«Komm, mei­ne Tau­be, hör mir zu»

«Komm, mei­ne Tau­be, hör mir zu»

Hohes­lied 2,10–14Mein Gelieb­ter hebt an und spricht zu mir: Steh auf, mei­ne Freun­din, mei­ne Schö­ne, so komm doch! Denn vor­bei ist der Win­ter, ver­rauscht der Regen. Die Blu­men erschei­nen im Land, die Zeit zum Sin­gen ist da. Die Stim­me der Tur­tel­tau­be ist zu hören in unse­rem Land. Am Fei­gen­baum rei­fen die ersten Früch­te, die blü­hen­den Reben duf­ten. Steh auf, mei­ne Freun­din, mei­ne Schö­ne, so komm doch! Mei­ne Tau­be in den Fels­klüf­ten, im Ver­steck der Klip­pe, dein Gesicht lass mich sehen, dei­ne Stim­me hören! Denn süss ist dei­ne Stim­me, lieb­lich dein Gesicht. Ein­heits­über­set­zung 2016 

«Komm, mei­ne Tau­be, hör mir zu»

Wenn es kei­ne histo­ri­schen Zeug­nis­se gibt, dann ent­steht ein Leer­raum für Ideen, Träu­me, Legen­den, Geschich­ten. Die, auch wenn sie sich in Wirk­lich­keit nicht so zuge­tra­gen haben, wie sie erzählt wer­den, doch wahr sein kön­nen, indem sie eine Wahr­heit ent­hal­ten, die uns etwas tie­fer ver­ste­hen lässt.Scho­la­stika, die Schwe­ster Bene­dikts, lieb­te ihren Bru­der. Und hat­te nur ein­mal im Jahr eine Zeit mit ihm, um sich mit ihm aus­zu­tau­schen. Der Legen­de nach ging eine sol­che gemein­sa­me Zeit zu Ende und Scho­la­stika bat ihren Bru­der, noch zu blei­ben. Das aber erlaub­te die Regel nicht. Und so bete­te sie und es zog ein Unwet­ter auf, das Bene­dikt am Gehen hin­der­te. «Geh doch, Bru­der, wenn du kannst», soll sie ihm gesagt haben, als das Gewit­ter los­brach. Und Bene­dikt blieb die Nacht bei ihr. Drei Tage spä­ter starb Scho­la­stika. Und ihr Bru­der sah eine Tau­be in den Him­mel hin­auf­flie­gen.Die Dich­te­rin und Bene­dik­ti­ne­rin Sil­ja Wal­ter hat die­se Legen­de auf­ge­nom­men und lässt Scho­la­stika ihrem Bru­der etwas ganz Wich­ti­ges sagen. Sie und ihre Mit­schwe­stern füh­len sich im Pro­log der Bene­dikts­re­gel nicht auf­ge­ho­ben und ange­spro­chen. Und des­halb hat sie ihn umfor­mu­liert. Nicht «Höre, mein Sohn, auf die Wei­sung des Mei­sters, nei­ge das Ohr dei­nes Her­zens, nimm den Zuspruch des güti­gen Vaters wil­lig an und erfül­le ihn durch die Tat!». Son­dern, wie Sil­ja Wal­ter schreibt: «Komm, mei­ne Toch­ter, mei­ne Freun­din, mei­ne Tau­be, hör mir zu.» Ver­lockend. Zärt­lich lässt sie Gott spre­chen, Gott, der sie schon immer geliebt hat. Der sich nach ihr sehnt und ihre Sehn­sucht stillt.Scho­la­stika sagt dem skep­ti­schen Bene­dikt: «Es bleibt doch dein Wort, doch ist es Gott, der spricht. Der Gott des Neu­en Testa­men­tes, wie ihn sei­ne Kin­der, sei­ne Töch­ter, ja, wie Frau­en ihn erfah­ren, der Gott der Väter, der Gemahl des Vol­kes Isra­el, wie er in Jesus nach Johan­nes als ein Mensch, als Freund, als Gelieb­ter uns umwirbt und an sich zieht.»Sil­ja Wal­ter lässt Bene­dikt nach­denk­lich nach Hau­se gehen. Drei Tage bewegt er Scho­la­stikas Wor­te in sei­nem Her­zen, das Lie­bes­lied, das die Zärt­lich­keit Got­tes für die Men­schen offen­bart. Und die gegen­sei­ti­ge Anzie­hung. Und dann, nach­dem er die Tau­be auf­stei­gen sieht und erkennt, dass sei­ne Schwe­ster gestor­ben ist: «Gott hat vor sei­nen Augen unzwei­fel­haft durch sie besie­gelt, was sie und ihre Töch­ter im Pro­log der Sanc­ta Regu­la erkann­ten und erhorch­ten — den Ruf an sei­ne aus­er­wähl­ten Kin­der: ‹Steh auf, mei­ne Freun­din, mei­ne Schö­ne, mei­ne Tau­be und komm! Der Win­ter ist vor­über!›»Sich umwer­ben las­sen von Gott. Von Got­tes unend­li­cher Zärt­lich­keit. Auch heu­te. Vor­stel­lun­gen auf­ge­ben, die uns den Zugang zu Gott ver­stel­len. Wahr­heit ent­decken im Unge­wohn­ten. Neue Wor­te und Bil­der für Gott fin­den, die uns ent­spre­chen. Und der Win­ter geht vor­über.(Zita­te aus: Mar­tin Wer­len, Heu­te im Blick. Pro­vo­ka­tio­nen für eine Kir­che, die mit den Men­schen geht. Frei­burg 2015, S. 145– 149)Doro­thee Becker, Theo­lo­gin und Seel­sor­ge­rin, Gemein­de­lei­te­rin der Pfar­rei St. Fran­zis­kus, Riehen-Bettingen     
Regula Vogt-Kohler
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