Kla­ge ohne Anklage

Kla­ge ohne Anklage

Lukas 2,34fUnd Sime­on seg­ne­te sie und sag­te zu Maria, der Mut­ter Jesu: Sie­he, die­ser ist dazu bestimmt, dass in Isra­el vie­le zu Fall kom­men und auf­ge­rich­tet wer­den, und er wird ein Zei­chen sein, dem wider­spro­chen wird, – und dei­ne See­le wird ein Schwert durch­drin­gen. So sol­len die Gedan­ken vie­ler Her­zen offen­bar werden.Ein­heits­über­set­zung 2016 

Kla­ge ohne Anklage

Unaus­lösch­lich hat er sich mir in die See­le ein­ge­brannt, jener eine Satz aus dem Mun­de des Vaters, als wir nach der Beer­di­gung sei­nes zwan­zig­jäh­ri­gen Soh­nes in der Wirt­schaft bei­sam­men sas­sen: «Das weiss kei­ner, was es heisst, den eige­nen Sohn zu beer­di­gen.» Er sag­te es gefasst, ohne Bit­ter­keit, bei­na­he emo­ti­ons­los, und doch lag in sei­ner Stim­me und in sei­nem nir­gend­wo­hin gerich­te­ten Blick eine unend­li­che Trau­rig­keit. Ande­re Eltern haben ihr Kind ver­lo­ren infol­ge eines Unfalls oder wegen eines Geburts­feh­lers oder durch Sui­zid. Es sind Din­ge, wel­che uns in die Sprach­lo­sig­keit trei­ben, die Betrof­fe­nen zie­hen es vor, auf die Wun­den den Schlei­er des Schwei­gens zu legen. Hier von Trau­er­ar­beit zu reden, wirkt ziem­lich takt­los.Und wenn hin­ter all dem nicht nur ein blin­des, ungnä­di­ges Schick­sal steht, son­dern bana­le, bru­ta­le Bos­heit? «Dut­zen­de Tote bei Anschlag auf Hoch­zeit», so die Infor­ma­ti­on aus Kabul (Afgha­ni­stan) am 18. August. Genau waren es 63 Tote und min­de­stens 182 Ver­letz­te, Resul­tat eines Selbst­mord­at­ten­tats. «Die Kinds­mör­de­rin han­del­te vor­sätz­lich», lau­te­te die Schlag­zei­le am 28. August, wel­che über die Hin­ter­grün­de der Tötung eines sie­ben­jäh­ri­gen Pri­mar­schü­lers im letz­ten März im Bas­ler Gott­helf­quar­tier infor­mier­te. In der Woche zuvor war zu lesen von einem 28-jäh­ri­gen Vater, der zusam­men mit einem andern Mann vor lau­fen­der Kame­ra sei­ne zwei­jäh­ri­ge Toch­ter ver­ge­wal­tig­te, live ins Inter­net über­tra­gen. Kurz bevor ich mich an die­sen Text hier mach­te, prang­te auf der ersten Sei­te: «Mor­de an Frau­en – eine Serie erschüt­tert das Land».Wer wird die­se Unge­heu­er­lich­kei­ten wie­der gut­ma­chen? Wie soll so viel Unheil je aus­ge­gli­chen wer­den? Kön­nen wir da ver­nünf­ti­ger­wei­se noch auf Süh­ne, Gerech­tig­keit und ein «Ende gut» hof­fen?All das und noch viel mehr geht mir durch den Kopf, wenn ich eine Dar­stel­lung der Schmer­zen Mari­as betrach­te. «Pie­tà» – Erbar­men – oder «Mater dolo­ro­sa» – Schmer­zens­mut­ter – steht dar­un­ter. Kei­ne Zur­schau­stel­lung, kein Voy­eu­ris­mus, son­dern Offen­le­gung unse­rer him­mel­trau­ri­gen mensch­li­chen Rea­li­tät. Sanft­mut als Gegen­ent­wurf zu Mord und Tot­schlag, stil­ler Pro­test gegen den ganz nor­ma­len Wahn­sinn. Wel­che See­len­grös­se! Mir fällt auf, dass auf dem Gesicht Mari­as kein Vor­wurf, kei­ne Ankla­ge, kei­ne Spur von Hass oder Rache zu sehen ist. Am ein­drück­lich­sten viel­leicht bei der «Pie­tà» Michel­an­ge­los, die 1972 von einem Gei­stes­ge­stör­ten mit Ham­mer­schlä­gen schwer beschä­digt wur­de, hin­ten in einer Sei­ten­ka­pel­le des Peter­doms in Rom. Ihr Ant­litz glänzt und schau­dert vor lau­ter Wehr­lo­sig­keit, abgrund­tie­fem Schmerz, rei­nem Erdul­den, es spie­gelt die sich hin­ge­ben­de, auf­op­fern­de Lie­be ihres Soh­nes, des­sen leb­lo­sen Kör­per sie auf dem Schoss trägt. Das ver­leiht dem kal­ten Mar­mor eine über­ir­di­sche Durch­sich­tig­keit, eine war­me, zart pul­sie­ren­de Leben­dig­keit.Die Lan­ze mit­ten ins Herz! Das Schwert durch die See­le! Schaut doch und seht! Kei­ne Ankla­ge, kei­ne Schuld­zu­wei­sung, kei­ne Ver­gel­tung, son­dern Soli­da­ri­tät bis zum letz­ten Bluts­trop­fen, unauf­fäl­lig, ver­bor­gen, ein­sam. Doch Gott weiss. Erlö­sung wird denk­bar, Hoff­nung erwacht, Leben keimt, Lie­be siegt. Doch um wel­chen Preis!Peter von Sury, Abt des Bene­dik­ti­ner­klo­sters Mariastein
Redaktion Lichtblick
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