Neun Ster­be­bet­ten in Brugg

Neun Ster­be­bet­ten in Brugg

Noch immer wis­sen vie­le Men­schen nicht, was ein Hos­piz ist. Sie brin­gen den Begriff mit Armut in Ver­bin­dung, nicht mit Begrif­fen wie Her­ber­ge oder Gast­lich­keit. Letz­te­re ist im Hos­piz in Brugg so gross, dass auch mit­ten in der Nacht Cur­ry­wurst mit Frit­ten ser­viert werden.Wer im drit­ten Stock des Pfle­ge­heims Brugg den Lift ver­lässt bemerkt schnell: Das ist kei­ne nor­ma­le Sta­ti­on. Denn die Atmo­sphä­re erin­nert eher an eine gros­se, etwas spe­zi­el­le Wohn­ge­mein­schaft: Freund­li­che Far­ben, war­mes Licht, ein lie­be­voll ein­ge­rich­te­tes Wohn­zim­mer. «Eini­ge Bewoh­ner sind sehr mobil. Die tref­fen sich dann dort zum Plau­dern oder essen gemein­sam. Da kann es sehr lustig wer­den», erzählt Die­ter Her­mann.«Wir sind Wunsch­er­fül­ler», sagt der 52-jäh­ri­ge dann mit Strah­len im Gesicht. Seit April 2016 ist er Geschäfts­füh­rer des Hos­piz Aar­gau. Mit am Tisch sitzt, mit leuch­ten­den Augen, Mar­grit Muoth-Hegglin, 65 Jah­re alt und Seel­sor­ge­rin im Hos­piz.

Ver­schnauf­pau­se für Alle

Vie­les, was die bei­den erzäh­len, irri­tiert. Es passt nicht zum Bild von Angst vor Schmer­zen und über­la­ste­ten Ange­hö­ri­gen. Die­ter Her­mann stellt die­sen Irr­tum schnell rich­tig: «Was wir im Hos­piz bie­ten kön­nen, ist zunächst sehr gute Pal­lia­tiv­pfle­ge. Die mei­sten Schmer­zen kann man mitt­ler­wei­le stil­len. Das ande­re – weit Wich­ti­ge­re – ist, dass die Ange­hö­ri­gen hier nicht pfle­gen müs­sen. Sie dür­fen die­sen Teil abge­ben und das befreit sie. Die Frau eines Bewoh­ners nahm sich bei­spiels­wei­se die Zeit, daheim Holun­der zu ern­ten. Das war eine Ver­schnauf­pau­se, die sie nicht zuge­las­sen hät­te, wenn ihr Mann zu Hau­se gewe­sen wäre».Auch für die Pfle­ge­be­dürf­ti­gen ist der Ein­tritt ins Hos­piz eine Erleich­te­rung. Sie dür­fen die Anspan­nung und Sor­ge, ihren Lie­ben zur Last zu fal­len, abge­ben. Sie wer­den pfle­ge­risch, medi­zi­nisch, spi­ri­tu­ell und seel­sorg­lich umsorgt und sta­bi­li­sie­ren sich nicht sel­ten. «Ich bin hier­her­ge­kom­men und dach­te, ich ster­be. Und nun geht es mir bes­ser», zitiert Mar­grit Muoth-Hegglin einen Bewoh­ner. Die­ter Her­mann fügt hin­zu: «Wir haben auch Bewoh­ner wie­der nach Hau­se oder ins Pfle­ge­heim ent­las­sen kön­nen. Das Wich­ti­ge für sie und die Ange­hö­ri­gen ist: Sie wis­sen nach dem Auf­ent­halt hier, wohin sie gehen kön­nen, wenn es nicht mehr geht.»

