Kri­ti­scher Blick auf das Jesui­ten­ver­bot in der Schweiz

Kri­ti­scher Blick auf das Jesui­ten­ver­bot in der Schweiz

«Das Jesui­ten­ver­bot beruh­te auf Fake News»

Adri­an Lore­tan zur Ent­ste­hung der reli­giö­sen Aus­nah­me­ar­ti­kel in den Bun­des­ver­fas­sun­gen von 1848 und 1874

Waren die Jesui­ten im 19. Jahr­hun­dert wirk­lich staats­ge­fähr­lich, wie es hun­dert Jah­re lang in der Schwei­zer Bun­des­ver­fas­sung stand? Nein, meint der Luzer­ner Kir­chen­rechts­pro­fes­sor Adri­an Lore­tan. Das Jesui­ten­ver­bot in der Bun­des­ver­fas­sung sei die Fol­ge der Pro­pa­gan­da der Radi­ka­len gewe­sen – ein Kampf­mit­tel auf dem Weg zur Schaf­fung des Bundesstaates.Es ist ein arger «Tolg­gen» im Rein­heft der Schwei­zer Demo­kra­tie: Das Ver­bot des Jesui­ten­or­dens, das von 1848 bis 1973 in der Bun­des­ver­fas­sung stand. Heu­te ist es kaum mehr ver­ständ­lich. Waren die Jesui­ten für den jun­gen Schwei­zer Bun­des­staat tat­säch­lich eine Gefahr? Die­ser Fra­ge ging Adri­an Lore­tan, Pro­fes­sor für Kir­chen- und Staats­kir­chen­recht an der Uni­ver­si­tät Luzern, am 9. Okto­ber im Rah­men der Vor­trags­rei­he «Stür­mi­sche Zei­ten» nach, die par­al­lel zur Aus­stel­lung des bri­ti­schen Malers Wil­liam Tur­ner im Kunst­mu­se­um Schlag­lich­ter auf das revo­lu­tio­nä­re 19. Jahr­hun­dert warf.Bade­ner Arti­kel und ZüriputschNach den libe­ra­len Umstür­zen von 1830/31 in zahl­rei­chen Kan­to­nen erleb­te die Schweiz äus­serst unru­hi­ge Jah­re, mit hef­ti­gen poli­ti­schen Kämp­fen und zahl­rei­chen Regie­rungs­wech­seln. Ein­mal an der Macht, ver­folg­ten libe­ra­le und radi­ka­le Poli­ti­ker ein for­sches Reform- und Moder­ni­sie­rungs­pro­gramm. Dabei erach­te­ten sie die Kir­che, nament­lich die katho­li­sche Kir­chen­hier­ar­chie, als Hemm­schuh und Geg­ne­rin. Unter mass­ge­ben­der Betei­li­gung von libe­ra­len Katho­li­ken ent­stan­den so 1834 die «Bade­ner Arti­kel», ein radi­ka­les kir­chen­po­li­ti­sches Pro­gramm, das die Kir­chen einer stren­gen Staats­auf­sicht des libe­ra­len Staa­tes unter­stel­len und den Ein­fluss Roms beschrän­ken woll­te.Die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung dach­te aller­dings oft tra­di­tio­nel­ler, was die kon­ser­va­ti­ven Poli­ti­ker ver­an­lass­te, Instru­men­te der direk­ten Demo­kra­tie zu for­dern und gegen die libe­ra­len Regie­run­gen und Par­la­men­te ein­zu­set­zen. In Zürich löste eine im Volk miss­lie­bi­ge Beru­fung eines Theo­lo­gie­pro­fes­sors 1839 den Sturz der libe­ra­len Regie­rung aus – durch die­sen «Züri­putsch» fand das bis dahin rein schwei­ze­ri­sche Wort «Putsch» Ein­gang in den deut­schen Sprach­ge­brauch.Luzern als Brenn­punkt der JesuitenfrageAuch im füh­ren­den katho­li­schen Kan­ton, Luzern, wur­de der poli­ti­sche Kampf auf einer kir­chen­po­li­ti­schen Büh­ne aus­ge­foch­ten. «Die eid­ge­nös­si­sche Jesui­ten­fra­ge ent­steht im Kampf gegen die Luzer­ner Jesui­ten­be­ru­fung», stell­te Adri­an Lore­tan in sei­nem Vor­trag fest. Wie er dar­leg­te, war ein Teil der ein­hei­mi­schen Luzer­ner Geist­li­chen durch­aus libe­ral und rom­kri­tisch gesinnt. In die­sem Umfeld for­der­te der kon­ser­va­ti­ve Bau­ern­füh­rer Josef Leu ab 1839 die Beru­fung papst­treu­er Jesui­ten aus Ita­li­en als Theo­lo­gie­pro­fes­so­ren an die Luzer­ner Höhe­re Lehr­an­stalt. Zu jenem Zeit­punkt waren Jesui­ten in der Schweiz in den Kan­to­nen Wal­lis, Frei­burg und Schwyz im