Mitgefühl macht nicht vor Asylunterkünften Halt

Mitgefühl macht nicht vor Asylunterkünften Halt

  • Die weltweite Krise, die das Coro­n­avirus aus­gelöst hat, ist noch nicht über­standen, auch wenn die ersten Lockerun­gen der behördlichen Mass­nah­men bere­its angekündigt sind.
  • Durch die Covid-19-Schlagzeilen der ver­gan­genen Wochen sind andere The­men in den medi­alen Hin­ter­grund gerückt. Dazu gehört auch das ganze Flüchtlingswe­sen.
  • Darum gelangte der Vere­in Net­zw­erk Asyl Aar­gau mit Forderun­gen an den Regierungsrat, welche der Kan­ton aus «unbürokratisch bere­it­gestell­ten Mit­teln» finanzieren und selb­st gegen gel­tendes Asyl- und Aus­län­derge­setz umset­zen soll.
 Der Vere­in Net­zw­erk Asyl Aar­gau (VNAA)  zählt in seinem Brief an den Aar­gauer Regierungsrat vom 23. März 2020 fünf Punk­te auf, bezüglich der­er er vom Rat «sofor­tiges Han­deln» erwarte. Als erstes sind das finanzielle Mit­tel zur Ein­rich­tung von WLAN in allen kan­tonalen Asy­lun­terkün­ften und das Ein­richt­en von Lern­plätzen für Schulkinder mit Lap­tops und Druck­ern. Zweit­ens die Zurver­fü­gung­stel­lung von mehr Wohn­raum (Woh­nun­gen, Hotelz­im­mer, Turn­hallen), um Per­so­n­en bess­er voneinan­der tren­nen zu kön­nen als Präven­tion gegen Ansteck­ung und zur Ver­hin­derung von Stre­it­igkeit­en. Drit­tens soll die Kan­ton­sregierung gewährleis­ten, dass Flüchtlinge «spez­i­fis­che Lebens­mit­tel» aus deren Heimat kaufen kön­nen. Der VNAA ver­langt zudem mehr Ange­bote und mehr Betreu­ung für die Bewohn­er in den kan­tonalen Asy­lun­terkün­ften.  Eben­so sollen die Flüchtlinge über die aktuelle Auss­chaf­fung­sprax­is ori­en­tiert und ver­fügte Auss­chaf­fun­gen aus­ge­set­zt wer­den.

Regierungsrat schätzt «unermüdlichen Einsatz»

«Wir erwarten vom Regierungsrat des Kan­tons Aar­gau die oben erwäh­n­ten Vorkehrun­gen sofort umzuset­zen und genü­gend finanzielle und per­son­elle Ressourcen zu sprechen», schreiben VNAA-Präsi­dentin Patrizia Bertschi und VNAA-Geschäftsstel­len­lei­t­erin San­dra-Anne Göbel­beck­er am Ende ihres Briefes. Schon vier Tage später erre­ichte sie die Antwort von Regierungsrat Jean-Pierre Gal­lati, Vorste­her des Departe­ments Gesund­heit und Soziales, zu dem auch die Unter­abteilung Asyl gehört.Aus der Antwort geht her­vor, dass der Regierungsrat den «uner­müdlichen Ein­satz zugun­sten der Asyl­suchen­den» des VNAA sehr schätzt. Gle­ichzeit­ig weist Regierungsrat Gal­lati darauf hin, dass die Ausstat­tung der kan­tonalen Unterkün­fte mit WLAN geplant und teil­weise bere­its umge­set­zt sei, und dass die Lehrper­so­n­en an der Umset­zung ein­er Lösung für die Beschu­lung ohne Präsen­zun­ter­richt arbeit­eten.

Beschäftigungsprogramme in Unterkünften

Die weit­eren Antworten machen deut­lich, dass die Aar­gauer Regierung die Asyl­suchen­den keineswegs vergessen, son­dern im Gegen­teil dafür gesorgt hat, dass die notwendi­gen Infor­ma­tio­nen in allen entsprechen­den Über­set­zun­gen in den kan­tonalen Unterkün­ften aushän­gen und die Betreuer vor Ort auf Fra­gen und Anliegen ihrer Schutzbe­fohle­nen reagieren kön­nen.«Wie in der ganzen Schweiz, so zeich­net sich auch hier bei uns eine Entspan­nung der Lage ab», bestätigt Stephan Müller, Leit­er der Sek­tion Betreu­ung Asyl im Kan­tonalen Sozial­dienst, die aktuellen Zahlen. «Ich bin froh, dass unser Konzept funk­tion­iert. Ober­ste Pri­or­ität hat dabei immer die Ver­mit­tlung der Hygien­e­mass­nah­men und der Ver­hal­tensregeln. Wir haben unter anderem eigene Beschäf­ti­gung­spro­gramme in den Unterkün­ften lanciert, bei denen die Bewohn­er für die Reini­gung und Desin­fek­tion vor Ort sor­gen. Zudem bemühen wir uns auch, Beschäf­ti­gun­gen für Fam­i­lien anzu­bi­eten, damit diese eine gewisse Struk­tur erhal­ten in dieser Zeit.»

