Priorin Irene und die Kraft ihrer Vision

Priorin Irene und die Kraft ihrer Vision

  • Seit zwanzig Jahren führt Pri­or­in Irene Gassmann das Kloster Fahr.
  • Die Kraft ihrer Vision hat das Kloster im Lim­mat­tal zu einem Ort gemacht, wo die Liebe zu Gott und zum Leben erfahrbar ist.
  • Ein Gespräch über göt­tliche Fügung und über den Mut, Gren­zen zu über­schre­it­en.

Pri­or­in Irene, als Sie im Jahr 2003 gewählt wur­den, lebte im Fahr noch ein Propst, der das Kloster gegen aussen repräsen­tierte. Wo ste­ht das Kloster heute?
Selb­st lebt und han­delt man stets im Jet­zt und merkt gar nicht, was sich alles entwick­elt. Aber wenn ich zurückschaue, sehe ich, wie viel sich in diesen zwanzig Jahren entwick­elt hat. Schon rein äusser­lich ist viel sicht­bar, und ich spüre, dass auch die Gemein­schaft gewach­sen ist. Es hat ein Prozess stattge­fun­den, der eigentlich para­dox ist: alle Schwest­ern wer­den älter, gle­ichzeit­ig habe ich das Gefühl, wir wer­den immer lebendi­ger. Diese Lebendigkeit ist wun­der­schön, ich spüre, was alles möglich ist.

Im Jahr 2003 hat man uns als Gemein­schaft von Frauen kaum wahrgenom­men. Viele Leute hiel­ten das Fahr für das Kloster von Pater Hilar­ius, unserem Propst. Es war ein anspruchsvoller Prozess, unseren Platz einzunehmen. Im Jahr 2006 zog sich der Propst nach Ein­siedeln zurück und im Lim­mat­tal gab es einen Auf­schrei: «Ein Frauen­kloster ohne Mann!». Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Nach und nach haben wir Schwest­ern dann das Netz zu Men­schen von aussen geknüpft. Im Jahr 2008 wurde der Fre­un­deskreis gegrün­det. Sei­ther haben sich enorme Wel­ten geöffnet. Heute nimmt man uns wahr als Schwest­ernge­mein­schaft vom Kloster Fahr. [esf_wordpressimage id=47350 width=half float=right][/esf_wordpressimage]

Im Jahr 2013 haben Sie als Pri­or­in entsch­ieden, die Bäuerin­nen­schule zu schliessen, in der Sie sel­ber lange Schullei­t­erin waren. Was denken Sie heute über diesen Schritt?
Ich hätte mir vor zwanzig Jahren nie vorstellen kön­nen, die Bäuerin­nen­schule zu schliessen. Als mir gegenüber jemand die Schule als Bal­last beze­ich­nete, den wir abw­er­fen müssen, war ich zwei Tage lang verärg­ert. Dann merk­te ich, dass die Per­son recht hat­te. Die Schlies­sung war ein schmer­zlich­er Prozess, der jedoch gle­ichzeit­ig Luft und Raum für Neues gab. Für mich ist in all diesen Verän­derung­sprozessen wichtig, dass man nicht nur etwas ver­liert, son­dern eine Vision hat, was in diesem Freiraum entste­hen kön­nte. Loslassen FÜR etwas.

Im Fall der Schule hat sich das wun­der­bar gefügt. Im Jahr 2012 began­nen wir die Sanierung der Kloster­an­lage und merk­ten bald, dass es nicht geht, während der Sanierung im Kloster zu wohnen. Genau da wurde in der Schule Raum frei.  Zuerst zügel­ten der Kloster­laden und die Para­menten­werk­statt, später zog dann der ganze Kon­vent für zwei Jahre in die leer­ste­hende Schule. Diese Erfahrung zeigt: Wenn man ver­trauensvoll mutige Schritte macht und offen ist, auch für unkon­ven­tionelle Lösun­gen, dann fügt es sich. Hätte ich das am Schreibtisch geplant, es wäre nicht halb so gut aufgegangen.[esf_wordpressimage id=37597 width=half float=left][/esf_wordpressimage]

