Kreative Treue zur Tradition
Priorin Irene Gassmann wagt es, monastisches Leben neu zu denken
Das Wirken von Irene Gassmann, Priorin im Kloster Fahr, geht weit über die Klostermauern hinaus. Sie spricht vor Soldaten, Politikerinnen und predigt im Vatikan. Mitte November erhielt Priorin Irene in Fribourg die Ehrendoktorwürde für ihr Wirken und entwarf in ihrem Vortrag an der Uni Skizzen neuer monastischer Lebensformen.
Das Kloster von Priorin Irene Gassmann liegt mitten im dicht besiedelten Limmattal, zwischen Schlieren, Dietikon und Unterengstringen. Obwohl von Zürcher Gebiet umschlossen, gehört es zur Aargauer Gemeinde Würenlos. Das Kloster ist eine Oase der Ruhe in der urbanen Geschäftigkeit. Und seine Priorin eine Persönlichkeit mit Strahlkraft über die Klostermauern hinaus.
Priorin Irene Gassmann ist eine begabte Netzwerkerin. Dank ihres echten Interesses an Menschen und ihres überzeugten Einstehens für spirituelle und kirchenpolitische Anliegen knüpft sie Beziehungen, sodass im Kloster Fahr viele Fäden zusammenlaufen. Das zeigte sich in der gut gefüllten Klosterkirche, wo zur Verleihung des AKF-Frauenpreises viele Weggefährtinnen und ‑gefährten der Priorin und der Schwesterngemeinschaft erschienen waren. Neben Vertreterinnen und Vertretern aus der Politik auch Exponentinnen der katholischen Kirche in der Schweiz wie Simone Cureau, Präsidentin des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds, oder Helena Jeppesen-Spuhler, die kürzlich als Synodale an der Weltsynode in Rom teilgenommen hat.
Schweigen auf dem Flugplatz
Eine Verbindung geknüpft hat Priorin Irene Gassmann auch zu Bundesrätin Viola Amherd. Die amtierende Bundespräsidentin hatte sich Zeit genommen, ins Kloster Fahr zu kommen. «Priorin Irene und ich haben uns letztes Jahr in Rom an der Vereidigung der Schweizergarde kennengelernt. Wir kamen ins Gespräch. Und ich freue mich, dass wir das Gespräch heute fortsetzen können», sagte Bundespräsidentin Viola Amherd in ihrem Grusswort zur versammelten Festgemeinde. Priorin Irene hatte in einem Gottesdienst im Vatikan zum Thema «Stille» gepredigt, und Amherd hatte sie danach gefragt: «Priorin Irene, kann man dich buchen?»
Die Vorsteherin des Verteidigungsdepartements erzählte, dass sie die Priorin nach dem Treffen in Rom angefragt habe, eine Ansprache vor dem Stab des Schweizer Militärs zu halten. Als die Priorin dann diesen Frühling vor etwa 800 Armeeangehörige auf den Flugplatz Payerne getreten sei, habe das schon bei einigen für Stirnrunzeln gesorgt. «Doch Priorin Irene versetzte den gesamten Stab der Schweizer Armee in ein nachdenkliches Schweigen», berichtete Viola Amherd. Und fügte augenzwinkernd an: «Das wünschte ich mir auch einmal im Nationalrat.»
Was die Kirche und das Militär gemeinsam haben, fasste Amherd so zusammen: «Auswüchse in der Hierarchie und eine starke Untervertretung von Frauen.» Umso mehr freue es sie, dass für Priorin Irene Gassmann der Glaube nie Anlass gewesen sei, unkritisch an Autoritäten zu glauben, in Furcht zu geraten oder in Ehrfurcht zu erstarren. «Priorin Irene und ihr Engagement hinterlassen nachhaltigen Eindruck», würdigte sie den Einsatz von Priorin Irene Gassmann für Gleichberechtigung in der katholischen Kirche. Die Bundespräsidentin schloss ihre kurze Rede mit dem Slogan des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds: «Gleichberechtigung. Punkt. Amen.»
Zum Segen geworden
Vroni Peterhans, Präsidentin der Frauenpreiskommission des AKF, hielt die Laudatio auf die Preisträgerin. Sowohl das Bewusstsein für Traditionen, aber auch der Mut zum Aufbruch prägten die Spiritualität von Priorin Irene, und sie wähle kreative Formen wie das «Gebet am Donnerstag», um Veränderung voranzubringen, sagte Peterhans. Sie schloss mit den Worten: «Liebe Priorin Irene, lass uns zusammen dranbleiben. Du bist uns allen zum Segen geworden.» Sichtlich bewegt nahm Priorin Irene Gassmann den Preis entgegen. Sie sei erfüllt von grosser Dankbarkeit, sagte sie. «Dankbarkeit für meine Mitschwestern und Dankbarkeit für die Möglichkeiten, die sich mir im Leben eröffnet haben.» Einen Teil des Preisgeldes von 20’000 Franken hat die Priorin für ein neues Lesepult in der Klosterkirche vorgesehen. «Das wird gut sichtbar in der Kirche stehen, und alle haben etwas davon.»
