Ler­nen auf der Flucht

Ler­nen auf der Flucht

Wäh­rend der syri­sche Kon­flikt ins sech­ste Jahr geht, zeich­net sich für die Zukunft nach dem Krieg ein Pro­blem von gros­ser Trag­wei­te ab: 700 000 Flücht­lings­kin­der besu­chen kei­ne Schu­le. Die Geschwi­ster Kader (9) und Lay­la (7) pro­fi­tie­ren im Liba­non von einem Schul­pro­jekt der Cari­tas, das die­sem Miss­stand entgegenwirkt.Frü­her war es ein Gerä­te­schup­pen, seit vier Jah­ren ist es das Zuhau­se der Flücht­lings­fa­mi­lie Ayed (Name zum Schutz der Betrof­fe­nen geän­dert). Zwölf Qua­drat­me­ter müs­sen ihr als Lebens­raum genü­gen. Das Weni­ge, das sie besit­zen, ist auf­ge­räumt an sei­nem Platz, der Holz­ofen spen­det Wär­me, Mut­ter Fad­mah Ayed ver­sucht nach Kräf­ten, Wohn­lich­keit her­zu­stel­len. Dass ihre Kin­der nicht mehr den gan­zen Tag hier ver­brin­gen müs­sen und zur Schu­le gehen kön­nen, ist eine Erleich­te­rung. «Zu Hau­se ist es für sie wie in einem Gefäng­nis», so die Mut­ter.Fran­zö­sisch als Schulsprache Fad­mah Ayed sitzt auf einer Matrat­ze am Boden, die tags­über als Sofa und nachts als Bett dient. Sie hält ihr drei Mona­te altes Baby auf dem Arm und hilft der Toch­ter, ein ara­bi­sches Gedicht aus­wen­dig zu ler­nen. «Lay­la ist sehr gut in der Schu­le», erzählt sie stolz. Die Mut­ter hat in Syri­en sie­ben Jah­re die Schu­le besucht und dabei auch etwas Eng­lisch gelernt. Im Liba­non aber ist Fran­zö­sisch die Schul­spra­che. «Lei­der kann ich den Kin­dern nicht hel­fen bei den Haus­auf­ga­ben, weil ich kein Fran­zö­sisch ver­ste­he», sagt sie bedau­ernd, denn die Bil­dung der Kin­der ist ihr ein gros­ses Anlie­gen.Liba­ne­sen grei­fen syri­sche Flücht­lin­ge an Dass die mus­li­mi­sche Fami­lie im Liba­non aus­ge­rech­net im christ­li­chen Dorf Kar­ta­ba Zuflucht fand, wo es im Win­ter auf 1 200 Metern emp­find­lich kalt wird, war kein Zufall. Vater Wael Ayed ver­dien­te hier schon in den Jah­ren vor dem Krieg jeweils im Som­mer als Arbei­ter in den Apfel­plan­ta­gen sein Geld. «Als unser Dorf in der syri­schen Hei­mat bom­bar­diert und unser Haus geplün­dert wur­de, habe ich die Fami­lie hier­her gebracht», sagt er. Das Zusam­men­le­ben im Dorf läuft nicht immer kon­flikt­frei. Vor eini­gen Mona­ten hät­ten im Dorf ein paar Män­ner syri­sche Flücht­lin­ge ange­grif­fen und ver­prü­gelt, erzählt Wael. Ein Grund für Span­nun­gen liegt dar­in, dass die Ver­dienst­mög­lich­kei­ten schlech­ter sind als vor dem Krieg. Das Zahl der Arbeits­kräf­te über­steigt die Nach­fra­ge bei wei­tem – inzwi­schen bewer­ben sich auch die her­an­wach­sen­den Söh­ne um Arbeit in den Plan­ta­gen.Don Bosco-Schwe­stern unter­rich­ten Flüchtlinge Kader und Lay­la gehö­ren zu den Kin­dern, die im Rah­men eines Pro­jek­tes der Cari­tas die Schu­le besu­chen kön­nen. Mit die­ser Unter­stüt­zung hat die ört­li­che Pri­mar­schu­le, die von Schwe­stern des Don Bosco-Ordens geführt wird, im letz­ten Herbst ihre Tore für alle syri­schen