Alle Erneuerungsbewegungen innerhalb der Religionen haben im Grunde diesen radikalen Impuls.
Ab und zu wird behauptet, es gäbe friedliche und gewalttätige Religionen. Kennen alle religiösen Traditionen Radikalisierung?
Bernhardt: Natürlich. Es gibt in allen Religionen friedfertige Religionsformen und kämpferische. Keinesfalls aber ist das als Wesensmerkmal einer bestimmten Religion oder gar von Religion generell zu verstehen. Menschen jeglicher Religion können sich radikalisieren. Das erleben wir beispielweise, wenn Muslime nach Europa kommen, davor zum Teil mit Religion gar nichts am Hut hatten, sich aber hier mit der Religion ihres Herkunftslandes überidentifizieren. Auch einige Christinnen und Christen radikalisieren sich im Laufe ihres Lebens. Und glauben Sie bloss nicht, das gäbe es im Hinduismus und Buddhismus nicht. Diese beiden Religionen werden von den Menschen oft als friedfertig wahrgenommen, sie denken an den in sich ruhenden Buddha. Natürlich existieren auch ein buddhistischer Fundamentalismus und ein Hindufundamentalismus.
Gibt es bestimmte Umfelder oder Lebenssituationen, in denen sich Menschen häufiger radikalisieren?
Bernhardt: Ja, oft dann, wenn Menschen das Gefühl haben, sie würden marginalisiert und diskriminiert, sie bekämen keine Anerkennung, würden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, hätten keine soziale Heimat.
Aber betrifft das nur Menschen in einer «religiösen Diaspora», oder kann das auch Menschen passieren, die als Christinnen in einem christlichen Land oder als Muslime in einem muslimischen Land leben?
Bernhardt: Auch, natürlich. Der IS ist ein Beispiel. Die Anhänger kamen aus dem sunnitischen Islam, fanden ihn aber so, wie er in ihren Heimatländern umgesetzt wurde, nicht streng genug. Radikalität hat immer mit Strenge zu tun. Die Strenggläubigkeit verbindet sich dann häufig mit der Forderung nach strengeren Regeln in der Politik, in der Gesellschaft, bestimmten Kleidungsvorschriften, einem strengen Strafrecht und so weiter. Ein weiteres wichtiges Motiv ist, die Religion reinzuhalten, vor allem von Einflüssen liberaler Bewegungen. Das finden wir auch im radikalen traditionalistischen Katholizismus, im evangelischen Fundamentalismus, im islamischen Islamismus. In jeder Religion gibt es solche Strömungen. Aber, wie bereits gesagt, kann sich diese Strenge auch ganz nach innen richten, auf die eigene Religiosität.
Welche Funktion hat denn die Religion bei einer Radikalisierung?
Bernhardt: Dazu gibt es verschiedene Theorien. Einige sagen, die Religion wird in Anspruch genommen. Sie bietet gewissermassen den Ressourcenpool, aus dem geschöpft wird. Und da gibt es einiges, was man schöpfen kann, zum Beispiel das Bild eines strengen, richtenden Gottes, der die Abweichler bestraft. Oder die exklusiven Absolutheitsansprüche. Dass es solche Ressourcen in den Religionen gibt, heisst aber nicht, dass die Religionen aus sich heraus zur Radikalität neigen. Die Religionen sind ambivalent, sie haben genauso Impulse für Friedfertigkeit, Versöhnung und Vergebung. Ein «schönes» Beispiel war die Verarbeitung der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA. Die Anschläge waren religiös motiviert, das war eindeutig religiöser Radikalismus. Andererseits hat die Religion sehr viel dazu beigetragen, dieses Trauma zu verarbeiten. Landesweit fanden grosse interreligiöse Gottesdienste statt. Daran sieht man: Radikale können die Religion vor ihren Karren spannen, bis hin zur Legitimation von Terroranschlägen. Menschen können aber auch aus den Religionen Impulse zur Nächstenliebe und Friedfertigkeit schöpfen.
Wie sieht das Weltbild radikalisierter Menschen aus?
Bernhardt: Das ist schwer zu verallgemeinern. Sie haben auf jeden Fall das Bild einer bedrohten Welt, die kein festes Fundament hat, weil dieses durch liberale Bewegungen zerfressen ist und man darauf keine Gesellschaft bauen kann. Es handelt sich um ein Bedrohungsszenario, da ist Angst im Spiel. Daraus entwickelt sich ein Rettungsimpuls, der nun wieder in beiden Richtungen ausschlagen kann. Rettung, in dem man sich ganz herauszieht aus der Welt, oder der Impuls, in die Politik und Gesellschaft hineinzugehen und sie so zu verändern, dass sie Gottes Vorstellungen entsprechen.
Aus religionspsychologischer und soziologischer Sicht: Was treibt Menschen an, sich entweder für den Rückzugsradikalismus oder den aktivistischen Radikalismus zu entscheiden?