Die Züglete inner­halb der Kloster­an­lage hat auch Bewe­gung in die Gemein­schaft gebracht…
Mir war wichtig, dass der Umzug nicht nur prak­tisch und funk­tion­al ist, son­dern auch ein spir­itueller Prozess. Deshalb haben wir für unser tem­poräres Dom­izil einen Namen gesucht. Das ging von Beth­le­hem über Emmaus, Jerusalem, und so weit­er. Schliesslich haben wir uns für den Namen «Subi­a­co» entsch­ieden. Das ist der Ort, wo unser Ordens­grün­der Benedikt in ein­er Höh­le gelebt hat. Ich war schon ein­mal dort, und dachte, es wäre schön, wenn die Schwest­ern auch ein­mal dor­thin kön­nten. Papst Franziskus rief zudem ger­ade dann das «Jahr des gewei­ht­en Lebens» aus und sagte: «Geht zurück zu den Wurzeln.» Das passte! Vor Wei­h­nacht­en habe ich den Schwest­ern das Vorhaben vorgestellt. Sie waren platt. Wir hat­ten noch nie als Gemein­schaft auswärts über­nachtet. Und dann eine ganze Woche ins Aus­land! Nach und nach kam die Vor­freude, im Herb­st 2015 reis­ten wir eine Woche nach Ital­ien, auf den Spuren von Benedikt. Wir waren in Nur­sia, Subi­a­co, Monte Cassi­no, über Flo­renz und Assisi. Wir haben viel erlebt. Die einen Schwest­ern waren bis dahin noch nie durch den Got­thard gefahren.

Sind Sie bei ihren Schwest­ern berüchtigt für Ihre etwas ver­rück­ten Ideen?
Wichtig finde ich, was sich bei solchen Vorhaben für unser spir­ituelles Leben ergibt. Ich merke, dass die Schwest­ern Ver­trauen in mich haben. Ich spüre, was drin liegt und kann sie manch­mal zu etwas ver­lock­en, von dem sie dann spüren, dass es ihnen gut­tut. Ich bin überzeugt, dass wir manch­mal über eine Gren­ze hin­aus­ge­hen müssen, damit wir wach­sen kön­nen. Es ist mir wichtig, Hil­festel­lun­gen zu geben, damit wir als Gemein­schaft diesen Schritt ins Unbekan­nte gehen kön­nen. Der Schritt ins Unbekan­nte macht lebendi­ger. Das ist wie beim Schwim­men ler­nen: Dazu muss man ins Wass­er. Bish­er habe ich noch nie erlebt, dass jemand fand, ich übertreibe. [esf_wordpressimage id=15557 width=half float=right][/esf_wordpressimage]

Sie waren 38 Jahre alt, als Sie als Jüng­ste der Schwest­ern zur Pri­or­in gewählt wur­den.
Die Benedik­t­sregel hält fest, dass als Pri­or­in «diejenige bestellt wer­den soll, die die ganze Gemein­schaft ein­mütig und in Gottes­furcht gewählt hat». Das finde ich übri­gens span­nend für den Prozess, in dem die Kirche momen­tan steckt: In den Klöstern hat stets die Gemein­schaft die Pri­or­in oder den Abt gewählt. Das hat sich über Jahrhun­derte bewährt.

Meine Vorgän­gerin war Schwest­er Fidelis, sie ist jet­zt 90 Jahre alt. Mit 70 wollte sie langsam aufhören. Die Wahl leit­ete der Abt von Ein­siedeln, damals war das Mar­tin Werlen. Er kam und sagte zu uns Schwest­ern: «Was ist eure Vision in zehn Jahren? Einige wer­den dann nicht mehr da sein, aber was wün­scht ihr euch für das Kloster und die Gemein­schaft in zehn Jahren?»

Drei Wochen später kamen wir wieder zusam­men und jede präsen­tierte ihre Vision. Abt Mar­tin hat alles pro­tokol­liert. Meine Vision war: Im Kloster Fahr leben Frauen, die das Leben lieben. Meine Vision umfasst den ganzen Ort. Dass die Frauen das Leben lieben, zeigt sich im Umgang untere­inan­der, darin, wie sie Liturgie feiern, Gäste aufnehmen, mit der Schöp­fung umge­hen. Die Men­schen rund­herum spüren: Gott ist da, er liebt die Welt.

Danach gin­gen wir ins Gebet. Jede musste sich nach all dem Gehörten über­legen: Was ist die Vision vom Fahr, und wer von uns kann uns in diese Vision hine­in­führen? Das ist spir­ituell, nicht nur rationell. [esf_wordpressimage id=46043 width=half float=left][/esf_wordpressimage]

Wie betra­cht­en Sie heute Ihre Vision von damals?
Meine Vision ist heute noch aktuell. Eine Vision über­dauert die Zeit. Die Her­aus­forderun­gen kön­nen ändern, aber die Vision bleibt und führt uns – zum Beispiel durch eine Ren­o­va­tion. Die Vision leuchtet immer wieder auf.