Auch ambu­lan­te Ster­be­be­glei­tung zuhause

Die neun Bet­ten in Brugg, das ‹Hos­piz Pal­lia­ti­ve Care Sta­tio­när›, wie es eigent­lich heisst, sind nicht das ein­zi­ge Ange­bot des Ver­eins Hos­piz Aar­gau. Die Ent­la­stung Ange­hö­ri­ger und die Beglei­tung ster­ben­der Schwer­kran­ker kann auch daheim in Anspruch genom­men wer­den. «Die enga­gier­ten Frei­wil­li­gen von ‹Hos­piz Ambu­lant› sind über den gan­zen Aar­gau ver­teilt», erklärt Die­ter Her­mann. Schliess­lich gibt es für alle, die um einen gelieb­ten Men­schen trau­ern, den ‹Hos­piz Trau­er­treff›: Alle zwei Wochen, in Brugg, Woh­len und Bad Zurz­ach.Bevor Die­ter Her­mann Geschäfts­füh­rer wur­de, tat er sowohl im sta­tio­nä­ren als auch im ambu­lan­ten Bereich des Hos­pi­zes Dienst. Er nennt Unter­schie­de: «Im sta­tio­nä­ren Bereich haben wir eine Zwei-zu-ein­s‑, in man­chen Fäl­len eine Eins-zu-eins-Betreu­ung. Es gibt das Team und ein mul­ti­pro­fes­sio­nel­les Umfeld. In einem Pri­vat­haus ist anders, da ist der Mit­ar­bei­ter auf sich gestellt und hat im Ver­gleich nur ein­ge­schränk­te Mög­lich­kei­ten. Oft ist die Atmo­sphä­re wegen der bela­sten­den Pfle­ge­si­tua­ti­on ange­spannt. Das ist das Merk­wür­di­ge bei der ambu­lan­ten Betreu­ung: Es geht nie um den Ster­be­pro­zess. Als hät­te der Mensch daheim kei­ne Zeit zu ster­ben, weil das The­ma Tod schon omni­prä­sent ist, bevor der Tod ein­tritt. Das ist ein wei­te­rer Unter­schied.»

Finan­zie­rung als Herausforderung

Doch: Das Hos­piz schreibt rote Zah­len. «Wir haben 2014 auf­ge­stockt. Unser Per­so­nal­stand ist nun so, dass wir defi­zi­tär fah­ren», erklärt Die­ter Her­mann. «Sechs Bet­ten waren gut, 12 wären gut, die Mit­te ist wirt­schaft­lich ungün­stig. Bei die­ser Bet­ten­zahl beträgt die Deckungs­lücke etwa 600 000 bis 800 000 Schwei­zer Fran­ken. Ein zwei­ter Stand­ort wäre eine Vari­an­te, doch zunächst möch­te ich hier schwar­ze Zah­len haben. Dafür sind ein strin­gen­ter Kon­so­li­die­rungs­kurs und Neu­aus­rich­tun­gen im Bereich Fund­rai­sing not­wen­dig. Ohne das bestün­de für Hos­piz Aar­gau unter den aktu­el­len Bedin­gun­gen ein Über­le­bens­fen­ster von 2 bis 3 Jah­ren – aber: Ent­spre­chen­de Mass­nah­men sind pro­ak­tiv ein­ge­lei­tet und in Umset­zung», so der Geschäfts­füh­rer.Das sta­tio­nä­re Hos­piz in Brugg ist auf der Pfle­ge­heim­li­ste. Das heisst, die teil­wei­se Abrech­nung über die öffent­li­che Hand und die Kran­ken­kas­se ist mög­lich. Das ergibt eine Kosten­deckung von 25 Pro­zent. Wei­te­re 35 bis 40 Pro­zent trägt der Pati­ent. Den Rest, etwa einen Drit­tel, trägt der Ver­ein durch Spon­so­ren und Spen­den bei. Weil die all­ge­mei­ne Spen­den­freu­dig­keit nach­lässt, wer­den spe­zi­el­le Kon­zep­te in die­sem Bereich not­wen­dig. «Mitt­ler­wei­le häu­fen sich Fäl­le, wo wir auf unse­ren Kosten sit­zen blei­ben. Wenn jemand uner­war­tet län­ger bleibt, geht das ins Geld. Beson­ders bei jun­gen Men­schen, die eine Fami­lie oder gebaut haben», erklärt Die­ter Her­mann. Dann gibt er noch einen Hin­weis: «Wer weit­sich­tig han­delt, legt fest, dass eine all­fäl­li­ge Lebens­ver­si­che­rung zum Bei­spiel zur Zah­lung der Hos­piz­rech­nung ver­wen­det wird».

