Lau­fen ist Leben

Die­sen Som­mer ist Hori­zon­te sport­lich unter­wegs. In Lauf­schu­hen, mit dem Rad und auf der Yoga-Mat­te zeigt das Aar­gau­er Pfarr­blatt, wie «Glau­be bewegt». In drei Tei­len kön­nen die Lese­rin­nen und Leser in unter­schied­li­che Wel­ten ein­tau­chen. Den Auf­takt macht Kadi Nese­ro, der als min­der­jäh­ri­ger Asy­lant in die Schweiz kam. Heu­te gehört der 26-jäh­ri­ge zu den schnell­sten Läu­fern im Land. 

Erst ein ein­zi­ges Mal muss­te er auf­ge­ben. Es war im August 2004. Der Asphalt glüh­te. Und Kadi Nese­ro trug kei­ne rich­ti­gen Turn­schu­he. Drei Mona­te zuvor war er aus Äthio­pi­en in die Schweiz gekom­men, als Flücht­ling. Er konn­te weder mit den Men­schen hier spre­chen, noch ihre Men­ta­li­tät ver­ste­hen. Das Ein­zi­ge, was er konn­te, war lau­fen. So mel­de­te er sich für einen Volks­lauf im Aar­gau an. Aber eben, ohne rich­ti­ge Turn­schu­he lief er das Ren­nen nicht zu Ende.

Lan­ger Weg zu neu­er Spra­che
Heu­te gehört der 26-jäh­ri­ge Kadi Nese­ro zu den besten Läu­fern in der Schweiz. Auf Mit­tel- und Lang­strecken ist er regel­mäs­sig unter den Top Ten zu fin­den. Lauf­schu­he und –klei­der bekommt er von sei­nem Spon­sor und die Trai­nings­plä­ne schickt ihm sein Trai­ner aus Genf. Er trai­niert mit dem BTV Aar­au und im Lei­stungs­zen­trum von Swiss Olym­pic in St. Moritz. Jeden Nach­mit­tag büf­felt er im Schul­zim­mer von lin­gua nova deut­sche Voka­beln und Gram­ma­tik, ein Gespräch auf Hoch­deutsch kann er inzwi­schen pro­blem­los füh­ren. Aber der Weg dahin war lang und holprig.

Start in neu­es Leben mit Kul­tur­schock.
«Schwarz ist schwarz, für vie­le Leu­te hier», sagt Kadi Nese­ro und spricht damit die Vor­ur­tei­le an, mit denen er kon­fron­tiert wur­de. Das Fuss­fas­sen in der Schweiz war schwie­rig, der Wech­sel von Addis Abe­ba nach Aar­au ein Kul­tur­schock. Kadi Nese­ro wuchs im Hoch­land von Äthio­pi­en, 3000 Meter über Meer, auf. Sein Vater betreibt eine Farm mit viel Land, auf dem Kühe, Pfer­de und Scha­fe gra­sen. «Das Leben ist ganz anders als hier», erzählt Kadi Nese­ro, «kei­ne Autos, kei­ne Bus­se – wir gin­gen immer zu Fuss.» Sei­nen lan­gen Schul­weg leg­te er eben­falls lau­fend zurück. Wäh­rend sei­ner Schul­zeit begann er mit dem Bahn­trai­ning, war Mit­glied im Lauf­team sei­ner High­school. Dann aber nahm er als 17-jäh­ri­ger Wirt­schafts­stu­dent an der Uni von Addis Abe­ba an einer Demon­stra­ti­on gegen die äthio­pi­sche Regie­rung teil. Dar­auf droh­te ihm Gefäng­nis. Zusam­men mit ein paar Kol­le­gen flüch­te­te er zuerst nach Kenia, spä­ter, mit Hil­fe von Ver­wand­ten in den USA, in die Schweiz. Als min­der­jäh­ri­ger Asyl­be­wer­ber muss­te er hier ein neu­es Leben beginnen.

Inte­gra­ti­on im Ver­ein
Durch den ersten miss­glück­ten Wett­kampf liess er sich nicht ent­mu­ti­gen. Bald nach sei­ner Ankunft begann er wie­der zu trai­nie­ren und stand schon im Novem­ber des­sel­ben Jah­res erst­mals auf einem Podest. Seit da läuft Kadi Nese­ro an Wett­kämp­fen in der gan­zen Schweiz regel­mäs­sig unter die ersten zehn. Vier­mal gewann er bis­her den Brem­gar­ter Reuss­lauf und drei­mal den Lim­mat­lauf in Baden. Vor ein paar Jah­ren trai­nier­te er gera­de im Fit­ness­cen­ter, als ihn ein Mann ansprach und frag­te, ob er denn in einem Ver­ein dabei sei. Als Kadi Nese­ro ver­nein­te, lud er ihn ein, im BTV Aar­au vor­bei­zu­schau­en. «In mei­nem Ver­ein bin ich voll inte­griert, die Leu­te sind nett, ich ler­ne viel», sagt Kadi Nese­ro. Das Glück ist gegen­sei­tig, denn auch der BTV Aar­au pro­fi­tiert von sei­nem Spit­zen­läu­fer. Neu­lich an den Ver­eins­mei­ster­schaf­ten in Lau­sanne sicher­te Kadi Nese­ro sei­nem Ver­ein mit dem Sieg im 3000-Meter-Lauf den Ligaerhalt.

