KleiÂnes Dorf mit grosÂsem Herz
RiaÂce, ein kleiÂnes Dorf im itaÂlieÂniÂschen Süden öffÂneÂte seiÂne Tore für FlüchtÂlinÂge und konnÂte auf dieÂse WeiÂse den BevölÂkeÂrungsÂschwund wirkÂsam bekämpÂfen. Auch im AarÂgau gibt es GemeinÂden, deren EinÂwohÂnerÂzahÂlen rückÂläuÂfig ist. HoriÂzonÂte ging am BeiÂspiel von SchlossÂrued der FraÂge nach, ob das itaÂlieÂniÂsche ErfolgsÂbeiÂspiel auch für die Schweiz taugt.Don BatiÂsta MasiÂni würÂde den BürÂgerÂmeiÂster von RiaÂce, DomeÂniÂco LucaÂno, am liebÂsten für den FrieÂdensÂnoÂbelÂpreis vorÂschlaÂgen. «Auch wenn er ein LinÂker ist», wie der PfarÂrer mit leichÂtem BedauÂern anmerkt. «SeiÂne Arbeit ist nicht hoch genug einÂzuÂschätÂzen. Sie ist ein leuchÂtenÂdes BeiÂspiel der SoliÂdaÂriÂtät und der InteÂgraÂtiÂon.»Don BatiÂsta war acht JahÂre lang PfarÂrer in RiaÂce und wechÂselÂte dann ins NachÂbarÂdorf StignaÂno, welÂches die Idee der freiÂwilÂliÂgen FlüchtÂlingsÂaufÂnahÂme kürzÂlich überÂnomÂmen hat. «In RiaÂce sieht man, was man im KleiÂnen erreiÂchen kann, wenn man denn will», so der PfarÂrer weiÂter. «Noch besÂser wäre allerÂdings, die MiseÂre in den HerÂkunftsÂlänÂdern der FlüchtÂlinÂge zu bekämpÂfen.» Als KonÂgoÂleÂse weiss Don BatiÂsta, wovon er spricht. Er denkt bei seiÂnem Land an die mulÂtiÂnaÂtioÂnaÂlen KonÂzerÂne, die es heuÂte noch plünÂdern wie eine KoloÂnie.
17,5 ProÂzent Ausländeranteil
RiaÂce liegt in KalaÂbriÂen im Süden ItaÂliÂens – in der FussÂspitÂze des StieÂfels. Die gesamÂte GemeinÂde hat etwa 1600 EinÂwohÂner. Davon lebt aber ein GrossÂteil in RiaÂce MariÂna. Das alte Dorf liegt 7 km entÂfernt idylÂlisch in den Hügeln. Dort – im eigentÂliÂchen RiaÂce – leben 400 LeuÂte, 70 FlüchtÂlinÂge einÂgeÂrechÂnet. Das ergibt einen AusÂlänÂderÂanÂteil von 17,5 ProÂzent.70 FlüchtÂlinÂge also; junÂge MänÂner, FrauÂen und KinÂder. Sie stamÂmen zumeist aus SchwarzÂafriÂka, AfghaÂniÂstan und PakiÂstan. Um ihnen ein Dach über dem Kopf zu ermögÂliÂchen, mussÂten erst einÂmal ein paar leerÂsteÂhenÂde HäuÂser renoÂviert werÂden. Damit begann die Zeit der ProÂjekÂte in RiaÂce. Wer in einem ProÂjekt mitÂarÂbeiÂtet, bekommt einen reguÂläÂren Lohn bezahlt. Das Geld hierÂfür kommt aus Rom und BrüsÂsel. Davon proÂfiÂtieÂren nicht zuletzt auch die EinÂheiÂmiÂschen, denn im strukÂturÂschwaÂchen Süden sind ArbeitsÂplätÂze ein rares Gut. FlüchtÂlinÂge und EinÂheiÂmiÂsche werÂden in verÂschieÂdeÂnen kleiÂnen WerkÂstätÂten beschäfÂtigt, die zugleich als VerÂkaufsÂläÂden dieÂnen. Es wird geknüpft und gehäÂkelt, gemalt und geschreiÂnert. UnterÂhalb des DorÂfes entÂsteÂhen neue GemüÂseÂgärÂten, sorgÂfälÂtig terÂrasÂsiert und mit steiÂnerÂnen GarÂtenÂhäusÂchen verÂseÂhen. Der BürÂgerÂmeiÂster, DomeÂniÂco LucaÂno, hat schon ein neuÂes ProÂjekt im Kopf: DerÂeinst soll im Dorf ein RestauÂrant eröffÂnet werÂden.