19 Corona-Fälle erfolgreich isoliert

Stephan Müller ist erle­ichtert, dass trotz der eher engen Platzver­hält­nisse in den Unterkün­ften, die Räume effizient genutzt wer­den kön­nen: «Wir haben, wo möglich, Iso­la­tion­sz­im­mer ein­gerichtet für den Fall ein­er Ansteck­ung. In ein paar Unterkün­ften kon­nten wir ganze Stock­w­erke für eine getren­nte Wohn­si­t­u­a­tion ein­richt­en. Eine Erle­ichterung war für den Kan­tonalen Sozial­dienst die Eröff­nung der Isolier­sta­tion im ehe­ma­li­gen Werk­hof Frick vor zwei Wochen. Bish­er hat­ten wir 19 Covid-19-Patien­ten oder ‑Ver­dachts­fälle da. Einige sind bere­its wieder gesund. In den ver­gan­genen zehn Tagen wurde von unseren gut 2’300 Klien­ten nie­mand mehr pos­i­tiv getestet.»Für die Bewohn­er der kan­tonalen Unterkün­fte seien soziale Kon­tak­te und aktuelle Infor­ma­tio­nen genau­so wichtig wie für alle anderen Men­schen, sagt Stephan Müller. Deshalb sei er auch so froh, dass diese Woche mit der WLAN-Instal­la­tion in sämtlichen Asy­lun­terkün­ften des Kan­tons begonnen werde. «Wir empfehlen das auch allen Gemein­den im Kan­ton, die eigene Asy­lun­terkün­fte betreiben, denn mit WLAN und Handy kön­nen die Asyl­suchen­den mit ihren Fre­un­den und Fam­i­lien in Kon­takt bleiben und sich über das aktuelle Geschehen auf dem Laufend­en hal­ten. Ausser­dem soll die Mass­nahme die Kom­mu­nika­tion im beru­flichen und schulis­chen Bere­ich, der zunehmend dig­i­tal ver­läuft, ermöglichen.»

«Wir wollen die Verzweiflung klarmachen»

Der VNAA ist mit der Antwort aus Aarau nicht zufrieden. In sein­er Rep­lik auf das Schreiben von Regierungsrat Gal­lati ste­ht unter anderem: «Die Angestell­ten des Kan­tonalen Sozial­dien­stes geben ihr Bestes und arbeit­en unter schwieri­gen Bedin­gun­gen. Umso wichtiger ist die Wertschätzung für die Per­so­n­en vor Ort, umso drin­gen­der, dass von Poli­tik und Gesellschaft mehr finanzielle und ideelle Ressourcen zur Ver­fü­gung gestellt wer­den.»Rolf Geis­er, Vor­standsmit­glied des VNAA und Geschäfts­führer des Vere­ins Club Asyl Aar­gau, ist vor allem besorgt wegen der psy­chis­chen Belas­tun­gen, unter denen die Geflüchteten in den Asy­lun­terkün­ften lei­den: «Wir verteilen regelmäs­sig Nahrungsmit­tel in den Unterkün­ften. So habe ich jede Woche Kon­takt mit den Bewohn­ern von etwa zehn Unterkün­ften. Da bemerkt man die anges­pan­nte Lage schon. Angst und Unsicher­heit führen zu ver­mehrtem Alko­holkon­sum. Wenn dann noch mehrere Män­ner auf engem Raum zusam­men­leben, führt das moralisch zu ein­er zunehmenden Insta­bil­ität. Einige von denen, die auf ihren Asy­lentscheid warten, haben gehört, dass die Fälle jet­zt schneller entsch­ieden wer­den als vorher. Das drückt natür­lich auch auf die Stim­mung.»Diese Unsicher­heit macht sich auch im Engage­ment der Club­mit­glieder bemerk­bar. Von den gut 30 Flüchtlin­gen, die dem Vere­in Club Asyl Aar­gau ange­hören, hät­ten sich zwei Drit­tel im Laufe der ver­gan­genen Wochen zurück­ge­zo­gen, berichtet Rolf Geis­er. «Die Verzwei­flung dieser Men­schen ver­suchen wir dem Grossen Rat und dem Regierungsrat mit ihren Sparübun­gen klarzu­machen.»
Christian Breitschmid
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