Noch mal von vorne
Die Momente in der Natur bedeuten Martin Honisch mehr, als er geahnt hat.
Bild: © Ger­ry Amstutz

Noch mal von vorne

Von der Bank in den Rebberg

Martin Honisch musste sich mit 54 Jahren noch einmal selbst erfinden. Er ist einer von rund 6000 Angestellten in der Schweiz, die beim Untergang der Credit Suisse ihre ­Arbeit verloren haben oder sie noch verlieren werden. Heute steckt der ehemalige Informatiker mitten in der ­Ausbildung zum Winzer.


Der Reb­berg in Wet­tin­gen liegt steil am Hang. Es ist kalt und nass an die­sem Dezem­ber­mor­gen, an dem Mar­tin Honisch bereits in aller Frü­he die Reben geschnit­ten hat. Jetzt posiert er zwi­schen den Reb­stöcken und vor dem wind­schie­fen Reb­hüs­li für unse­re Fotos. Sei­ne Geschich­te erzählt er gern, weil sie Mut machen kön­ne, wie er sagt.

Nach Jah­ren in Thun ist Mar­tin Honisch 2022 nach Wet­tin­gen zurück­ge­kehrt, wo er mit sei­ner jün­ge­ren Schwe­ster bei sei­nen Eltern auf­wuchs. Bald nach der Rück­kehr hat ihm ein Pfadi-Freund eine Par­zel­le mit Reb­stöcken zum Pach­ten ange­bo­ten. «Hät­te ich damals gewusst, wie viel Arbeit die Reben geben wür­den, hät­te ich ver­mut­lich abge­lehnt,» sagt Mar­tin Honisch und ist froh, hat er es nicht getan. Denn der Reb­berg half ihm über die Zeit der Ent­las­sung hin­weg. Zwi­schen den Reben ist ihm die Idee für sei­ne Neu­ori­en­tie­rung gekommen.

Die Knos­pen ver­spre­chen eine neue Ern­te. © Ger­ry Amstutz

Quer­ein­stei­gen

Nach der Kan­tons­schu­le stu­dier­te Mar­tin Honisch Forst­wis­sen­schaf­ten an der ETH Zürich. Er spe­zia­li­sier­te sich in Hoch­was­ser­schutz und Lawi­nen­ver­bau­un­gen. Als Unter­län­der fand er in den Berg­kan­to­nen aber kei­ne Stel­le. Lang­wei­lig sei es ihm den­noch nie gewe­sen. Im Win­ter arbei­te­te er als Ski­leh­rer, im Som­mer bei der Swis­sair. «Ich wuss­te immer etwas mit mir anzu­fan­gen, aber ich woll­te mich nicht ver­zet­teln.» Da er im Stu­di­um auch Kur­se in Infor­ma­tik belegt hat­te, liess er sich 1997 bei der Cre­dit Suis­se als Quer­ein­stei­ger zum Infor­ma­ti­ker aus­bil­den. Er begann als Pro­gram­mie­rer, lei­te­te bald Pro­jek­te, spä­ter sein eige­nes Team und schliess­lich den Infor­ma­tik­stand­ort in Bern.

Zusam­men­halt

Eine Anstel­lung bei der Bank habe er damals nicht gesucht. Man­che Geschäf­te in die­ser Bran­che sei­en ihm bis heu­te ein Rät­sel geblie­ben. Aber die Cre­dit Suis­se habe sich als eine gute Arbeit­ge­be­rin her­aus­ge­stellt. Feste und sport­li­che Ereig­nis­se, bei denen sich die Mit­ar­bei­ten­den abseits vom Sit­zungs­tisch begeg­ne­ten, brach­ten gute Stim­mung. Für das inter­na­tio­na­le Ban­ken­ski­ren­nen stell­te die Cre­dit Suis­se ein erfolg­rei­ches Team: Mar­tin Honisch war einer der Fah­rer und lei­te­te es wäh­rend eini­ger Zeit.


«Es ist ein Ver­trau­ens­be­weis, wenn man auch sei­ne Pro­ble­me teilt. Manch­mal ent­ste­hen dar­aus unver­hofft Lösungen.»