Als FlüchtÂling auf sich allein gestellt
Die meiÂsten FlüchtÂlinÂge, die sich in RiaÂce nieÂderÂlasÂsen, zieht es nach weniÂgen MonaÂten fort. In den NorÂden. Ein paar weniÂge kehÂren bald desÂilÂluÂsioÂniert zurück in das Dorf, das sie einst mit offeÂnen Armen empÂfing. Aiva stammt aus Togo und stranÂdeÂte 2009 in ItaÂliÂen. NachÂdem er neun MonaÂte in einem AufÂfangÂlaÂger zubrinÂgen mussÂte, kam er schliessÂlich mit nichts als einer AufÂentÂhaltsÂbeÂwilÂliÂgung in der Tasche frei. Er stand auf der StrasÂse wie unzähÂliÂge SchickÂsalsÂgeÂnosÂsen in ItaÂliÂen. Aiva wollÂte so schnell wie mögÂlich arbeiÂten. Dazu war er ja nach EuroÂpa gekomÂmen. ZuhauÂse warÂteÂten seiÂne Frau und zwei KinÂder auf seiÂne GeldÂüberÂweiÂsunÂgen. So ging der junÂge Mann aus Togo in KalaÂbriÂen von Dorf zu Dorf, wo er von sich aus die StrasÂsen und PlätÂze wischÂte, stets von der HoffÂnung getrieÂben, die EinÂwohÂner würÂden ihm für seiÂne DienÂste etwas zustecken. WähÂrend er von einiÂgen grossÂherÂziÂgen LeuÂten tatÂsächÂlich ein wenig Geld bekam, warÂfen die KinÂder in den DörÂfern manchÂmal mit SteiÂnen nach ihm.Als Aiva ein paar Euro gespart hatÂte, ging er in den nächst grösÂseÂren Ort, um das Geld nach HauÂse zu überÂweiÂsen. Beim VerÂlasÂsen des Western UniÂon-Büros wurÂde aus einem Auto, das langÂsam an ihm vorÂbei fuhr, auf ihn geschosÂsen. Die Kugel traf ihn im OberÂschenÂkel. Die nächÂsten zwei Wochen verÂbrachÂte er im SpiÂtal. Dort hörÂte er von einem Dorf namens RiaÂce, welÂches die FlüchtÂlinÂge willÂkomÂmen hiesÂse. EiniÂge MonaÂte arbeiÂteÂte er dort in einem ProÂjekt, dann zog es ihn aber in den NorÂden, wo er viel mehr Geld zu verÂdieÂnen hoffÂte.In DeutschÂland wurÂde Aiva bald klar, dass er ohne gülÂtiÂge PapieÂre keiÂnen Job finÂden konnÂte. In DäneÂmark putzÂte er einiÂge Wochen lang in einer Bar, bis die PoliÂzei kam und ihn in HandÂschelÂlen abführÂte. Nach drei Wochen Haft wurÂde er nach ItaÂliÂen zurück geschafft. HeuÂte lebt Aiva wieÂder in RiaÂce und sagt, ihm hätÂte nichts BesÂseÂres pasÂsieÂren könÂnen als dieÂses Dorf mit seiÂnem grosÂsen HerÂzen.So wie Aiva geht es vieÂlen. Nach einer länÂgeÂren OdysÂsee kehÂren sie zurück und werÂden in RiaÂce sessÂhaft. VerÂeinÂzelt gibt es auch HeiÂraÂten zwiÂschen MigranÂten und EinÂheiÂmiÂschen. Eine AfghaÂnin beiÂspielÂweiÂse hat bereits KinÂder mit einem Mann aus RiaÂce. Die FlüchtÂlinÂge haben der kleiÂnen GemeinÂde in KalaÂbriÂen neuÂes Leben einÂgeÂhaucht.
