(Mit) Gott auf den Barrikaden?

(Mit) Gott auf den Barrikaden?

Der Lan­des­streik von 1918 und die Kirchen

Vor 100 Jah­ren stand die Schweiz im Lan­des­streik von 1918 am Rand einer gefähr­li­chen sozia­len Kon­fron­ta­ti­on. Wie ver­hiel­ten sich die Kir­chen in die­ser Auseinandersetzung?
Papst Leo XIII. bestimm­te mit sei­ner Enzy­kli­ka «Rer­um Novarum» von 1891 für Jahr­zehn­te die Hal­tung der katho­li­schen Kir­che zur sozia­len Fra­ge (Foto nach einer vom Ver­lag Ben­zi­ger, Ein­sie­deln, gedruck­ten Post­kar­te). | © Gustavo Velarde/wikimedia commons
Der refor­mier­te Pfar­rer und Pro­fes­sor Leon­hard Ragaz war mit sei­ner Zeit­schrift «Neue Wege» (ab 1906) der füh­ren­de Ver­tre­ter des reli­giö­sen Sozia­lis­mus in der Schweiz. | © Franz Schmel­haus, Zürich/wikimedia commons
Die zwei­te Indu­stria­li­sie­rung beweg­te seit der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts auch die Kir­chen. Der im Kul­tur­kampf besie­gel­te säku­la­ri­sier­te Staat in libe­ra­ler Gesell­schaft (Reli­gi­ons­frei­heit, Jesui­ten- und Bis­tums­ar­ti­kel, Grün­dung der Christ­ka­tho­li­schen Kir­che oder Apo­sto­li­kum­streit) wur­de in den poli­ti­schen Kri­sen der ersten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts vom Kopf auf die Füs­se gestellt. An die Stel­le kirch­li­cher Bevor­mun­dung des Staa­tes trat nicht die Frei­heit, son­dern das öko­no­mi­sche Dik­tat des Kapi­ta­lis­mus. Unter dem Strich hat­te für gros­se Tei­le der Bevöl­ke­rung die Ohn­macht bloss den Absen­der und die poli­ti­sche Eli­te nur ihre Legi­ti­ma­ti­ons­göt­ter gewech­selt.Die welt­wei­te katho­li­sche Kir­che stemm­te sich im Ersten Vati­ka­ni­schen Kon­zil (1869/1870) ener­gisch gegen die Moder­ne. Die schwei­ze­ri­schen Refor­mier­ten ver­such­ten umge­kehrt eine Annä­he­rung, indem sie etwa die obli­ga­to­ri­sche Bin­dung an das Apo­sto­li­sche Glau­bens­be­kennt­nis abschaff­ten. Die katho­li­sche Kir­che in der Schweiz manö­vrier­te sich in eine Ghet­to­si­tua­ti­on, die refor­mier­ten Kir­chen ris­kier­ten die pro­fil­lo­se Anpas­sung an den Zeit­geist. Aber das Spiel nach demo­kra­ti­schen Regeln muss­te genau­so erst gelernt wer­den wie ein kri­ti­sches Bewusst­sein der Spie­le­rin­nen und Spie­ler. Wesent­li­che For­de­run­gen des Olte­ner Akti­ons­ko­mi­tees des Lan­des­streiks ziel­ten des­halb auf demo­kra­ti­sche Spiel­re­geln: Pro­porz­wah­len, Frau­en­stimm­recht und Ableh­nung staat­li­cher Dienst­ver­pflich­tun­gen.Der Lan­des­streik selbst bil­de­te nur den Kul­mi­na­ti­ons­punkt einer län­ge­ren Ent­wick­lung. Bereits 1891 hat­te Papst Leo XIII. (Amts­zeit 1878–1903) in der ersten katho­li­schen Sozi­al­enzy­kli­ka «Rer­um Novarum» die kirch­li­che Auf­merk­sam­keit auf die «Neu­en Din­ge» und die «sozia­le Fra­ge» gelenkt. Mit dem pro­gram­ma­ti­schen Titel der 1906 gegrün­de­ten Zeit­schrift «Neue Wege» such­te ein Kreis um den refor­mier­ten Theo­lo­gen und reli­giö­sen Sozia­li­sten Leon­hard Ragaz (1868–1945) nach