Das zeigt sich zum Beispiel bei der Entwick­lung der ehe­ma­li­gen Schul­ge­bäude. Mit dem christlichen Mehrgen­er­a­tio­nen­wohnen leben hier nun Men­schen, denen das Gottsuchen wichtig ist, die die Struk­tur und das Stun­denge­bet schätzen. Wir haben wun­der­bare Begeg­nun­gen. Auch das hat sich gefügt. Daraus schöpfe ich Ver­trauen für die Zukun­ft. Meine Erfahrun­gen zeigen, dass etwas kommt, was wir uns heute noch nicht vorstellen kön­nen. Wir kön­nen den Weg dahin nicht abkürzen, son­dern müssen wach und bere­it sein. Nicht pas­siv abwarten, aber auch nicht forcieren: Diese Span­nung auszuhal­ten, ist Glaube pur.

Gab es in den let­zten zwanzig Jahren jemals einen Moment, in dem Sie nicht weit­er­wussten?
Natür­lich gab es schwierige Zeit­en. Der Entscheid mit der Schule war nicht ein­fach, oder die Zeit, als der Propst noch da war, und ich merk­te, dass uns das einengt. Ich habe mir aber immer wieder Hil­fe geholt, bin zum Beispiel in ein Coach­ing gegan­gen. In den ersten zehn Jahren kon­nte ich vieles mit Abt Mar­tin Werlen entwick­eln, weil ich spürte, dass er voll hin­ter mir ste­ht. Er hat mich gestützt und mir gle­ichzeit­ig Freiraum gelassen. Dass ich eine so gute Beziehung mit meinem Vorge­set­zten hat­te, war für mich ein riesiges Geschenk.

Das Amt habe ich nicht gesucht, es ist mir anver­traut. Es ist eine grosse Ver­ant­wor­tung, in ein­er Kette, die schon 900-jährig ist, einen Zeitab­schnitt zu gestal­ten. Das ist mein Auf­trag. [esf_wordpressimage id=7986 width=half float=right][/esf_wordpressimage]

Seit fast zehn Jahren set­zen Sie sich auch aktiv für die Gle­ich­berech­ti­gung der Frauen inner­halb der katholis­chen Kirche ein.
Der Aus­lös­er dafür war, dass ich im Jahr 2014 ange­fragt wurde, im Kern­team von «Kirche mit* den Frauen» mitzu­machen und nach Rom zu pil­gern. Ich brauchte die Erfahrung inner­halb des Klosters, mein per­sön­lich­es Wach­sen, um diesen Schritt nach aussen zu machen und zu merken, dass wir Frauen inner­halb der katholis­chen Kirche zurück­ge­bun­den sind und nicht die Rechte und Würde haben, die uns durch die Taufe zukom­men.

Ein ein­schnei­den­des Erleb­nis war für mich in diesem Zusam­men­hang die «Arte»-Dokumentation «Die miss­braucht­en Diener­in­nen Gottes». Ein Film, der zeigt, wie Ordens­frauen von Priestern und Bis­chöfen sex­uell miss­braucht wer­den. Ich sage bewusst «wer­den», weil das immer noch geschieht. Als Ordens­frau kon­nte ich mich mit den Opfern iden­ti­fizieren. Mir wurde bewusst, dass die Abhängigkeit von Priestern dazu führt, dass die Män­ner immer über­ge­ord­net sind. Und mir wurde klar: Unsere Kirche ist krank. Erst, wenn Frauen und Män­ner die gle­ichen Möglichkeit­en in allen Dien­sten und Ämtern haben, kann die Kirche wieder Strahlkraft bekom­men. Seit ich diese Gewis­sheit habe, bin ich klar­er. Ich kann gar nicht anders, als mich für Gle­ich­berech­ti­gung einzuset­zen.

Aus dieser Gewis­sheit her­aus haben Sie im Jahr 2019 das «Gebet am Don­ner­stag» ini­ti­iert, das für die Erneuerung und Gle­ich­berech­ti­gung in der Kirche betet.
Ich fragte mich, was ich als Benedik­tiner­in, als kon­tem­pla­tive Ordens­frau tun kann. Der öffentliche Auftritt ist nicht meine Bühne, son­dern dass Gebet. Ich hörte von den Mon­tags­ge­beten in Leipzig in den 1980er-Jahren, bevor die Mauer fiel. Auch in der Kirche haben wir Mauern. Ich glaube an die Kraft des Gebets. Deshalb beten wir seit fast fünf Jahren jeden Don­ner­stag das Gebet «Schritt für Schritt». Und ich sehe tat­säch­lich kleine Hoff­nungsze­ichen, dass es Schritt für Schritt vor­wärts geht.

Marie-Christine Andres Schürch
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