Keine Ruhe vor dem Sturm
- Von wegen Sonntagsruhe: «Missbrauchsskandal erschüttert Kirche» titelte der «Sonntagsblick» gestern Sonntag, 10. September, und schreckte damit die offizielle katholische Kirche in der Schweiz auf.
- Im Artikel erhebt der katholische Priester Nicolas Betticher schwere Vorwürfe gegen sechs zum Teil noch amtierende Schweizer Bischöfe: sie sollen geholfen haben, sexuellen Missbrauch zu vertuschen.
- Das Timing der Veröffentlichung der Vorwürfe ist kaum Zufall. Eine Zusammenfassung.
Der «Sonntagsblick» zitiert in seinem Artikel aus einem Schreiben, das schwere Vorwürfe gegen sechs zum Teil noch amtierende Schweizer Bischöfe enthält: sie sollen geholfen haben, sexuellen Missbrauch zu vertuschen. Ausserdem wird einem Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz sowie drei Priestern aus dem Bistum Lausanne, Genf und Freiburg sexuelle Belästigung von Jugendlichen vorgeworfen.
Churer Bischof Bonnemain als Ermittler
Ausgangspunkt des Artikels ist ein Brief, den Nicolas Betticher im Mai 2023 an den Papst-Botschafter in der Schweiz geschickt hatte. Der 62-jährige Betticher ist ehemaliger Mitarbeiter von Alt-Bundesrätin Ruth Metzler und ehemaliger Generalvikar des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg. Der gut vernetzte Pfarrer hatte den Nuntius Martin Krebs laut «Sonntagsblick» über vertuschte Missbrauchsfälle informiert. Auf unbekanntem Weg gelangte das Schreiben auch auf die Redaktion des «Sonntagsblick». Derzeit seien vier Anzeigen gegen die im Artikel Beschuldigten hängig, zusätzlich habe der Vatikan eine interne Voruntersuchung angeordnet. Mit dieser internen Voruntersuchung wurde der Churer Bischof Joseph Bonnemain beauftragt, wie er dem «Sonntagsblick» bestätigt. Bischof Bonnemain ermittelt also momentan gegen seine Kollegen in der Schweizer Bischofskonferenz. Auch die Staatsanwaltschaft sei involviert, erklärte er gegenüber der Zeitung.
Nicolas Betticher selbst nahm gegenüber «Sonntagsblick» Stellung mit den Worten: «Ich nehme zur Kenntnis, dass meine Anzeige an die Medien gelangt ist. Ich begrüsse es, dass Rom aktiv wurde.»
Medienmitteilung der Bischofskonferenz
Die Schweizer Bischöfe reagierten umgehend mit einer Medienmitteilung und informierten die Öffentlichkeit über das laufende kirchenrechtliche Verfahren: «Am 23. Juni 2023 hat das Dikasterium zu dieser Angelegenheit eine kirchenrechtliche Voruntersuchung angeordnet und Bischof Joseph Bonnemain als Untersuchungsleiter eingesetzt. Dieser war von 1989 bis 2021 als Offizial des Bistums Chur mit der Leitung derartiger Untersuchungen und Strafverfahren betraut. Die Voruntersuchung von Bischof Joseph Bonnemain ist im Gang, sie wird voraussichtlich bis Ende Jahr abgeschlossen sein. Hauptgegenstand dieser kirchlichen Voruntersuchung sind die Vorwürfe des Vertuschens von Missbrauchsfällen. Für die Ermittlungen zu mutmasslichen Sexualdelikten sind in erster Linie die Polizei und die Staatsanwaltschaft zuständig.», schrieb die Schweizer Bischofskonferenz am Sonntagnachmittag auf ihrer Webseite.
Timing ist kein Zufall
Seit langem ist bekannt, dass morgen Dienstag, 12. September, die Ergebnisse einer Pilotstudie veröffentlicht werden, die die Universität Zürich im Auftrag der SBK, der RKZ und KOVOS, erarbeitet hat. Die Aussicht auf unangenehme Enthüllungen sorgte in den vergangenen Wochen für Nervosität im Umfeld der katholischen Kirche. Dass verschiedene Medien das Missbrauchsthema gerade jetzt prominent publizieren, kann vor diesem Hintergrund betrachtet kein Zufall sein. Bereits vor drei Wochen hatte der Beobachter einen Missbrauchsfall veröffentlicht, in dem Bischof Felix Gmür Fehlverhalten einräumen musste.
Zeit verstreichen lassen
Trotz dieser Erfahrungen kommuniziert die offizielle Kirche jedoch nicht aktiv, sondern wartet passiv ab. Nicolas Betticher hat den Brief, dessen Inhalt gestern Sonntag bekannt wurde, bereits im Mai verschickt. Seit knapp drei Monaten führt Joseph Bonnemain die Voruntersuchung.
Prinzip Hoffnung
In einem Kommentar auf dem Nachrichtenportal kath.ch schrieb die Redaktorin Annalena Müller: «Was der Öffentlichkeit neu sein mag, ist den Betroffenen also seit Monaten bekannt. Anstatt proaktiv zu kommunizieren, haben die Bischöfe die letzten Monate geschwiegen. Sie haben vermutlich gehofft, dass es schon irgendwie gutgehen wird. Dabei wäre es ihre Pflicht, Schaden von der Kirche abzuwenden. Auch dann, wenn sie selbst der Schaden sind.»