Alter­na­ti­ven in der kapi­ta­li­sti­schen und mili­ta­ri­sti­schen Indu­strie­ge­sell­schaft. Mate­ri­el­le Not und poli­ti­sche Ohn­macht trie­ben die Arbei­ter aus dem Schoss der Kir­che in die Hän­de der Gewerk­schaf­ten. Die auf katho­li­scher Sei­te seit den 1880er Jah­ren ent­ste­hen­de katho­lisch-sozia­le Bewe­gung setz­te sich für die Arbei­ter­schaft ein, auch um sie an die Kir­che bin­den und der Ver­fe­sti­gung gesell­schaft­li­cher Klas­sen­ge­gen­sät­ze ent­ge­gen­zu­wir­ken. In den refor­mier­ten Kir­chen domi­nier­te eben­falls eine libe­ral-kon­ser­va­ti­ve Grund­stim­mung. Aber auf­grund der fla­chen Hier­ar­chien und des gerin­gen Orga­ni­sa­ti­ons­grads prall­ten dort die gesell­schaft­li­chen Kon­flik­te unge­bremst auf­ein­an­der.Wäh­rend die katho­li­sche Kir­che gene­rell das staat­li­che Feind­bild vom Sozia­lis­mus teil­te, galt er der reli­gi­ös-sozia­len Bewe­gung als beden­kens­wer­te Opti­on. Das Bekennt­nis «Ich bin Sozia­list, weil ich an Gott glau­be. […] Der rech­te Sozia­lis­mus ist aus dem Geist des Evan­ge­li­ums Jesu gebo­ren» stammt nicht von einem «lin­ken» Pfar­rer, son­dern von dem refor­mier­ten Zür­cher Theo­lo­gie­pro­fes­sor Emil Brun­ner (1889–1966). Mit prü­fen­dem Blick in die Bibel ent­larv­ten Ragaz und Karl Barth (1886–1968, damals Pfar­rer in der Arbei­ter­ge­mein­de Safen­wil) die vom Staat behaup­te­te Bol­sche­wis­mus­ge­fahr als Stra­te­gie, um Repres­si­ons­mass­nah­men gegen die eige­ne Bevöl­ke­rung zu begrün­den. In sei­nem Resü­mee zum Gene­ral­streik atte­stier­te Ragaz gera­de dem Staat und Mili­tär einen «Bol­sche­wis­mus von oben»: «Was ist jene Tak­tik der Gewalt, die sich im Mili­tär­auf­ge­bot und Zube­hör ver­kör­pert, anders als Bol­sche­wis­mus […] Und was sind die berühm­ten ‹Voll­mach­ten› des Bun­des­ra­tes ande­res gewor­den als ein Werk­zeug der Dik­ta­tur, beson­ders in der Hand eines Man­nes?»Der Unmensch­lich­keit poli­ti­scher Herr­schaft unkri­tisch zu fol­gen, war für Barth genau­so Göt­zen­dienst, wie in poli­ti­schen Ideen das Heil zu suchen. Die­se Ein­sicht ver­bin­det das kirch­lich-sozia­le Enga­ge­ment von 1918 mit dem Kampf der Beken­nen­den Kir­che gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus, der latein­ame­ri­ka­ni­schen Befrei­ungs­theo­lo­gie, der kirch­li­chen Anti­apart­heid­be­we­gung, aktu­ell dem Enga­ge­ment für Flücht­lin­ge und Ver­trie­be­ne oder dem Bekennt­nis gegen die Poli­tik der Trump-Admi­ni­stra­ti­on «Reclai­ming Jesus. A Con­fes­si­on of Faith in a Time of Cri­sis». Die Gewiss­heit hin­ter die­sem kirch­li­chen Enga­ge­ment ist viel älter: «Man muss Gott mehr gehor­chen als den Men­schen.» (Apo­stel­ge­schich­te 5,29) Gott ist der allei­ni­ge Sou­ve­rän der Kir­che und der Welt. Solan­ge das fest­steht, könn­te er auch Sozia­list sein oder auch nicht.

Prof. Dr. Frank Mathwig, Beauf­trag­ter für Theo­lo­gie und Ethik beim Schwei­ze­ri­schen Evan­ge­li­schen Kirchenbund

 
Redaktion Lichtblick
mehr zum Autor
nach
soben