Lan­des­kir­chen set­zen auf Aus- und Weiterbildung

Auf­fal­lend: Die Aar­gau­er Lan­des­kir­chen, die sich stark im Bereich Pal­lia­ti­ve Care enga­gie­ren, zah­len gemäss Die­ter Her­mann nichts an die lau­fen­den Kosten. Luc Hum­bel, Kir­chen­rats­prä­si­dent der Römisch-Katho­li­schen Kir­che im Aar­gau will das auf Nach­fra­gen so nicht ste­hen las­sen: «Wir haben beim Umbau im Jahr 2014 mit 20 000 Fran­ken eine gross­zü­gi­ge Unter­stüt­zung an das Hos­piz Brugg gelei­stet. Dass wir nichts an die Betriebs­ko­sten zah­len, ist ein Grund­satz­ent­scheid in Bezug auf exter­ne Insti­tu­tio­nen. Die Lan­des­kir­che sieht es nicht als ihre Auf­ga­be an, Struk­tu­ren mit Betriebs­bei­trä­gen zu finan­zie­ren.  Unser Bestre­ben ist es, Pro­zes­se mit zu prä­gen, und das kön­nen wir bes­ser durch Pro­jekt­bei­trä­ge».Alle drei Lan­des­kir­chen enga­gie­ren sich finan­zi­ell in der Aus- und Wei­ter­bil­dung «Pal­lia­ti­ve Care und Beglei­tung». Die Aus­bil­dung rich­tet sich in erster Linie an inter­es­sier­te Frei­wil­li­ge, aber auch an Fach­per­so­nen aus Pfle­ge, Medi­zin und Seel­sor­ge. Da das Hos­piz zwar im Bereich Pfle­ge, nicht aber im Bereich Pal­lia­ti­ve Care aus­bil­det, wer­den auch Per­so­nen für den Ein­satz im Hos­piz aus­ge­bil­det. Das Hos­piz sei­ner­seits bie­tet Prak­ti­kums­plät­ze an. Jürg Hoch­u­li, Ver­ant­wort­li­cher für die Pal­lia­ti­ve Care-Arbeit auf­sei­ten der Refor­mier­ten Lan­des­kir­che Aar­gau, betont: «Wir suchen das Gemein­sa­me und unter­stüt­zen uns gegen­sei­tig in der Beglei­tung und gestal­ten ver­schie­den­ste Inhal­te mit­ein­an­der.»

Offen, wenn der Tod naht

Wir gehen ins Wohn­zim­mer des Hos­pi­zes. Auf dem Weg dort­hin fin­den sich gemüt­lich grup­pier­te Ses­sel und offe­ne Zim­mer­tü­ren. Geblüm­te Vor­hän­ge las­sen den Besu­cher ein Bett, einen Bewoh­ner erah­nen. Aus man­chen Zim­mern klin­gen Gesprä­che.Ob es irgend­et­was gebe, dass den Men­schen hier gemein­sam sei? Mar­grit Muoth-Hegglin über­legt und sagt dann: «Was mir auf­fällt: Die Men­schen wer­den offen. Auch spi­ri­tu­ell. Es gibt kein ver­bohr­tes Glau­ben oder Nicht-Glau­ben mehr, son­dern Gesprä­che von allen über alles. Die Men­schen tra­gen kei­ne Mas­ke mehr, wozu auch? – Es geht um Grund­le­gen­de­res. Das erle­be ich auch bei den Ange­hö­ri­gen.» Die­ter Her­mann nickt: «Es gibt kei­ne Hür­den mehr. Es darf alles, wirk­lich alles, gefragt und the­ma­ti­siert wer­den. Dafür sind unse­re Leu­te da. Und auch wir ler­nen dabei».

