Ohne GPS und Karte

Geplant war ein drei­jäh­ri­ger Auf­ent­halt. Dar­aus wur­den acht­und­zwan­zig Jah­re. Renold Blank war Dog­ma­tik­pro­fes­sor an der päpst­li­chen theo­lo­gi­schen Fakul­tät von São Pao­lo in Bra­si­li­en. Nun lebt er mit sei­ner Frau im Aar­gau und erzählt, zu was die latein­ame­ri­ka­ni­sche Kir­che die hie­si­gen christ­li­che Gemein­schaft anre­gen könnte. Herr Blank, in der Schweiz gibt es eine stark emp­fun­de­ne Tren­nung zwi­schen Basis­kir­che und offi­zi­el­ler Kir­che. Ist das in Bra­si­li­en ähn­lich? Renold Blank: Nein. Es fällt uns auf, dass das zwei eher getrenn­te Grup­pen sind. In Bra­si­li­en gab es quer durch die Strö­mun­gen, von kon­ser­va­tiv bis pro­gres­siv, immer ein gemein­sa­mes Bewusst­sein, näm­lich «Wir gehö­ren zu ein und der­sel­ben Kir­che und wir wol­len die fro­he Bot­schaft wei­ter ver­brei­ten». Wir wol­len auf die­ser Basis die Welt so ver­än­dern, wie Gott sie sich wünscht. Der eine geht dabei einen ande­ren Weg als der ande­re, aber die­se manch­mal gera­de­zu feind­li­chen Lager, die haben wir in Bra­si­li­en nicht gekannt.Heisst das, dass der Ton­fall in Dis­kus­sio­nen dort auch anders ist als hier? Völ­lig anders. Eines der Grund­mo­del­le von Kir­che in der Befrei­ungs­theo­lo­gie und in den dar­aus ent­stan­de­nen Basis­kir­chen ist: wir sind gemein­sam Kir­che. Das Modell dafür ist nicht die Pyra­mi­de, die an der Spit­ze einen Chef hat, der sagt wie es geht, und unten nicken die Unter­ge­be­nen, son­dern das Modell ist der Kreis. In der bra­si­lia­ni­schen Kul­tur und Kir­che gibt es einen Aus­druck, der sehr prä­sent ist: «sen­tar na roda» das heisst «im Kreis sit­zen». Wenn man im Kreis sitzt, sind alle gleich. Wenn bei­spiels­wei­se jemand eine Mei­nung ver­tritt, dann sagt man hier in Euro­pa oder auch in der Schweiz viel­leicht: «Davon ver­ste­hen sie nichts, sie kom­men aus Bra­si­li­en, da ist es anders.» In die­sem Moment habe ich eine Situa­ti­on der Ungleich­heit. Nach der bra­si­lia­ni­schen Kon­zep­ti­on des „im Kreis sit­zen“, sage ich: «Das ist inter­es­sant, was sie für eine Mei­nung haben. Das ist eine ganz ande­re Sicht­wei­se, als ich sie habe. Dar­über wol­len wir mit­ein­an­der reden.» Auf die­se Wei­se kommt man nie in eine wirk­li­che Kon­flikt­si­tua­ti­on. Ich habe ja kei­nen Feind vor mir sit­zen, son­dern einen Bru­der, eine Schwe­ster. Bei­de kön­nen von­ein­an­der ler­nen. Das ist eine posi­ti­ve Erfah­rung.Cha­ris­ma­ti­sche Grup­pie­run­gen schei­nen dort mehr Erfolg zu haben als  die katho­li­sche Kir­che. Ist die­se, poin­tiert for­mu­liert, auf dem abstei­gen­den Ast? Unse­re Erfah­rung aus Bra­si­li­en ist, dass die cha­ris­ma­ti­schen Bewe­gun­gen wie ein Stroh­feu­er sind. Zu Beginn sind alle begei­stert und haben applau­diert und nach eini­gen Jah­ren flau­te die­se Begei­ste­rung auch wie­der ab und mach­te einer gewis­sen Ent­täu­schung Platz. Mit ande­ren Wor­ten: das ist auch nicht der Weg. Die bra­si­lia­ni­sche Kir­che geht einen ande­ren Weg, der die unge­heu­re Dyna­mik des­sen, was wir Hei­li­gen Geist Got­tes in der Kir­che nen­nen, wie­der bewusst macht.Wie genau kann das funk­tio­nie­ren, wenn hier eher Resi­gna­ti­on herrscht? Wir haben in der Kir­che vie­le Mög­lich­kei­ten, Ant­wor­ten zu geben, die Halt und festen Grund geben. Wir müs­sen uns nur fra­gen, wie wir die­se Ant­wor­ten über­mit­teln. Dazu gehört auch, dar­an zu glau­ben, dass der Geist Got­tes in der Gesamt­kir­che wirkt und nicht nur in der Klas­se