Schul­dienst tätig.Den Ablauf der dra­ma­ti­schen Ereig­nis­se zeich­ne­te Lore­tan anhand der umfas­sen­den Unter­su­chung «Die Jesui­ten und die Schweiz im 19. Jahr­hun­dert» (Olten, 1954) des Ordens­hi­sto­ri­kers Fer­di­nand Stro­bel SJ nach. So führ­te er aus, der Jesui­ten­or­den habe sich kei­nes­wegs um den Aus­bau sei­ner Prä­senz in der Schweiz bemüht, die damals den Ruf einer «Putsch­na­ti­on» hat­te. Im Gegen­teil, die Ordens­lei­tung in Rom habe sich mit allen Mit­teln gegen die Beru­fung nach Luzern gewehrt. Doch die Luzer­ner Kon­ser­va­ti­ven hät­ten sich direkt an den Papst gewandt und die Zustim­mung der Jesui­ten gera­de­zu «erpresst».Ziel­schei­be radi­ka­ler PropagandaDie Bestre­bun­gen der Luzer­ner Kon­ser­va­ti­ven mach­ten die Jesui­ten zur will­kom­me­nen Ziel­schei­be für die Heiss­spor­ne auf­sei­ten der Radi­ka­len. Es kur­sier­ten jesui­ten­feind­li­che Flug­blät­ter, so eines mit dem bösen Spott­ge­dicht «Jesui­ten­zug» des jun­gen Gott­fried Kel­ler. Öl ins Feu­er waren die «Mai­wir­ren» im Wal­lis, wo die bis dahin regie­ren­den Radi­ka­len im Mai 1844 eine mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge gegen die kon­ser­va­ti­ven Ober­wal­li­ser erlit­ten. Der gemäs­sig­te radi­ka­le Regie­rungs­rat Mau­rice Bar­man, der im Schul­we­sen mit den Jesui­ten zusam­men­ge­ar­bei­tet hat­te und die­se gut kann­te, muss­te flie­hen und ver­fass­te über die Kämp­fe einen Bericht auf Fran­zö­sisch, in dem die Jesui­ten kei­ne Rol­le spiel­ten. Erst in der deut­schen Über­set­zung von Lud­wig Snell, einem füh­ren­den radi­ka­len Staats­den­ker in der Schweiz, wur­de den Jesui­ten die Schuld zuge­scho­ben, was die Stim­mung der Radi­ka­len gegen die Jesui­ten anheiz­te.Urteil vor der Ankunft in der SchweizAdri­an Lore­tan rich­te­te die Auf­merk­sam­keit auf die zeit­li­che Abfol­ge der wei­te­ren Schrit­te. Ende Mai 1844, kurz nach dem Waf­fen­gang im Wal­lis, stell­te der anti­kle­ri­ka­le katho­li­sche Radi­ka­le Augu­stin Kel­ler im Aar­gau­er Gros­sen Rat den Antrag auf Aus­wei­sung der Jesui­ten und Auf­he­bung ihres Ordens. Im August 1844 kam die­ser Antrag vor die Tag­sat­zung, wo er aber nur von Basel­land unter­stützt wur­de. Trotz der kla­ren Ableh­nung hat­te nun die The­se «Die Jesui­ten sind staats­ge­fähr­lich» die ober­ste Ebe­ne der eid­ge­nös­si­schen Poli­tik erreicht.Erst danach, am 24. Okto­ber 1844, berief Luzern die Jesui­ten an sei­ne Hoch­schu­le, und erst im fol­gen­den Sommer/Herbst 1845 tra­fen die ersten Jesui­ten aus Ita­li­en dort ein. Somit, so Lore­tan, wur­de die Staats­ge­fähr­lich­keit der Jesui­ten schon behaup­tet, bevor die­se über­haupt in Luzern zu wir­ken began­nen. Beson­ne­ne Pro­te­stan­ten wie Jere­mi­as Gott­helf in Bern oder Jacob Bur­ck­hardt in Basel hät­ten denn auch das «Über­bor­den» der Radi­ka­len kri­ti­siert.Jesui­ten­ver­bot in der BundesverfassungDie Auf­wal­lung um die Luzer­ner Jesui­ten­be­ru­fung war der stim­mungs­mäs­si­ge Hin­ter­grund der revo­lu­tio­nä­ren Ent­wick­lung in der Schweiz von 1844 bis 1848: Zwei bewaff­ne­te Frei­scha­ren­zü­ge von Radi­ka­len gegen Luzern, Grün­dung des Son­der­bunds der katho­lisch-kon­ser­va­ti­ven Kan­to­ne, Beschluss der libe­ra­len Mehr­heit der Tag­sat­zung zur Auf­lö­sung des Son­der­bunds und im Novem­ber 1847 der Son­der­bunds­krieg, der mit dem Sieg der libe­ra­len Kan­to­ne ende­te.Im Som­mer 1847 hat­te die