Nie wie­der!

Nie wie­der!

 Johan­nes 15, 9–13Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in mei­ner Lie­be! Wenn ihr mei­ne Gebo­te hal­tet, wer­det ihr in mei­ner Lie­be blei­ben, so wie ich die Gebo­te mei­nes Vaters gehal­ten habe und in sei­ner Lie­be blei­be. Dies habe ich euch gesagt, damit mei­ne Freu­de in euch ist und damit eure Freu­de voll­kom­men wird. Das ist mein Gebot, dass ihr ein­an­der liebt, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt kei­ne grös­se­re Lie­be, als wenn einer sein Leben für sei­ne Freun­de hingibt.Ein­heits­über­set­zung 2016 

Nie wie­der!

Nie wie­der! Die­se bei­den Wor­te kom­men mir in den letz­ten Wochen immer wie­der in den Sinn. Und wäh­rend ich die­se Zei­len schrei­be, höre ich in den Nach­rich­ten, dass in Basel ein Rab­bi­ner bespuckt wur­de und jüdi­sche Kin­der sich nicht mehr sicher füh­len. Sie sol­len weder Kip­pa noch Schau­fä­den mehr offen tra­gen.Das schnürt mir die Keh­le zu. Sie sol­len sicher sein und sich sicher füh­len, die Men­schen jüdi­schen Glau­bens, die hier in Euro­pa aus­ge­rot­tet wer­den soll­ten. Sie sol­len hier in Euro­pa, in Isra­el, egal wo sie leben, eine siche­re Hei­mat haben. Sie sol­len nie wie­der bedroht, ver­folgt, ver­schleppt, ermor­det wer­den – wie es am 7. Okto­ber tau­send­fach gesche­hen ist und im ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert mil­lio­nen­fach. Wie es Etty Hil­le­sum gesche­hen ist. Die jun­ge Jüdin leb­te unter der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Beset­zung in den Nie­der­lan­den und reflek­tier­te das Gesche­hen und sich selbst in Tage­bü­chern und Brie­fen.Eine letz­te Post­kar­te wirft sie aus dem Zug, der sie, ihre Eltern und ihren Bru­der und wei­te­re 983 Men­schen nach Ausch­witz bringt. Etty Hil­le­sum schreibt auf der Kar­te, die gefun­den und ver­schickt wur­de: «Chri­sti­en, ich schla­ge die Bibel an irgend­ei­ner Stel­le auf und fin­de das: Der Herr ist mei­ne hohe Burg. Ich sit­ze mit­ten in einem vol­len Güter­wag­gon auf mei­nem Ruck­sack. (…) Wir haben die­ses Lager sin­gend ver­las­sen, Vater und Mut­ter sehr tap­fer und ruhig, Mischa eben­so.»Etty Hil­le­sum weiss, was auf sie und ihre Fami­lie zukommt. Sie geht sehen­den Auges in die Kata­stro­phe. Sie hat mehr­fach die Gele­gen­heit, unter­zu­tau­chen, sich der Depor­ta­ti­on zu ent­zie­hen. Sie tut es nicht. Sie will bei ihrem Volk blei­ben, soli­da­risch sein mit denen, die nicht das Pri­vi­leg haben, zu ent­kom­men. Sie nennt sich selbst «das den­ken­de Herz der Baracke». Mit Herz, Leib und See­le denkt sie – und liebt. Got­tes­lie­be und Men­schen­lie­be sind für sie eins. Sie fühlt sich unend­lich geliebt von Gott: «… ob ich nun hier an dem mir so lie­ben und ver­trau­ten Schreib­tisch sit­ze oder ob ich näch­sten Monat … in einem Arbeits­la­ger unter SS-Bewa­chung ste­he, ich wer­de mich über­all und immer, glau­be ich, in Got­tes Armen füh­len.» Ihre Tage­bü­cher sind ein ein­zi­ges Gebet. «Man soll­te immer beten, Tag und Nacht, für all die Tau­sen­den. Man soll­te kei­ne Minu­te ohne Gebet sein wol­len.»Und so ist sie in engem, mysti­schen Kon­takt mit Gott – ihr gan­zes Leben ist ein Zwie­ge­spräch mit Gott: «Sonn­tag­mor­gen­ge­bet. … Ich ver­spre­che dir etwas, Gott, nur eine Klei­nig­keit: Ich will mei­ne Sor­gen um die Zukunft nicht als beschwe­ren­de Gewich­te an den jewei­li­gen Tag hän­gen, aber dazu braucht man eine gewis­se Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir hel­fen, Gott, dass du mich nicht ver­lässt, aber ich kann mich von vorn­her­ein für nichts ver­bür­gen. Nur dies eine wird mir immer deut­li­cher: dass du uns nicht hel­fen kannst, son­dern dass wir dir hel­fen müs­sen, und dadurch hel­fen wir uns letz­ten Endes selbst. Es ist das ein­zi­ge, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu ret­ten, Gott.»Wir müs­sen Gott hel­fen. Wir müs­sen Got­tes Wil­len tun, hier auf der Erde, damit es mensch­lich wird in der Welt. Auch in die­sen Zei­ten:«Mein Gott, die­se Zei­ten sind zu hart für so zer­brech­li­che Men­schen wie mich. Ich weiss, dass danach wie­der ande­re, huma­ne­re Zei­ten kom­men wer­den. Ich möch­te so gern am Leben blei­ben, um all die Mensch­lich­keit, die ich trotz allem, was ich täg­lich mit­ma­che, in mir bewah­re, in die­se neue Zei­ten hin­über zu ret­ten. Es ist die ein­zi­ge Mög­lich­keit, die neue Zeit vor­zu­be­rei­ten, indem wir sie schon jetzt in uns vor­be­rei­ten.»Sie hofft auf neue Zei­ten. Auf ande­re Zei­ten. Die kom­men sol­len. Spä­ter. Die­se Zei­ten sind jetzt. Und wir sind mit­ten­drin.Zer­brech­lich fühlt sie sich. Und zer­bro­chen wird sie am Ende, am 30. Novem­ber 1943 im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz. Doch gebro­chen wird sie nicht. Ihr Tage­buch endet mit dem Satz: «Man möch­te ein Pfla­ster auf vie­len Wun­den sein.»Nie wie­der! Hal­ten wir die Erin­ne­rung wach an Men­schen wie Etty Hil­le­sum. Und wir­ken wir dar­an mit, dass nie wie­der Men­schen auf die­se Wei­se zer­bro­chen wer­den!Doro­thee Becker, Theo­lo­gin und Seel­sor­ge­rin; Gemein­de­lei­te­rin der Pfar­rei St. Fran­zis­kus, Riehen-Bettingen  
Regula Vogt-Kohler
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