Seit sei­ner Jugend bei der Pfadi enga­giert sich Mar­tin Honisch in Ver­ei­nen. Eini­ge sei­ner Pfadi-Freund­schaf­ten hal­ten bis heu­te. Zusam­men­halt und Gesel­lig­keit sind ihm ­wich­tig. Das ist der Grund, war­um er trotz der zuneh­men­den Schwie­rig­kei­ten in den letz­ten Jah­ren die Bank nicht ver­las­sen woll­te. Ãœppi­ge Betriebs­fe­ste gab es zwar kei­ne mehr, aber Mar­tin Honisch und sei­ne Mit­ar­bei­ten­den blie­ben auch vor einer Feu­er­scha­le mit einem Bier in der Hand bei guter Laune.

Im Janu­ar 2023 ver­lor Mar­tin Honisch sei­ne Stel­le. Es sei ihm immer klar gewe­sen, dass er eben­falls ent­las­sen wer­den könn­te. Men­tal habe er sich auf die­ses Sze­na­rio vor­be­rei­tet. «Je wei­ter oben, je dün­ner die Luft,» meint er. Aber die plötz­li­che Gewiss­heit, draus­sen zu sein, kei­nen Bei­trag mehr lei­sten zu kön­nen, habe ihn dann doch getrof­fen. «Zum Glück ist auch mein Umfeld nicht in Panik ausge­brochen», sagt Mar­tin Honisch. Ein Sozi­al­plan ­ver­schaff­te ihm elf Mona­te Zeit, eine neue Stel­le zu fin­den. Er mach­te kein Geheim­nis aus sei­ner Ent­las­sung, son­dern erzähl­te davon. «Es ist ein Ver­trau­ens­be­weis, wenn man auch sei­ne Pro­ble­me teilt. Manch­mal ent­ste­hen dar­aus unver­hofft Lösungen.»


«Ich habe schon ein­mal erlebt, was es heisst, den Gür­tel ­enger zu schnal­len, und ­gese­hen, dass es immer ­irgend­wie wei­ter­geht, wenn auch nicht unbe­dingt nach Plan.»

Neu­ori­en­tie­rung

Für sei­ne beruf­li­che Neu­ori­en­tie­rung hat er die Posi­tio­nen sei­ner Aus­ga­ben auf­ge­li­stet. Grü­ner Leucht­stift für nöti­ge Aus­ga­ben. Roter Leucht­stift für unnö­ti­ge Aus­ga­ben. Gel­ber Leucht­stift für nicht nöti­ge, aber trotz­dem wert­vol­le Aus­ga­ben. Heli­ko­pter­flie­gen, Ski­fah­ren, Ver­eins­mit­glied­schaf­ten waren nun rot ein­ge­färbt, auch Spen­den an gemein­nüt­zi­ge Orga­ni­sa­tio­nen muss­te er schwe­ren Her­zens strei­chen. Exi­stenz­äng­ste hat­te Mar­tin Honisch aber kei­ne. Dass er kei­ne Kin­der hat und sei­ne Part­ne­rin Voll­zeit als Leh­re­rin arbei­tet, hat die Situa­ti­on sicher erleich­tert. Aus­ser­dem habe ihm die Erfah­rung mit der damals erfolg­lo­sen Stel­len­su­che als Forst­in­ge­nieur gehol­fen. «Ich habe schon ein­mal erlebt, was es heisst, den Gür­tel enger zu schnal­len, und gese­hen, dass es immer irgend­wie wei­ter­geht, wenn auch nicht unbe­dingt nach Plan.»

Mar­tin Honisch bekam inter­es­san­te Job­an­ge­bo­te. Aber inter­es­sant allein hat ihm noch nie gereicht. «Damit ich gut arbei­ten kann, muss ein Feu­er in mir bren­nen.» Immer häu­fi­ger frag­te er sich, ob die Infor­ma­tik­bran­che noch das rich­ti­ge für ihn sei. Schnell, wenig kon­kret und unstet beschreibt sie der Ex-Ban­ker. Heu­te so, mor­gen anders. Durch die Arbeit, die er im Reb­berg ken­nen­ge­lernt hat­te, kam ihm dies immer weni­ger attrak­tiv vor.

Schnup­per­leh­re

Mar­tin Honisch kann­te den Wet­tin­ger Win­zer Chri­sti­an Stei­mer und frag­te bei ihm für eine Schnup­per­leh­re an. Inner­halb einer Woche war Mar­tin Honisch klar, dass die Aus­bil­dung zum Win­zer in die­sem Fami­li­en­be­trieb ihn begei­stern würde.