Bernhardt: Oft wurde gesagt, religiöse Radikalität sei ein Ausdruck von Persönlichkeitsschwäche. Die Menschen hätten kein eigenes Rückgrat und bräuchten gewissermassen dieses künstliche Rückgrat der Religion. In radikalen Strömungen fänden sie eine Gemeinschaft, die streng zusammenhält, in der sie fest eingebunden sind. Das greift mir zu kurz. Solche psychologischen Motive mögen eine Rolle spielen – ich glaube aber nicht, dass sie entscheidend sind, denn in den radikalen Bewegungen gibt es sehr selbstbewusste und persönlichkeitsstarke Menschen.
Andererseits werden soziologische Gründe genannt: Radikalisierung als Folge von Marginalisierung, zum Beispiel unter Menschen, die vertrieben worden sind. Man fand heraus, dass es in den USA unter den Mitgliedern evangelikaler Gemeinden einen relativ hohen Prozentsatz von Menschen gibt, die umgezogen sind, die also ihre Heimat verloren oder aufgegeben haben, die neue Wurzeln suchen. Ein Herausgerissensein, das Gefühl, auf schwankendem Boden zu stehen, das Erleben eines Kontrollverlusts: «Ich verliere meine Existenzgrundlage. Ich kann meine Familie nicht mehr über Wasser halten. Ich habe keine gesellschaftliche Mitsprache. Ich bin ausgeschlossen, diskriminiert.» Das sind sicher Motive, die eine Rolle spielen können.
Wichtig ist auf der anderen Seite auch, wie die Gemeinschaft strukturiert ist, in der die Entwurzelten nach neuen Wurzeln suchen. Wenn sie von einer charismatischen Autorität geleitet wird, die als Hassprediger auftritt, so kann das gerade junge Menschen, die in einer Orientierungsphase sind, radikalisieren.
Man muss sich jeden Einzelfall neu anschauen und dann für diesen Einzelfall die Antwort finden. Es spielen sicherlich das Psychologische, das Soziologische und das Religiöse zusammen.
All das kann man ja 1:1 auf die politischen radikalen Strömungen anwenden, die momentan gerade in vielen Ländern zu beobachten sind.
Bernhardt: Ja, ganz genau. Das ist genau die gleiche Struktur. Deshalb hatte ich vorhin vom Motiv der Strenge gesprochen. Das zieht sich durch, von Strenggläubigkeit bis zu einer strengen politischen Haltung. Radikalität ist durchdeklinierbar durch verschiedene Fälle.
«Religion ist immer radikalisierungsanfällig, aber sie kann nicht als radikal an sich bezeichnet werden. Sie will den Menschen eine Wurzel geben. Dabei hängt es davon ab, wie die Gläubigen mit der Tradition oder den Grundlagen umgehen. Und dabei spielen dann sehr viele nichtreligiöse Faktoren eine Rolle.»
Mit welchen religiösen Motiven wird radikales Verhalten begründet?
Bernhardt: Das eine ist dieses Bild vom strengen, richtenden, strafenden Gott, von einem Gott, der keine Gnade kennt, der den rechten Weg vorgibt und womöglich sogar vorbestimmt, wen er auf diesen rechten Weg schickt. Ein zweites Motiv ist eine Endzeitstimmung, mit der ein hoher Entscheidungsdruck einhergeht. «Jetzt wird die Spreu vom Weizen getrennt, und du musst beim Weizen sein.» So, als würde die gesamte Weltgeschichte auf diesen Moment hinlaufen. Die religiös Radikalen sehen sich an vorderster Front stehend und im Auftrag Gottes handelnd.
Einige dieser Motive gelten für verschiedenen Religionen, während andere spezifisch für bestimmte Religionen gelten. So gibt es im Koran den sogenannten Schwertvers (Sure 9:5), der zur Verfolgung der Ungläubigen aufruft. Radikale Muslime sehen darin einen Auftrag zum gewaltsamen Dschihad. Andere Muslime verstehen «Dschihad» dagegen im Sinne eines Rückzugsradikalismus, also bezogen auf die eigene Frömmigkeit. Wir können festhalten: Alles hängt vom Gebrauch ab, den man von religiösen Motiven macht. Sie können als Versatzstücke oder Ressourcen herangezogen werden, um radikale Haltungen mit Inhalt zu füllen. Sie können in ein radikales Denksystem eingebaut werden. Aber diese Motive sind nicht an sich fundamentalistisch und können auch anders ausgelegt werden.
Was kann man tun, um einen radikalisierten Mensch zurück in die Gesellschaft zu holen?