Tag­sat­zung Luzern und die andern Kan­to­ne auf­ge­for­dert, die Jesui­ten aus­zu­wei­sen. Bei der Erar­bei­tung der neu­en Bun­des­ver­fas­sung von Febru­ar bis Juni 1848 erach­te­te vor­erst die aus frei ent­schei­den­den Poli­ti­kern, zum gros­sen Teil Juri­sten bestehen­de vor­be­ra­ten­de Kom­mis­si­on ein Jesui­ten­ver­bot als unnö­tig. Doch die Tag­sat­zung als gan­ze, deren Abge­ord­ne­te an die Instruk­tio­nen ihrer Kan­to­ne gebun­den waren, stimm­te am 26. Juni 1848 auf Antrag Zürichs für das Ver­bot des Jesui­ten­or­dens, das pro­te­stan­tisch-kon­ser­va­ti­ve Basel-Stadt war einer von fünf ableh­nen­den Kan­to­nen. So kam der Arti­kel 58 mit fol­gen­dem Wort­laut in die erste schwei­ze­ri­sche Bun­des­ver­fas­sung von 1848: «Der Orden der Jesui­ten und die ihm affi­li­ir­ten Gesell­schaf­ten dür­fen in kei­nem Thei­le der Schweiz Auf­nah­me finden.» Seit 1874 offi­zi­ell «staats­ge­fähr­lich» Vor dem Hin­ter­grund des Kul­tur­kampfs nach der Ver­kün­dung des Unfehl­bar­keits­dog­mas durch den Papst wur­de das Jesui­ten­ver­bot bei der Total­re­vi­si­on der Bun­des­ver­fas­sung 1874 noch ver­schärft, indem das Ver­bot auch auf ande­re geist­li­che Orden aus­ge­dehnt wer­den kön­ne, «deren Wirk­sam­keit staats­ge­fähr­lich ist oder den Frie­den der Kon­fes­sio­nen stört». Damit hat die Schweiz in ihrer Ver­fas­sung den Jesui­ten­or­den offi­zi­ell als staats­ge­fähr­lich gekenn­zeich­net. Zudem kamen 1874 das Ver­bot der Errich­tung oder Wie­der­her­stel­lung von Klö­stern und reli­giö­sen Orden sowie wei­te­re Aus­nah­me­ar­ti­kel hin­zu, wel­che die Glau­bens- und Gewis­sens­frei­heit ein­schränk­ten.Auf­he­bung dank den Frauen?Auf­ge­ho­ben wur­den der Jesui­ten- und der Klo­ster­ar­ti­kel der Bun­des­ver­fas­sung erst in der Volks­ab­stim­mung vom 20. Mai 1973, vom Volk mit 54,9 Pro­zent Ja und von den Stän­den mit 16,5 zu 5,5 Stim­men. Adri­an Lore­tan bemerk­te, dies sei wahr­schein­lich den Frau­en zu ver­dan­ken gewe­sen, die 1971 das Stimm­recht erhal­ten hat­ten und «sich nicht von der Pro­pa­gan­da lei­ten lies­sen».In einer rück­blicken­den Beur­tei­lung hielt Lore­tan fest, die Jesui­ten sei­en nur zwei Jah­re in Luzern tätig gewe­sen, von 1845 bis 1847. Bei der Aus­ein­an­der­set­zung um die Jesui­ten habe es sich um einen poli­ti­schen und nicht um einen kon­fes­sio­nel­len Kon­flikt gehan­delt. Zustim­mend zitier­te er das Fazit des Jesui­ten und Histo­ri­kers Stro­bel: Die Radi­ka­len hät­ten die Jesui­ten­fra­ge auf­ge­bauscht, um die nöti­ge Mehr­heit zur Grün­dung des Bun­des­staa­tes zu erlan­gen. Die Fra­ge, ob die Jesui­ten damals staats­ge­fähr­lich waren, beant­wor­te­te Lore­tan poin­tiert: «Fake News waren schon ein Mit­tel der Poli­tik in der Schweiz im 19. Jahr­hun­dert.»Schön­heits­feh­ler der direk­ten DemokratieKri­tisch merk­te der Kir­chen­rechts­pro­fes­sor an, damit sei der Grund­stein für eine Tra­di­ti­on gelegt wor­den, wonach in der Schweiz eine Mehr­heit die Grund­rech­te einer Min­der­heit ein­schrän­ken kön­ne. 1848 und 1874 betraf es mit dem Jesui­ten­ver­bot und dem Klo­ster­ar­ti­kel die Katho­li­ken, 1893 mit der Volks­in­itia­ti­ve für das Schächt­ver­bot die Juden, und 2009 mit dem Mina­rett­ver­bot die Mus­li­me. «Das ist ein Schön­heits­feh­ler der direk­ten Demo­kra­tie in der Schweiz», urteil­te Lore­tan.Chri­sti­an von Arx
Christian von Arx
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