Krank und in Sommerschlappen
Um die Flüchtlinge, die über die Balkanroute Zentraleuropa erreichen wollen, ist es ruhig geworden. Dennoch gibt es weiterhin viele Menschen, die diesen beschwerlichen Weg auf sich nehmen. Mandy Zeckra, Mitarbeiterin bei Caritas Schweiz, berichtet über die Situation dieser Menschen und wie versucht wird, ihnen zu helfen. Sie ist Programmverantwortliche für die Flüchtlingsprojekte in Griechenland und zuständig für die Gesamtkoordination der Aktivitäten entlang der Balkanroute.Caritas Schweiz engagiert sich für Flüchtlinge auf der Balkanroute. Frau Zeckra, Welche Schwerpunkte wurden dabei gesetzt?
Auf der einen Seite haben wir geografische, auf der anderen Seite inhaltliche Schwerpunkte gesetzt. Geografisch haben wir uns auf Kroatien, Serbien und Griechenland fokussiert, wo wir zusammen mit unseren Partnern Projekte unterstützen. Inhaltlich verfolgen wir zwei grosse Linien: In Kroatien und Serbien konzentrieren sich die Aktivitäten auf Verteilung von Hilfsmitteln, da die Menschen dort auf der Durchreise sind. In Griechenland haben wir den Fokus auf besonders bedürftige Flüchtlinge gesetzt, denen wir eine Unterkunft und Betreuung während ihres Aufenthalts anbieten.
Wo genau greifen die Hilfsmassnahmen in Griechenland?
Die meisten Flüchtlinge landen auf Lesbos, wo sie in der Regel zwei bis drei Tage auf ihre Weiterreise zum Festland warten müssen. Sie haben dort ganz andere Bedürfnisse als auf der Route, wo sie schnell weiterkommen können. Auf Lesbos – aber auch in Athen – haben wir ein lokales Hotel, wo wir vor allem behinderten, alten und kranken Menschen, schwangeren Frauen, allein reisenden Frauen und Familien mit kleinen Kindern eine Unterkunft bieten. Wenn nötig, suchen wir mit ihnen einen Arzt auf oder helfen ihnen, ein Fährticket zu bekommen. Sie wären sonst total verloren und müssten auf der Strasse in der Kälte sitzen.
Die Entwicklungen der letzten Monate benötigen ein sehr flexibles Management der Hilfeleistungen. Wie werden die Strategien dafür bei Caritas Schweiz festgelegt?
Es läuft organisiert ab. Wenn eine Krise wie die Flüchtlingskrise auftritt, die sich diesen Sommer zuspitzte, findet unter Leitung des Direktors von Caritas Schweiz ein Katastrophenhilfestab zusammen, der grundsätzlich darüber berät: Können wir hier helfen? Werden wir als Caritas aktiv? Es gibt auch Situationen, bei denen die Antwort «nein» ist.
Wann ist das der Fall?
Wenn das Katastrophengebiet zu weit entfernt liegt und Caritas Schweiz keinen Mehrwert leisten kann. Im vorliegenden Fall aber – als klar war, die Flüchtlinge nehmen den Weg über die Balkanroute, wo wir mit unseren Projekten schon aktiv sind – fiel die Entscheidung, dass man aktiv wird.
Und nach einem Entscheid, aktiv zu werden? Wie geht es weiter?
Danach geht es auf die programmatische Ebene. Es wird eine Einsatzleitung gegründet, die überlegt, welche Möglichkeiten es gibt, aktiv zu werden, und was man kurz‑, mittel- und langfristig gemeinsam mit unseren Partnern unternehmen kann.
Gab es vorher schon Kontakte in die Balkanstaaten?
Wir haben ein Regionalbüro für den Balkan in Sarajevo und waren in den vergangenen Jahren immer wieder aktiv in Bosnien und Serbien, so dass schon Kontakte bestanden und über das Regionalbüro Kooperationen einfach fortgeführt werden konnten. Mit Griechenland mussten wir neu Kontakt knüpfen, was aber über die lokale Caritas-Organisation auch gut funktioniert hat.
Wie hat sich der Zustrom von Flüchtlingen nach Serbien in letzter Zeit entwickelt?
Die Zahlen auf der Balkanroute sind sehr unzuverlässig und fluktuieren zum Teil stark. Gut ermitteln kann man dagegen, wie viel Menschen an den Grenzen Europas ankommen. In Griechenland haben sich die Zahlen auf Grund des Winters fast halbiert: Während dort im Oktober ungefähr 6 000 bis 7 000 Menschen pro Tag die Grenze passiert haben, sind es heute nur noch 3 500. Und das sind auch die Menschen, die sich weiter auf der Balkanroute bewegen, manche langsamer, manche schneller. Besonders schlimm ist, dass die Zahl der Fährunglücke trotz rückläufiger Flüchtlingszahlen zugenommen hat und damit die Zahl der Toten und Vermissten enorm hoch ist. Das Übersetzen auf eine der griechischen Inseln ist im Winter viel gefährlicher.