Bernhardt: Was von Expertinnen und Experten empfohlen wird und mir auch einleuchtet, ist, Menschen zu integrieren, also sie mit Verantwortung zu betrauen, ihnen Aufgaben zu geben, ihnen Anerkennung zu geben, ihnen das Gefühl zu geben: «Diese Gesellschaft will dich, du hast hier deinen Platz, du musst ihn dir nicht erkämpfen, er ist dir gegeben.» Den Menschen mit Offenheit und Aufnahmebereitschaft begegnen, ihnen Integrationsangebote machen. Das ist aber auch kein Allheilmittel.
Welche Rolle spielt die Medienberichterstattung für die Wahrnehmung radikalisierter Religion?
Bernhardt: Sie spielt eine wichtige Rolle, und zwar dahingehend, dass sie Religion und hier besonders den Islam vorzugsweise von radikalen Randerscheinungen her, als Unterstützerin von Gewalt, darstellt. Damit geben die Medien den Religionskritikern immer wieder neue Nahrung, und das wiederum führt dazu, dass religiöse Menschen in die Defensive gedrängt werden und meinen, sich wehren zu müssen. Bei manchen von ihnen kann das zur Radikalisierung führen. Auf der anderen Seite wird kaum darüber berichtet, dass es auch viele religiöse Autoritäten – in Moscheen, in Kirchgemeinden, wo auch immer – gibt, die die friedliche Seite ihrer Religion betonen. Sie leisten wichtige Multiplikatorendienste. Aber das interessiert die Medien weniger. Diese einseitige Berichterstattung und die Sensationsgier, die damit verbunden ist, sind ein grosser Teil des Problems.
«Insgesamt sieht man, wie viele Gesichter das Phänomen der Radikalität hat. Es ist eigentlich nicht sinnvoll, dafür nur den einen Begriff zu verwenden. Und trotzdem braucht es irgendwie einen allgemeinen Begriff, weil sich die Phänomene dann doch wieder ähneln.»
Wenn wir an religiöse Radikalisierung denken, kommen uns als erstes Dschihadisten in den Sinn. Gibt es in der Schweiz auch Christinnen und Christen, die sich radikalisieren?
Bernhardt: Ja klar. Es gibt Christinnen und Christen in der Schweiz, in evangelikalen und charismatischen Gemeinden, die in ihrer Frömmigkeit radikal sind und eine Art «Heilsegoismus» vertreten. Ihr Motto: «Wenn du zu Gott kommen willst, dann ist das der einzige Weg, auf den musst du gehen.» In diesem Zusammenhang wird immer Johannes 14,6 zitiert: «Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater ausser durch mich.» In diesen evangelikalen Gruppen findet sich ein Radikalismus, der nichts mit Politik oder Gewalt am Hut hat, der aber gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft sehr restriktiv sein kann. Er will über sämtliche Lebensbereiche bestimmen, bis hin zur Kontrolle des Sexuallebens oder der Gesinnung. Das steht eigentlich allem entgegen, was christlichen Glauben ausmacht. Denn Glaube ist Vertrauen und Vertrauen ist mit Zwang unvereinbar. Für manche Menschen ist das Modell dieser Gruppierungen attraktiv. Sie haben das Gefühl: «Da kümmert sich jemand um mich.» Und das ist oft ja auch tatsächlich der Fall. Eine Nachbarin von mir sagte, dass die evangelische Kirchgemeinde sich, als sie hierhergezogen ist, in keinster Weise um sie gekümmert habe. Mitglieder einer Freikirche hingegen kamen und haben nach ihr geschaut. Für manche Menschen in einer bestimmten Lebensphase kann das sehr hilfreich sein, wenn sie in solchen Gruppierungen Halt finden. Vor allem Jugendliche, die auf der Suche nach der eigenen Identität sind, schliessen sich gern diesen Gemeinschaften an. Allerdings gehen sie dann auch wieder, wenn sie das Gefühl haben, dass sie dort immer das Gleiche hören. Irgendwann reicht ihnen das nicht mehr, weil es intellektuell doch sehr bescheiden sein kann, was dort geboten wird. Und dann ziehen sie auch wieder weiter.
Problematisch wird es, wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, sich von der Gruppe zu trennen, wenn die Aussteiger einer Art Verfolgung ausgesetzt werden.
Konkrete Massnahmen gegen Radikalisierung in der Schweiz
Die Geschäftsstelle des Sicherheitsverbunds Schweiz hat zusammen mit Behörden aus dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie Wissenschaftlern/innen 2022 den «Nationalen Aktionsplan der Schweiz zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus» erstellt. Der Plan konzentriert sich auf Prävention, Schutz und Krisenvorsorge und legt besonderen Wert auf die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und die Einbindung der Gesellschaft. Daraus ergeben sich vier Wirkungsfelder mit verschiedenen konkreten Massnahmen. 1. Erkennen und Verminderung von Radikalisierungsursachen, 2. Sensibilisierung und Erhöhung des Wissensstands, 3. Vernetzung und Informationsmanagement, 4. Interventionen bei gefährdeten und radikalisierten Personen.