Heu­te ist der Azu­bi im zwei­ten Lehr­jahr, wie er es nennt. Der Kan­ton nennt es Nach­hol­bil­dung für Men­schen, die bereits über Berufs­er­fah­rung ver­fü­gen und zu einem eid­ge­nös­si­schen Fähig­keits­zeug­nis kom­men möch­ten. Der Arbeits­ge­ber hat kei­ne Aus­bil­dungs­ver­ant­wor­tung wie ein klas­si­scher Lehr­be­trieb, muss aber dem Quer­ein­stei­ger den für einen unge­lern­ten Ange­stell­ten übli­chen Lohn bezah­len. Rund 4000 Fran­ken ver­dient Mar­tin Honisch. Bei der Cre­dit Suis­se waren es drei­mal so viel. 2026 wird er sein Diplom als Win­zer erhalten.

Die­se Ein­sich­ten haben ​Mar­tin Honisch geholfen:

Für fast alle Pro­ble­me gibt es eine Lösung.

Abwei­chun­gen vom Plan brem­sen viel­leicht, wer­fen einen aber nicht gleich aus der Bahn.

Mit etwas Geduld kann man die mei­sten Din­ge lernen.

Noch mal von vorne - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz 1
Die Arbeit im Reb­berg ist anstren­gend aber ein Son­nen­un­ter­gang lässt selbst den schlimm­sten Mus­kel­ka­ter ver­ges­sen. © Ger­ry Amstutz

Vom Büro in den Rebberg

Der ehe­ma­li­ge Büro­mensch lernt nun die Bela­stun­gen einer kör­per­li­chen Arbeit ken­nen, die im stei­len Reb­berg bei jedem Wet­ter am Anfang beson­ders hart ist. «Bei jeder neu­en Arbeit habe ich Mus­kel­ka­ter, und kaum bin ich am Abend in der Wär­me, schla­fe ich ein.» Immer wie­der ist Mar­tin Honisch erstaunt, wie­viel Auf­wand sie im Reb­berg und im Wein­kel­ler lei­sten, bis eine Fla­sche mit Wein gefüllt ist. So bestimmt jetzt das Wet­ter sei­nen Tages­ab­lauf. Hat es stark gereg­net, fällt die Arbeit mit dem Rau­pen­fahr­zeug am Hang aus, weil das Ter­rain zu rut­schig ist. Zie­hen gel­be Wol­ken am Him­mel auf, droht Hagel: In weni­gen Minu­ten kann er die Arbeit einer gan­zen Sai­son zer­stö­ren. Frost, Hagel, Fal­scher Mehl­tau statt Bugs, Viren und Tro­ja­nern. Die Abhän­gig­keit von Din­gen, die man nicht beein­flus­sen kann, ist gewöh­nungs­be­dürf­tig für jeman­den, der frü­her Com­pu­ter programmierte.

Der Sinn der Arbeit

Trotz allem ist Mar­tin Honisch heu­te mit sei­ner Arbeit zufrie­de­ner als vor­her. Das habe damit zu tun, dass die Ent­schei­dun­gen nach­voll­zieh­bar sei­en, was in der Bank längst nicht immer der Fall gewe­sen sei. Pro­ble­me wür­den jetzt durch Aus­pro­bie­ren gelöst. Bewäh­re sich ein Vor­ge­hen, mache man es beim näch­sten Mal wie­der gleich. Wenn Mar­tin Honisch Hun­ger nach Theo­rie hat, macht er extra Haus­auf­ga­ben in der Berufs­schu­le. Am wich­tig­sten ist ihm, den Sinn der Arbeit zu erle­ben. «Wenn ich am Mor­gen in der Frü­he im Reb­berg ste­he und den Son­nen­auf­gang anschaue, geht mir das Herz auf.» Dass ihm die­se Momen­te in der Natur so viel bedeu­ten, habe er vor­her nicht gewusst.

In viel­leicht nicht so fer­ner Zukunft will sich Mar­tin Honisch selb­stän­dig machen. Sein Traum ist ein eige­ner Wein aus sei­nem eige­nen klei­nen Betrieb. Im kar­gen Reb­berg an die­sem kal­ten Dezem­ber­mor­gen ist es schwie­rig, sich vor­zu­stel­len, dass hier jemals etwas wächst. Aber Mar­tin Honisch führt uns zu den Reb­stöcken und zeigt uns die Knos­pen – Vor­bo­ten für die Fül­le der näch­sten Weinlese.

Eva Meienberg
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