der Kle­ri­ker. Das macht ja auch die Pasto­ral­um­fra­ge deut­lich. Es ist nötig, den sen­sus fidei – den Glau­bens­sinn der Gläu­bi­gen – in dem der Hei­li­ge Geist wirkt, wie­der­zu­ent­decken. In dem Mas­se wie wir auf die­sen ach­ten und hören, wird sich auch neue Begei­ste­rung ein­stel­len. Das sieht man deut­lich an den Reak­tio­nen auf die klei­nen men­schen­freund­li­chen Zei­chen von Papst Fran­zis­kus Das ist eine wei­te­res Ele­ment wel­ches ich in Latein­ame­ri­ka gelernt habe: Die Kir­che ist eine Kir­che, die den Men­schen dient. Das heisst nicht, jemand von Oben ver­kün­det: «Ich die­ne euch jetzt und des­halb müsst ihr dies und jenes tun.»Was heisst «die­nen­de Kir­che» dann? Die­nen­de Kir­che heisst, auf die Men­schen zuge­hen und fra­gen, wo ihre Pro­ble­me und Schwie­rig­kei­ten sind. Zuzu­hö­ren, Zeit für die Ant­wort erbit­ten und dann eine Ant­wort aus dem Glau­ben her­aus vor­stel­len. Eine die­nen­de Kir­che kann akzep­tie­ren, wenn die Men­schen dann viel­leicht sagen: nein, die­se Ant­wort nützt uns nicht. Dann ist die die­nen­de Kir­che ver­pflich­tet zu sagen, «Gut, lasst uns noch­mals Zeit zum über­den­ken.» Es geht dar­um, gemein­sam zu dis­ku­tie­ren und einen Weg zu fin­den und zwar ohne ein GPS in der Hand zu haben. Das Kon­zil sagt, Kir­che ist das mes­sia­ni­sche Volk Got­tes auf dem Weg. Und auf einem Weg kann man auch in die Irre gehen. Wenn wir aber glau­ben, dass der Geist die Kir­che lei­tet, dann wird sie auch den rich­ti­gen Weg fin­den.Fehlt das Ver­trau­en auf die­se Lei­tung durch den Hei­li­gen Geist? Ja. Wir müs­sen das wie­der ins Bewusst­sein auf allen Ebe­nen in der Kir­che brin­gen. Und wir müs­sen den Mut haben Expe­ri­men­te zu machen.Sol­len die Gläu­bi­gen also ihre Bischö­fe in die Pflicht neh­men und sagen, kommt her­aus zu uns, redet mit uns und hört uns zu? Haben die Bischö­fe nicht genau davor zu viel Angst? Es ist viel Angst da. Angst, Macht zu ver­lie­ren. Das ist eben­falls eine Grund­er­fah­rung, die wir hier im Ver­gleich mit der die­nen­den Kir­che Latein­ame­ri­kas machen. —  1965 wur­de der soge­nann­te Kata­kom­ben­pakt geschlos­sen, den vie­le latein­ame­ri­ka­ni­sche Bischö­fe unter­zeich­ne­ten. Die­ser Pakt beinhal­te­te den Auf­bau einer die­nen­den Kir­che und den Ver­zicht auf Macht­ge­ba­ren. Wenn ich bei­spiels­wei­se von unse­rem Kar­di­nal etwas woll­te, habe ich ihn ein­fach ange­ru­fen. Wir haben uns getrof­fen, Kaf­fee getrun­ken, «im Kreis geses­sen» und das Pro­blem bespro­chen. Kei­ner war mehr oder weni­ger wert, denn jeder hat sein Cha­ris­ma. Auch Pau­lus sagt: die Cha­ris­men sind ver­schie­den aber gleich­wer­tig.Ist die Kir­che im deutsch­spra­chi­gen Raum dafür nicht zu ver­kopft? Ich sehe das nicht so sehr auf der intel­lek­tu­el­len Ebe­ne des Ver­kopft-Seins. Das Pro­blem ist eher, dass die Kir­che im deutsch­spra­chi­gen Raum zu sehr an hier­ar­chi­sche Struk­tu­ren gewohnt ist. Das ist das eine. Das ande­re ist, dass sie zu sehr an gros­se Struk­tu­ren gebun­den ist. Ich fra­ge mich manch­mal, war­um wol­len wir eigent­lich geschei­ter sein als Jesus von Naza­reth? Der hat mit klei­nen Grup­pen begon­nen und die Urkir­che hat auf die­ser Ebe­ne rund drei­hun­dert Jah­re gut gelebt. In gros­se Struk­tu­ren hat sie in dem Moment begon­nen zu inve­stie­ren, als sich die christ­li­che Reli­gi­on mit der poli­ti­schen Gross­struk­tur des byzan­ti­nisch-römi­schen Rei­ches ver­bun­den hat. Die Kon­se­quenz dar­aus ist die hier­ar­chi­sche