DirekÂte AufÂnahÂme nicht vorgesehen
Und in der Schweiz? Trotz der anhalÂtenÂden ZuwanÂdeÂrung haben verÂschieÂdeÂne GemeinÂden mit rückÂläuÂfiÂgen EinÂwohÂnerÂzahÂlen zu kämpÂfen. Auch im AarÂgau. SchlossÂrued beiÂspielsÂwieÂse gilt gemäss einer ErheÂbung der AarÂgauÂer ZeiÂtung als das SchlussÂlicht in Sachen BevölÂkeÂrungsÂwachsÂtum, sprich: die GemeinÂde kämpft mit AbwanÂdeÂrung.Das Modell RiaÂce lässt sich jedoch, wie RecherÂchen zeiÂgen, nicht so einÂfach auf GemeinÂden wie SchlossÂrued mit seiÂen 830 EinÂwohÂnern überÂtraÂgen. «Eine direkÂte AufÂnahÂme von FlüchtÂlinÂgen durch die GemeinÂden ist in der Schweiz gar nicht vorÂgeÂseÂhen», erklärt Balz BruÂder, MediÂenÂspreÂcher des AarÂgauÂer DeparÂteÂments für GesundÂheit und SoziaÂles DGS. In der Tat: In der Schweiz werÂden die AsylÂsuÂchenÂden – soweit sie überÂhaupt AusÂsicht auf einen AufÂentÂhaltsÂstaÂtus haben – vom Bund auf die KanÂtoÂne verÂteilt. Erst nach einem posiÂtiÂven EntÂscheid, auch wenn dieÂser nur die vorÂläuÂfiÂge AufÂnahÂme bedeuÂtet, traÂgen die GemeinÂden die VerÂantÂworÂtung. In ItaÂliÂen hinÂgeÂgen sind FlüchtÂlinÂge, wie auch das BeiÂspiel von Aiva zeigt, auf sich selbst gestellt, nachÂdem sie eines der grosÂsen natioÂnaÂlen AufÂfangÂzenÂtren verÂlasÂsen haben.
KanÂton zahlt Sozialhilfe
GleichÂwohl gäbe es für SchweiÂzer GemeinÂden einen Anreiz, freiÂwilÂlig FlüchtÂlinÂge aufÂzuÂnehÂmen. Der KanÂton bezahlt nämÂlich für alle vorÂläuÂfig AufÂgeÂnomÂmeÂnen wähÂrend fünf JahÂren die SoziÂalÂhilÂfe, bei anerÂkannÂten FlüchtÂlinÂgen sogar minÂdeÂstens sieÂbe JahÂre. DieÂse TatÂsaÂche könnÂte ein Anreiz sein, dem BeiÂspiel von RiaÂce zu folÂgen, um auch im RueÂderÂtal eine AsyÂlÂerÂfolgsÂgeÂschichÂte zu schreiÂben. WarÂum also nicht zusätzÂliÂche FlüchtÂlinÂge aufÂnehÂmen – vielÂleicht 20, 30 oder mehr – und mit ihnen und EinÂheiÂmiÂschen gemeinÂsam UnterÂkünfÂte bauÂen, den leerÂsteÂhenÂden Laden wieÂder in Betrieb, WerkÂstätÂten aufÂbauÂen oder LandÂwirtÂschaft betreiÂben?Der GemeinÂdeÂamÂmann von SchlossÂrued, MarÂtin GolÂdenÂberÂger, winkt allerÂdings ab. Aus verÂschieÂdeÂnen GrünÂden. Zum einen befänÂden sich die leer steÂhenÂden HäuÂser ausÂserÂhalb des DorÂfes und gehörÂten PriÂvatÂperÂsoÂnen. WeiÂter wäre die SchuÂle überÂforÂdert, wenn mehÂreÂre FamiÂliÂen mit KinÂdern kämen, die kein Deutsch verÂsteÂhen. Und dann ist da noch die BevölÂkeÂrung: Am letzÂten AbstimÂmungsÂwoÂchenÂenÂde habe man ja wieÂder geseÂhen, dass SchlossÂrued rechts wähÂle, die LeuÂte also auch FlüchtÂlinÂgen gegenÂüber eher reserÂviert gegenÂüber stünÂden. GleichÂwohl, das betont MarÂtin GolÂdenÂberÂger, «haben wir hier bei uns mehr AsylÂbeÂwerÂber als wir müssÂten: Neun statt sechs.»