Eine letz­te Zigarette

98 Pro­zent der Ver­stor­be­nen sei­en gelöst – weil Los­las­sen in die­sen Wän­den mög­lich sei. «Sie fin­den wohl ihren See­len­frie­den und sind gelöst und schön im Tod», sagt Die­ter Her­mann. Er und Mar­grit Muoth-Hegglin sind sich einig: Es ist ein Pri­vi­leg, die­se letz­ten Meter auf dem Lebens­weg eines Men­schen mit­zu­er­le­ben und als Wunsch­er­fül­ler zum guten Ende bei­tra­gen zu kön­nen. «Es gab eine Rau­che­rin hier», erin­nert sich Mar­grit Muoth-Hegglin, «Die Frau war immo­bil und woll­te irgend­wann noch eine Zigi rau­chen. Die bei­den Pfle­ge­rin­nen haben kur­zer­hand ihr Bett auf den Bal­kon gescho­ben. Das ist unglaub­lich kom­pli­ziert, doch sie mach­ten es mög­lich. Der Nef­fe hat ein Foto von ihr gemacht, 20 Stun­den spä­ter war sie tot.»Ein ande­res Bei­spiel nennt Die­ter Her­mann: «Eine Bewoh­ne­rin hat zum Schluss das Essen kaum mehr ver­tra­gen und des­halb nur wenig geges­sen. Eines Nachts wünsch­te sie sich plötz­lich Cur­ry­wurst mit Pom­mes. Jetzt ver­su­chen Sie mal, das um zwei Uhr nachts zu orga­ni­sie­ren. Doch wir haben alles gemacht, damit sie das bekommt. Sie hat es ver­tra­gen und ist ein paar Tage spä­ter gestor­ben». Auch Matrat­zen­la­ger für Ver­wand­te hat das Hos­piz in Brugg schon gese­hen.

Wenn Exit kei­ne Rol­le mehr spielt

Die Offen­heit für den Bewoh­ner und sei­ne Wün­sche sowie für des­sen Ange­hö­ri­ge ist das zen­tra­le Ele­ment der Arbeit. Die­se Offen­heit ver­ur­teilt nicht und akzep­tiert, dass es einen Grau­be­reich beim Über­gang von Ster­be­be­glei­tung zu Ster­be­hil­fe gibt. «Ich mache Ster­be­be­glei­tung, kei­ne Ster­be­hil­fe», erklärt Die­ter Her­mann. «Und auch wenn wir nicht aktiv gegen Exit mis­sio­nie­ren, das ist nicht unser Ver­ständ­nis vom Lebens­en­de.» Aber eine Schnitt­men­ge von Ster­be­be­glei­tung und Ster­be­hil­fe gebe es: «Eine Bewoh­ne­rin ist im Ster­be­fa­sten: Sie ist 96 Jah­re alt und parat. Das Umfeld trägt ihren Ent­scheid mit. Das liegt in der Schnitt­men­ge. Ande­rer­seits gab es Bewoh­ner, die Exit-Mit­glied waren und für die Exit kei­ne Rol­le mehr spiel­te, weil sie hier erlebt haben, wie man das Lebens­en­de gestal­ten kann.»Zum The­ma Ster­be­hil­fe ergänzt Die­ter Her­mann noch etwas Per­sön­li­ches: «Das ist jetzt sehr spi­ri­tu­ell, aber wenn ich auf Exit set­ze, unter­bin­de ich ein mög­li­ches Wun­der. Nicht das der kör­per­li­chen Hei­lung, aber das der see­li­schen Hei­lung. Wer ad hoc oder nach Ter­min Sui­zid begeht, lässt der See­le kei­ne Zeit».Home­page des Hos­piz AargauAus­bil­dung Pal­lia­ti­ve Beglei­tung der Aar­gau­er Landeskirchen
Anne Burgmer
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