An sich glau­ben
«Nicht nur die Füs­se lau­fen, son­dern auch der Kopf», sagt Kadi Nese­ro mit Nach­druck. Wäh­rend die Bei­ne sich bewe­gen, pur­zeln auch die Gedan­ken im Kopf: «Soll ich angrei­fen? Wo? Oder soll ich den bes­ser gehen las­sen? End­spurt schon jetzt anzie­hen?» Wäh­rend eines Wett­kamp­fes den­ke er nicht über sein Leben nach, denn da ste­hen die tak­ti­schen Über­le­gun­gen zuvor­derst. Kadi Nese­ro beob­ach­tet die Kon­kur­ren­ten, kon­zen­triert sich auf die Strecke, auf sei­nen Kör­per. Er hält nichts davon, sich vor einem Ren­nen ver­rückt zu machen und unter Druck zu set­zen. Gut lau­fe es für ihn meist dann, wenn er sich sage: «Ich schaue, was heu­te drin­liegt.» Auch von berühm­ten Kon­kur­ren­ten, die neben ihm an der Start­li­nie drän­geln, lässt er sich nicht aus der Ruhe brin­gen. Kadi Nese­ro glaubt an sich und sei­ne Fähig­kei­ten: «Ich bin zwar stolz, wenn Hai­le Gebrse­las­sie neben mir star­tet, aber ich bin Kadi, ich muss für mich schau­en.» Am dies­jäh­ri­gen Grand­prix von Bern kam er als Zehn­ter 50 Sekun­den hin­ter dem Welt­klas­se­läu­fer ins Ziel.

Der Traum von Olym­pia
Lau­fen ist Leben. So ein­fach for­mu­liert Kadi Nese­ro sei­ne Moti­va­ti­on, immer und immer wie­der zu lau­fen. Die Bahn­trai­nings, für die es jetzt im Som­mer schon um sie­ben Uhr mor­gens fast zu heiss ist, die Kilo­me­ter auf dem Kies­weg an der Aare und die Höhen­trai­nings in St. Moritz erfül­len ihn mit Freu­de. Sein Traum, an Olym­pi­schen Spie­len oder an Welt­mei­ster­schaf­ten zu gewin­nen, ver­leiht ihm zusätz­li­chen Schub. Sich als Äthio­pi­er für die Olym­pi­schen Spie­le zu qua­li­fi­zie­ren ist ungleich schwie­ri­ger als für einen Schwei­zer, weil so vie­le Läu­fer die erfor­der­li­che Limi­te unter­bie­ten. Dafür ist eine Olym­pia-Medail­le in Äthio­pi­en so etwas wie eine drit­te Säu­le bei uns, wer sie hat, kann in Ruhe alt wer­den. «Als Olym­pia­sie­ger bist du in Äthio­pi­en lebens­lang ein Vor­bild», sagt Kadi Nese­ro. Dann könn­te er viel­leicht auch zurück­keh­ren in sein Land, in dem er seit fast zehn Jah­ren nicht mehr war. Wenn er erzählt vom Leben auf der elter­li­chen Farm, vom Kühemel­ken, von der Wei­te der Wei­den und von der Gross­mutter, die ein ganz beson­de­rer Mensch für ihn war, klingt sei­ne Stim­me noch eine Spur lebendiger.

Halb­ma­ra­thon in 62 Minu­ten 
Um sei­nem Olym­pi­schen Traum näher zu kom­men, setzt er sich Zwi­schen­zie­le. Die­se Sai­son etwa will er den Halb­ma­ra­thon in 62 Minu­ten lau­fen. Er weiss, dass er das schaf­fen kann, wenn er fit ist und die Strecke flach. «Ich lau­fe lie­ber flach als hüge­lig, weil ich viel Speed habe aber nicht so mus­ku­lö­se Ober­schen­kel», sagt der eher klein gewach­se­ne Läu­fer. Am besten geeig­net wäre für die per­sön­li­che Halb­ma­ra­thon-Best­zeit der Grei­fen­see­lauf im Sep­tem­ber, meint er. Oder dann ein Ren­nen in Hol­land. Mit sei­nem F‑Ausweis kann er auch an Wett­kämp­fe im Aus­land rei­sen, die Rei­se­ko­sten bezah­len meist die Orga­ni­sa­to­ren. So läuft er immer wie­der auch in Spa­ni­en und Italien.

Akzep­tanz nur mit Arbeit
Eigent­lich lebt Kadi Nese­ro wie ein Pro­fi, der Gross­teil des Tages besteht aus Trai­ning. Trotz­dem wür­de er ger­ne arbei­ten und lernt des­halb auch jeden Nach­mit­tag Deutsch in der Sprach­schu­le. «In ande­ren Län­dern müss­te ich mit die­sen Lei­stun­gen nicht arbei­ten, aber hier gehört eine Arbeit ein­fach dazu.» Er spürt: Akzep­tiert wer­den und Dazu­ge­hö­ren ist leich­ter, wenn man eine Arbeit hat. Kadi Nese­ros Wunsch ist, dass er gesund bleibt und wei­ter lau­fen kann. Des­halb hört er auf sei­nen Kör­per. Und wenn der müde ist, macht er auch mal eine Pau­se. Moti­va­ti­ons­tiefs kennt auch ein Spit­zen­läu­fer, meist hand­le es sich aber nur um Anlauf­schwie­rig­kei­ten, nach einer Vier­tel­stun­de Bewe­gung keh­re die Freu­de am Lau­fen regel­mäs­sig zurück, erzählt Kadi Nese­ro. Und er fügt an: «Lau­fen ist mei­ne Lieb­lings­sa­che.»
Marie-Chri­sti­ne Andres

Redaktion Lichtblick
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