Wie geht es den Menschen, die in Preshevo (Südserbien) die serbisch-mazedonische Grenze passieren?
Diese Menschen versuchen, so schnell wie möglich ihre Reise hinter sich zu bringen, egal ob sie krank sind oder nicht. Es legt sich niemand in ein Krankenhausbett und wartet bis das Fieber vorbei ist. Dementsprechend ist ihre Situation. Zum Teil haben sie schon Hilfsleistungen erhalten – ein Zelt oder warme Kleider – aber bei weitem nicht alle.
Kann man für all diesenMenschen etwas tun?
Die Nachfrage ist grösser als man an Hilfsleistungen strukturiert abrufen kann, weil man nicht überall sein kann, wo die Menschen ankommen. Viele der Flüchtlinge, die in Preshevo ankommen, sind noch nicht adäquat bekleidet. Kinder sind zum Teil nur mit Schlappen unterwegs. Manche Flüchtlinge haben von der langen Reise Gehbeschwerden. Es treten normale Winterkrankheiten auf, die Kinder und Ältere viel stärker treffen und verheerend sein können.
Wie wird den Durchreisenden geholfen?
Sie erhalten warmes Essen, einen warmen Tee, warme Kleidung, Decken, Zelte. Die Menschen nehmen die Hilfe sehr dankbar an, wollen sich aber nicht lange aufhalten. Das ist auch die Herausforderung für die Unterstützungsleistungen. Man kann nicht davon ausgehen, dass man jemanden umfassend versorgen kann. Vor allem was medizinisch getan werden kann, ist nur eine minimale Grundversorgung.
Ist es gewährleistet, dass die Flüchtenden auf ihrem Weg regelmässig Essen und Trinken erhalten?
Das ist nicht möglich, weil es keine festen Routen gibt und die Menschen unterschiedliche Geschwindigkeiten haben. Eine mittellose Familie mit einem Angehörigen im Rollstuhl ist langsamer als drei alleinstehende Männer, die sich ab und zu ein Taxi leisten können.
Wie meistern die serbischen Behörden den Flüchtlingsansturm? Und wie reagiert die Bevölkerung?
Man begreift diese Situation als Durchgangssituation. Aus dieser Perspektive fällt es sowohl dem Staat Serbien als auch der Bevölkerung leicht, Hilfe bereitzustellen. Viel schwieriger wäre es, wenn klar wäre, dass die Leute dort stranden. Das muss sowieso verhindert werden, weil diese Länder damit komplett überfordert wären. Gerade in Serbien ist die Bevölkerung sehr engagiert. Auch in Griechenland und Kroatien haben die lokalen Caritas-Organisationen keine Probleme, Freiwillige zu finden. Die grosse Herausforderung besteht eher darin, im benötigten Umfang Hilfe zu leisten.
Seit Mitte November lassen Mazedonien und Serbien nur noch Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan einreisen. Was passiert mit den abgewiesenen Flüchtlingen?
Man muss sich vor Augen halten, dass 88 bis 90 Prozent der Flüchtenden aus Syrien, Irak oder Afghanistan kommen und damit weiterhin die Grenze passieren können. Diese politische Entscheidung hat also für die Mehrzahl der Flüchtlinge keine Auswirkung. Für die restlichen ist es umso schlimmer. Es gibt keine verlässliche Informationen oder erkennbare gemeinsame Wege, welche diese Flüchtlinge nehmen. Zum Teil verbleiben diese Menschen einfach an der Grenze. Für sie wurde nochmals ein zweites Lager aufgemacht, um sie zu unterstützen. Die griechische Regierung hat versucht, mit Transporten zurück nach Athen die Situation zu entschärfen. Aber im Prinzip haben sie keine rechtliche Grundlage, die Flüchtlinge in Athen festzuhalten. Das bedeutet, dass viele von dort aus wieder den Weg in Richtung Grenze antreten und an der grünen Grenze Löcher suchen.
Sie erlebten die Not der Menschen und die begrenzten Hilfsmöglichkeiten unmittelbar. Was geht in Ihnen vor?
Ich war überrascht über meine eigene Reaktion, weil ich schon einiges gesehen habe, aber noch nie mit einer ähnlichen Situation innerhalb Europas konfrontiert war. Es hat mich schockiert, dass wir es auf europäischem Boden nicht hinbekommen, politisch und in Bezug auf die Hilfsangebote besser und strukturierter zu agieren. Es beginnt damit, dass die Menschen ein Boot nehmen müssen, nicht mit einer Fähre übersetzen können und dabei ihr Leben riskieren.
Und wie geht es den Helfenden vor Ort?
Im Winter haben die Flüchtlingszahlen etwas abgenommen. Das führt zu einer gewissen Normalisierung. Nach den Krisenwochen im Sommer und Herbst kann man die Hilfe nun auf einem Niveau bereitstellen, wo man auch einmal Luft holen kann. Es ist aber immer noch eine Ausnahmesituation. Über den Winter kann man sich nun besser auf die Situation einstellen. Schwierig ist, dass wir einfach nicht wissen, wie es im Frühjahr weitergehen wird.