Struk­tur, mit ihren Macht­me­cha­nis­men, die bis heu­te besteht. Wir müs­sen die­se Gross­struk­tu­ren wie­der in Klein­struk­tu­ren, in leben­di­ge Zel­len ver­wan­deln. Es geht dar­um, zu den Quel­len zurück­zu­ge­hen und das sind klei­ne Grup­pen.Ent­zün­den sich kirch­li­che Kon­flik­te – wie etwa die Dis­kus­sio­nen um Vitus Huon­der – in der Schweiz schnel­ler an der Hier­ar­chie? Die Schwei­zer Spe­zia­li­tät ist ja, Fra­ge­stel­lun­gen im Mehr­heits­ent­scheid zu lösen. Wenn ich das äus­se­re, höre ich oft: «Die Kir­che ist aber kei­ne Demo­kra­tie» und das stimmt. Sie ist kei­ne Demo­kra­tie. Sie ist aber auch kei­ne Mon­ar­chie. Doch auf­grund der jahr­hun­der­te­lan­gen hier­ar­chi­schen Vor­herr­schaft ist ein mon­ar­chi­sches Den­ken in die Kir­che ein­ge­sickert, wel­ches wir über­win­den müss­ten. Noch­mal: das Kon­zil sagt deut­lich was die Kir­che ist. Mes­sia­ni­sches Volk Got­tes auf dem Weg. Von die­sem Blick­win­kel her müs­sen wir anfan­gen die Pro­ble­me zu lösen. Wir sind ja eine geschwi­ster­li­che Kir­che, spre­chen uns mit Bru­der und Schwe­ster an. In Euro­pa muss ich die­se Anre­de erklä­ren, in Bra­si­li­en ist sie nor­mal – auch gegen­über einem Bischof.An der Befrei­ungs­theo­lo­gie kommt man in Latein­ame­ri­ka nicht vor­bei. Sozia­le Miss­stän­de in den Blick zu neh­men ist ein Ansatz­punkt der Befrei­ungs­theo­lo­gie. Ist das so? Die mei­sten Men­schen in Euro­pa spre­chen von Befrei­ungs­theo­lo­gie in ihrer Kon­zep­ti­on bis Ende der sieb­zi­ger Jah­re. Die­se fuss­te auf der Metho­de «Sehen, Urtei­len, Han­deln und berief sich auf sozio­lo­gi­sche Metho­den zum Ana­ly­sie­ren (Sehen) der Gesell­schaft. Wegen ihrer Begriff­lich­kei­ten geriet sie in den Ruf, dem Mar­xis­mus nahe­zu­ste­hen,  ein Grund war­um sie in vie­len Zusam­men­hän­gen in Ver­ruf geriet. 1984 kam dann eine erste vati­ka­ni­sche Instruk­ti­on zu Fra­gen der Befrei­ungs­theo­lo­gie her­aus, in deren Gefol­ge die oben genann­te Ana­ly­se-Metho­de ver­än­dert wur­de. Die Tat­sa­che die­ses Metho­den­wech­sels und die Ent­wick­lung seit­dem aber wur­de in Euro­pa kaum rezi­piert.Wie sah die­se Ent­wick­lung aus? Die Welt wur­de basie­rend auf der Got­tes-Reich-Vor­stel­lung betrach­tet. Die Fra­ge war: Inwie­weit ent­spricht die Situa­ti­on, die wir auf sozia­ler, poli­ti­scher, wirt­schaft­li­cher und kirch­li­cher Ebe­ne haben, den Kri­te­ri­en des Rei­ches Got­tes, so wie Jesus es ver­kün­det hat? Wenn die Situa­ti­on dem ent­spricht, gut. Doch wenn sie dem nicht ent­spricht müs­sen wir ver­än­dernd han­deln.Stellt die Befrei­ungs­theo­lo­gie vor die­sem Hin­ter­grund auch die Fra­ge nach der Gene­ra­tio­nen­so­li­da­ri­tät, zum Bei­spiel im Hin­blick auf die dies­jäh­ri­ge Fasten­kam­pa­gne? Ja, denn neben der vor­ran­gi­gen Opti­on für die Armen, die Papst Fran­zis­kus betont, gibt es noch eine wei­te­re Grund­op­ti­on, näm­lich die Opti­on für die Jugend. Die gan­ze Arbeit der Fasten­kam­pa­gne geht genau in die Rich­tung. Sie sagt: was für Bedin­gun­gen müs­sen wir für die jun­ge Gene­ra­ti­on schaf­fen, damit sie in einen Lebens­zy­klus hin­ein­wach­sen kann, der den Reich Got­tes Kri­te­ri­en ent­spricht. Damit hängt auch zusam­men, die jun­ge Gene­ra­ti­on wie­der für die Kir­che zu begei­stern. Wenn ich hier in den Sonn­tags­got­tes­dienst gehe und mit Anfang sieb­zig zu den Jüng­sten gehö­re, heisst das für mich, wir müs­sen neu begeistern.
Redaktion Lichtblick
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