Manch­mal brau­chen wir ein har­tes Gesicht

Manch­mal brau­chen wir ein har­tes Gesicht

Jesa­ja 50,5–9aGott, der Herr, hat mir das Ohr geöff­net. Ich aber wehr­te mich nicht und wich nicht zurück. Ich hielt mei­nen Rücken denen hin, die mich schlu­gen, und denen, die mir den Bart aus­ris­sen, mei­ne Wan­gen. Mein Gesicht ver­barg ich nicht vor Schmä­hun­gen und Spei­chel.Doch Gott, der Herr wird mir hel­fen; dar­um wer­de ich nicht in Schan­de enden. Des­halb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kie­sel; ich weiss, dass ich nicht in Schan­de gera­te. Er, der mich frei­spricht, ist nahe. Wer wagt es, mit mir zu strei­ten? Lasst uns zusam­men vor­tre­ten! Wer ist mein Geg­ner im Rechts­streit? Er tre­te zu mir heran.Seht her, Gott, der Herr, wird mir helfen.Ein­heits­über­set­zung 

Manch­mal brau­chen wir ein har­tes Gesicht

Vor noch nicht lan­ger Zeit glaub­te ich, dass man allein mit Freund­lich­keit, Anstand und Wis­sen eine Sache durch­brin­gen kann und auch reüs­sie­ren wird. Das ist naiv. Natür­lich sind mir die­se Wer­te wich­tig. Aber sie rei­chen nicht. Es braucht Hart­näckig­keit, Mut, Inte­gri­tät und Ehre. All dies bewahrt nicht vor Rück­schlä­gen und Belei­di­gun­gen, im Gegen­teil.In der jet­zi­gen kirch­li­chen Situa­ti­on, so wie ich sie sehe, schä­me ich mich ob die­sen Miss­brauchs­skan­da­len in Grund und Boden. Als ich die­ser Tage mit einem Gefäng­nis­in­sas­sen sprach, der so sehr wünsch­te, dass sein klei­ner Sohn in die katho­li­sche Kir­che hin­ein­ge­tauft wür­de, bemerk­te ich sein Zögern. Sei­ne Frau wird dem nicht zustim­men, denn sie ist ent­setzt über so vie­le Prie­ster in Amt und Wür­den, wel­che Kin­der miss­brauch­ten. Ich konn­te nichts dazu sagen. Ein ande­rer jun­ger Mann sag­te mir im Gespräch: «Wis­sen Sie, ich wür­de nie zu einem Prie­ster gehen, obwohl ich katho­lisch bin, weil man nie weiss.» Der Scha­den ist immens und nicht abseh­bar. Wie­viel Enga­ge­ment, tief­grün­di­ges theo­lo­gi­sches Wis­sen, Sorg­falt, Spi­ri­tua­li­tät, Sen­si­bi­li­tät und ech­tes Bemü­hen in der Beglei­tung von Men­schen sind in vie­len Men­schen der Kir­che da. Das Ver­trau­en wur­de und wird ver­letzt. Fin­det die Kir­che je wie­der zu Glaub­wür­dig­keit?Ich bin mit vie­len Men­schen im Gespräch, die sich vor einem Gericht ver­ant­wor­ten müs­sen, weil sie zum Teil gros­se Feh­ler gemacht haben. Sie ler­nen in einem Pro­zess, dazu Ja zu sagen, und bereit zu sein, für ihre Feh­ler zu bezah­len. Sie bespre­chen sich mit mir vor und nach den Gerichts­ver­hand­lun­gen, obwohl ich kei­nen Ein­fluss auf die juri­sti­schen Abläu­fe habe, und das ist gut so. Es geht immer wie­der um die Fra­ge, wie sie äus­ser­lich in Schan­de gerie­ten und ver­su­chen, sich inner­lich auf­recht zu hal­ten. Sie suchen eine Recht­fer­ti­gung vor Gott und ein offe­nes Ohr.Da for­dert mich ein Satz in dem heu­ti­gen bibli­schen Text her­aus: «Des­halb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kie­sel; ich weiss, dass ich nicht in Schan­de gera­te.»Nett und freund­lich sein reicht nicht, wenn es um die Miss­bräu­che und Wahr­heits­su­che geht. Der Wahr­heit in mei­nem eige­nen Umfeld wie auch dar­über hin­aus ins Gesicht zu schau­en, braucht Mut. Die Ernüch­te­run­gen sind hart. Ich hof­fe, dass die Kir­che den Mut auf­bringt, alles ans Licht zu brin­gen, und dass alle Men­schen, wel­che uner­mess­li­ches Lei­den zufüg­ten und zufü­gen, zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den und die Ver­ant­wor­tung dafür über­neh­men wie jeder nor­ma­le Bür­ger auch. Es ist beson­ders wich­tig, sich den Opfern zuzu­wen­den. Aber dies reicht bei Wei­tem nicht.In den Schlag­zei­len der «NZZ» schrieb man dem eben ver­stor­be­nen ame­ri­ka­ni­schen Sena­tor John McCain zu, dass er ein Mann der Inte­gri­tät, der Ehre, des Cha­rak­ters und des Mutes war. Er stand für sei­ne Über­zeu­gun­gen ein, manch­mal auch als Ein­zel­gän­ger, und bewirk­te trotz mas­si­ven Tief­schlä­gen eini­ges. Wir kön­nen nicht in sol­che Fuss­stap­fen tre­ten – wir sind viel­leicht zu gewöhn­lich und ohne Macht, den­ke ich für mich. Aber Wer­te wie Inte­gri­tät, Ehre, Cha­rak­ter und Mut neu zu ent­decken und zu pfle­gen, ist ein ehren­haf­tes und schö­nes Lebens­ziel. Dazu muss unser Gesicht manch­mal ein­deu­tig, klar, ernst­haft, hart «wie ein Kie­sel» wer­den. Denn «seht her, Gott, der Herr, wird mir hel­fen». Ich gera­te «nicht in Schan­de» vor mir sel­ber, vor den Ande­ren und Gott gegen­über.Anna-Marie Fürst, Theo­lo­gin, arbei­tet in der Gefäng­nis­seel­sor­ge und in der Seel­sor­ge für Men­schen mit Behin­de­rung in den Kan­to­nen Aar­gau, Basel-Stadt und Zug 
Redaktion Lichtblick
mehr zum Autor
nach
soben