Flücht­lings­kin­der geöff­net. Nun kom­men dop­pelt so vie­le Schü­le­rin­nen und Schü­ler zum Unter­richt. Eine gros­se Her­aus­for­de­rung, wie Schwe­ster Geor­get­te berich­tet: «Wir haben zusätz­li­che Leh­re­rin­nen ein­ge­stellt, die Klas­sen ver­grös­sert, Schul­bän­ke ange­schafft, das Com­pu­ter­zim­mer in ein Klas­sen­zim­mer umfunk­tio­niert», erzählt die über 70-jäh­ri­ge Schul­lei­te­rin. Sicher ging es am Anfang recht tur­bu­lent zu und her, aber grös­se­re Kon­flik­te gab es kaum. «Wir behan­deln alle Kin­der gleich, sie haben die glei­che Schul­uni­form, die glei­chen Bücher, die glei­che Unter­stüt­zung. Sie gehö­ren alle zusam­men!»Zwei­schich­ten­be­trieb an den Schulen Nicht nur in Kar­ta­ba, im gan­zen Land ist eine Offen­si­ve im Gang, um mög­lichst vie­le syri­sche Kin­der in die Schu­le zu inte­grie­ren. In öffent­li­chen Schu­len fan­den im Jahr 2015 zusätz­lich 200 000 Kin­der einen Platz. Dazu wur­den an vie­len Orten Zwei­schicht­be­trie­be ein­ge­rich­tet: Mor­gens gehen die ein­hei­mi­schen Kin­der zur Schu­le, nach­mit­tags die Flücht­lings­kin­der. So konn­te die Ein­schu­lungs­quo­te mar­kant erhöht wer­den. Das öffent­li­che Schul­sy­stem stösst aber an sei­ne Gren­zen, daher ist es wich­tig, dass auch pri­va­te Schu­len mit der Unter­stüt­zung von Orga­ni­sa­tio­nen wie der Cari­tas mehr Kin­der auf­neh­men kön­nen. Das regio­na­le Pro­jekt der Cari­tas ermög­licht 2 500 Flücht­lings­kin­dern im Liba­non und in Jor­da­ni­en Zugang zur Schu­le.Lehr­per­so­nen ler­nen, wie man trau­ma­ti­sier­te Kin­der unterrichtet «Flücht­lings­kin­der leben im per­ma­nen­ten nega­ti­ven Stress. Sie haben Lern­lücken und Schwie­rig­kei­ten mit dem Erin­nern, und bei­des beein­träch­tigt das Ler­nen. For­ma­les Ler­nen ist für Flücht­lings­kin­der eine wahn­sin­ni­ge Anstren­gung», sagt die Päd­ago­gin Bea­tri­ce Rutis­hau­ser, die seit vie­len Jah­ren für die Cari­tas in Kri­sen­ge­bie­ten Bil­dungs­pro­jek­te durch­führt. Das Pro­jekt im Liba­non und in Jor­da­ni­en legt daher auch einen Fokus dar­auf, dass die ein­ge­schul­ten Kin­der in der Lage sind, dem Unter­richt zu fol­gen und Unter­richts­in­hal­te auf­zu­neh­men. Die Leh­re­rin­nen und Leh­rer wer­den spe­zi­ell aus­ge­bil­det dar­in, wie sie auf die Situa­ti­on von kriegs­trau­ma­ti­sier­ten Kin­dern ein­ge­hen kön­nen.Ler­nen oder heiraten Wie wich­tig Schul­bil­dung ist, erläu­tert Jean Khou­ry, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­lei­ter bei Cari­tas Liba­non: «Wenn die­se Kin­der kei­ne Chan­ce erhal­ten, die Schu­le zu besu­chen, tra­gen sie ein hohes Risi­ko für eine frü­he Hei­rat. Sie wer­den selbst sehr jung Kin­der bekom­men und nicht in der Lage sein, für die­se zu sor­gen. Das Pro­blem über­trägt sich auf die näch­ste Gene­ra­ti­on.» Kader und Lay­la dür­fen dank dem Schul­be­such auf eine bes­se­re Zukunft hoffen.
Andreas C. Müller
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