Engagement und Wirken
Irene Gassmann engagiert sich seit 20 Jahren als Priorin des Klosters Fahr für die Klostergemeinschaft und setzt sich gleichzeitig für wesentliche Veränderungen in der Kirche ein
Die Priorin äussert sich immer wieder zur Rolle der Frau in der katholischen Kirche, sowohl in spiritueller als auch in kirchenpolitischer Hinsicht. Ihr Ziel ist eine gleichberechtigte Kirche, in der Berufungen und Charismen von Frauen einen ebenbürtigen Platz haben. Sie pilgerte für das Projekt «Für eine Kirche mit* den Frauen» nach Rom, initiierte das «Gebet am Donnerstag» und wirkte massgeblich mit an der Entstehung des Laudato Sì-Gartens im Kloster Fahr.
Auch in ihrem Kloster stellt sie die Weichen für die Zukunft. In der ehemaligen Bäuerinnenschule ist mit dem Verein «erfahrbar» ein christliches Mehrgenerationenwohnen entstanden, die Landwirtschaft wird von der «Fahr Erlebnis AG» gestaltet. Das Kloster Fahr pflegt die Gastfreundschaft mit verschiedenen Angeboten für alle Generationen.
Monastisches Leben und Moderne
Das kirchenpolitische und spirituelle Engagement der Priorin fand auch die Anerkennung der Universität Fribourg. Fünf Tage nach dem AKF-Frauenpreis erhielt Irene Gassmann die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät. «Die Fakultät ehrt mit dieser Entscheidung das Lebenswerk einer Schweizer Ordensfrau, die seit mehr als zwanzig Jahren auf höchst eindrückliche und überzeugende Weise monastisches Leben und Moderne ineinander zu übersetzen weiss», teilte der Dekan der Theologischen Fakultät, Joachim Negel, mit.
Anlässlich der Verleihung des Ehrendoktorats hielt Priorin Irene Gassmann einen Vortrag an der Uni Fribourg. Sie legte den Fokus ihrer Überlegungen auf die Entwicklung der kontemplativen Frauengemeinschaften in der Deutschschweiz. Die Klöster leerten sich rasant, erklärte Gassmann: «Die Überalterung und der Mitgliederschwund in den Ordensgemeinschaften zeichneten sich schon vor Jahrzehnten ab. Dieser Abbauprozess der Klöster ist unaufhaltsam.» Die Statistik zeigt: Im Jahr 1991 gab es in der Deutschschweiz 990 kontemplative Ordensfrauen; 2020 waren es noch 295. Inherhalb von 30 Jahren ist die Anzahl der Mitglieder auf einen Drittel geschmolzen.
Sehnsucht nach Stille
Gleichzeitig weiss die Priorin: «Ich bin überzeugt und ich erfahre im Austausch mit Menschen: Die Sehnsucht nach kontemplativen Leben in Gemeinschaft ist da.» Die Nachfrage für Auszeiten im Kloster sei gross, auch im Kloster Fahr. Monatlich bekomme sie eine bis zwei Anfragen von jungen Menschen, die eine Matura- oder Lehrabschluss-Vertiefungsarbeit zum Thema Klosterleben schreiben. Es kämen viele Leute zur ihr ins Kloster, die nicht an Gott glaubten oder mit dem Wort «Gott» wenig anfangen könnten. Beim Abschied sagten sie nicht «Ich habe Gott gefunden», sondern: «Ich habe in die Stille gefunden. Und das tut mir so gut.»
Im Mittelalter seien die Klöster Innovationslabore gewesen, aus denen sich die europäische Moderne entwickelte. Gerade heute habe monastisches Leben das Potenzial für ein Mehr-an-Leben zu bieten, sagte Priorin Irene Gassmann. Der wohltuende Wechsel von Arbeit, Gebet, Erholung, der einfache Lebensstil, Stille, Bezug zur Natur und das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft ermöglichen ein Leben, das in die Tiefe geht.
Skizze einer neuen Lebensform
Wer Priorin Irene Gassmann kennt, weiss, dass sie gerne konkrete Schritte unternimmt. So verriet sie im Lauf ihres Vortrags: «In Absprache mit meiner Gemeinschaft treffe ich mich regelmässig mit einer Reihe von Frauen. Wir sind dabei, eine Projektskizze zu entwickeln, um neben unserer benediktinischen Gemeinschaft mit einigen Frauen eine neue Lebensform zu finden, in der Verbindlichkeit und Freiheit einander auf neue Weise stützen.» Dieser Prozess braucht Mut von jenen, die Sehnsucht nach einem kontemplativen Leben spüren, und auch den Mut bestehender Gemeinschaften, Neues zuzulassen.