SchuÂle sorgt für Integration
Nach dem TeleÂfoÂnat mit dem GemeinÂdeÂamÂmann fahÂren wir hin, um uns selbst ein Bild zu machen. DichÂte RegenÂwolÂken hänÂgen an jenem DiensÂtagÂmitÂtag über dem Tal, in welÂchem sich einst die WieÂderÂtäuÂfer verÂstecken mussÂten. Das Dorf wirkt wie ausÂgeÂstorÂben. Da: Wir trefÂfen einen EriÂtreÂer mit seiÂner TochÂter, die in SchlossÂrued die fünfÂte KlasÂse besucht. Das MädÂchen spricht gut Deutsch, beim Vater müsÂsen wir uns mit ItaÂlieÂnisch behelÂfen. Ob er sich gut inteÂgriert fühÂle? Die AntÂwort: In SchlossÂsÂrued habe er eigentÂlich nur mit den LeuÂten auf der GemeinÂde KonÂtakt, alles andeÂre lauÂfe in AarÂau.Auf der Suche nach EinÂheiÂmiÂschen lanÂden wir im StorÂchen – eine von zwei geöffÂneÂten BeiÂzen im gesamÂten RueÂderÂtal. Die aber ist gut besetzt. An einem Tisch trefÂfen wir VikÂtor WürgÂler, den eheÂmaÂliÂgen GemeinÂdeÂschreiÂber von SchlossÂrued, und die für das «WyenÂtaÂler Blatt» tätiÂge JourÂnaÂliÂstin FrieÂda StefÂfen.
Auf StadtÂflucht folgÂte Landflucht
Dass SchlossÂrued in den letzÂten JahÂren die EinÂwohÂner abhanÂden gekomÂmen sind, halÂten die meiÂsten in der Beiz für «DumÂmes Geschwätz». GemeinÂdeÂschreiÂber VikÂtor WürgÂler räumt allerÂdings ein, dass eine GegenÂbeÂweÂgung zur StadtÂflucht einÂgeÂsetzt habe. «FrüÂher, da kamen die LeuÂte von der Stadt aufs Land, wollÂten hier ein EinÂfaÂmiÂliÂenÂhaus.» HeuÂte sei das anders. Die nicht optiÂmaÂle ÖV-AnbinÂdung ins RueÂderÂtal sowie der RückÂgang bei den BauÂernÂbeÂtrieÂben habe ein ÃœbriÂges dazu beiÂgetraÂgen, die AbwanÂdeÂrung der letzÂten JahÂre zu begünÂstiÂgen. «FrüÂher gab es hier 60 BauÂernÂbeÂtrieÂbe von GrossÂfaÂmiÂliÂen», erinÂnert sich der von 1966 bis 2010 amtieÂrenÂde GemeinÂdeÂschreiÂber.Nach itaÂlieÂniÂschem VorÂbild die ZuwanÂdeÂrung zu förÂdern, um die EinÂwohÂnerÂzahl zu erhalÂten, erachÂtet der eheÂmaÂliÂge GemeinÂdeÂschreiÂber als wenig sinnÂvoll. SchlossÂrued habe seiÂne AufÂnahÂmeÂplicht immer erfüllt – ja, sogar darÂüber hinÂaus FlüchtÂlinÂge aufÂgeÂnomÂmen: «Vor 30 JahÂren schon zwei FamiÂliÂen. Die konnÂten wir gut inteÂgrieÂren.» WürÂde man jetzt mehr aufÂnehÂmen, fehlÂten die ResÂsourÂcen für die InteÂgraÂtiÂon, ist VikÂtor WürgÂler überÂzeugt.
ArbeitsÂmarkt würÂde konkurrenziert
ÃœberÂdies wäre so ein VorÂgeÂhen wie in RiaÂce proÂbleÂmaÂtisch für den ArbeitsÂmarkt, ergänzt FrieÂda StefÂfen. Die FlüchtÂlinÂge würÂden dann quaÂsi staatÂlich subÂvenÂtioÂniert ArbeiÂten zu viel günÂstiÂgeÂren PreiÂsen verÂrichÂten. «ÄhnÂlich wie man das aktuÂell mit einer SoziÂalÂunÂterÂnehÂmung kennt. Die offeÂrieÂren zu PreiÂsen, mit denen gewöhnÂliÂche BetrieÂbe nicht konÂkurÂrieÂren könÂnen.»SchlossÂrued als schweiÂzeÂriÂsches RiaÂce? Wohl kaum. Die LeuÂte glauÂben vielÂmehr, dass die kleiÂne GemeinÂde im RueÂderÂtal auch ohne grösÂseÂre AnstrenÂgunÂgen bald wieÂder wachÂsen wird. «Die ZuwanÂdeÂrung hat Bestand. Wenn in SchöftÂland das BauÂland ausÂgeht, dann gdürfÂte das bei uns AusÂwirÂkunÂgen haben», meint VikÂtor WürgÂler. Erste AnzeiÂchen sehe man bereits. Es würÂden in der GemeinÂde bereits die ersten MehrÂfaÂmiÂliÂenÂhäuÂser gebaut.