Keine getrockneten Erbsen mehr in den Schuhen
«Der Morgen war noch nie meine Stärke, auch nicht beim Radfahren», denke ich etwas zerknirscht, als ich an jenem Samstag, kaum in Luzern dem Zug entstiegen, orientierungslos nach dem Treffpunkt suche. Nach etlichem Umherirren und dem Befragen verschiedener Leute finde ich schliesslich doch noch den Musikpavillon am Seeufer. Gerade noch rechtzeitig. Es schlägt bald neun Uhr. Die erste Luzerner Radwallfahrt startet. Thomas Villiger hat soeben den Wegsegen gesprochen.
Ein lang gehegter Traum
Seit Jahrhunderten pilgern die Menschen. Und von «Wallfahrt» spricht man deswegen, weil sich die Menschen jeweils mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auf den Weg machten. So jedenfalls erklärt es später in Einsiedeln Abt Martin Werlen. Heute kommen die Leute entweder zu Fuss, mit dem Auto oder mit dem Zug. Und seit ein paar Jahren auch mit dem Velo. Er habe als begeisterter Velofahrer schon immer damit geliebäugelt, einmal eine Radwallfahrt zu organisieren, erklärt Dominik Thali, der Kommunikationsbeauftragte der Römisch-Katholischen Landeskirche Luzern und Organisator der ersten Luzerner Radwallfahrt, wie er dazu kam, dieses Fahrt zu planen und auszuschreiben. Gedacht als ein neues Pilgerangebot, das neue Zielgruppen ansprechen soll. Und in der Tat: Auf das Angebot sprangen neben jüngeren Leuten auch Menschen an, die nicht so gerne zu Fuss unterwegs sind oder aus gesundheitlichen Gründen nicht weit wandern können.
Leerlauf und Irrfahrt
Kaum habe ich auf den ersten paar Kilometern mit ein paar wenigen der gut zwanzig versammelten Radpilger ein paar Worte gewechselt, rasselt mir beim Schalten die Kette vorne zu weit übers grosse Kettenblatt. Ich trete ins Leere. «Gottver…», entfährt es mir beinahe. Gerade noch kann ich inne halten. «Ich kann doch nicht an einer Wallfahrt fluchen», denke ich mir, steige ab, bringe die Sache in Ordnung und versuche zur Gruppe aufzuschliessen. Diese scheint jedoch wie vom Erdboden verschluckt. Ich beschleunige, beginne zu schwitzen und frage mich, wie die Truppe mich innert kurzer Zeit derart distanzieren konnte. Immerhin bin ich auf dem Rad kein Anfänger, 80 Kilometer bei gemütlichem Tempo mit einer Passüberquerung auf 1400 Metern Höhe betrachte ich eigentlich als regeneratives Training.
Der Krise gerade nochmals entronnen
Kurz bevor die Midlife-Crisis bei mir anklopft, klingelt mein Taschentelefon. Es ist Dominik Thali, unser Gruppenleiter. «In Küssnacht abgebogen? Bei der Kirche angehalten?», frage ich. «Ja, ich hatte eine kleine Panne», erkläre ich meine neuerliche Verspätung. «Bin gleich bei euch», grummle ich und verschweige, dass ich mich wieder mal verfahren habe. Aber wenigstens kann ich das mit der Midlife-Crisis vergessen. Ich wende und fahre zügig zurück nach Küssnacht. «Zeit für einen Kaffee», denke ich, als ich zur Gruppe stosse. Doch der muss warten. Es geht weiter.
Idyllisches Panorama
Das Gelände ist flach, es rollt gut. Wie ein Tatzelwurm schlängeln wir uns dem Vierwaldstättersee entlang. Steil zum See abfallende, bewaldete Hügel, Fussgängerpromenaden, Palmen: All das erinnert ans Tessin. Letzte, hauchdünne Bodennebel über dem Wasser, eine Wolkendecke coupiert die Berge in etwa auf Schneehöhe. Bei Vitznau drückt die Sonne durch, es wird wärmer. Unterwegs überholen wir schwerfällig am Ufer entlang watschelnde Taucher. Ich entdecke eine Gämse, die oberhalb eines Felsabbruchs auf die Strasse herabblickt. Immer wieder queren wir Bildstöckli und Kapellen.
Religion ist kein Hobby
Im Laufe der Fahrt lerne ich die anderen Fahrerinnen und Fahrer besser kennen. Wir sind alle sofort beim Du, Nachnamen spielen, wie unter Velofahrern üblich, keine Rolle. Die dreizehnjährige Alessandra ist das jüngste Mitglied der Truppe. Sie trainiert fürs Sportlager – Es geht über den Gotthard nach Tenero. «Religion ist nicht grad mein Hobby», meint sie lakonisch, als ich sie darauf anspreche, dass sie sich mit der Radwallfahrt eine besondere Trainingsgelegenheit ausgesucht habe, und ihr zudem noch die berühmte Gretchenfrage stelle.
Die spirituelle Dimension des Radmantels
Monika ist mit zwei Kolleginnen aus dem Schötzer Velo-Club dabei. Die eine sei «Kirchmeierin» und hatte die Idee, hier mitzufahren. Mit Einsiedeln verbindet die Gelegenheitsbikerin positive Erinnerungen. «Wir hatten einen Onkel dort, fuhren also immer wieder dorthin. Quasi als Familienausflug.» Das Radwallfahren gefällt Monika gut. «Du bist langsamer unterwegs als auf einer normalen Velotour.» Doch das ist längst nicht alles, was diese 80 Kilometer lange Fahrt von einer gewöhnlichen Velotour unterscheidet. Immer wieder findet ein bewusstes Innehalten an bestimmten Orten statt. In der Nähe von Küssnacht beispielsweise vor einem Reifenstapel bei einer kleinen Autogarage. «Maria, breit den Mantel aus… Das kennen wir aus einem Lied», erinnert Thomas Villiger. «Für uns Velofahrer nicht unbedingt eine einladende Vorstellung, wenn sich der Mantel breit macht.» Der Mitorganisator und Co-Leiter der Fachstelle Pfarreientwicklung und Diakonie der Römisch-katholischen Landeskirche Luzern hat zu jedem grösseren Halt einen spirituellen Impuls vorbereitet. Diese erinnern uns daran, dass das Radfahren als Wallfahrt verschiedene Aspekte des Lebens, der Auseinandersetzung mit uns selbst und dem Göttlichen auf eine neue, erfrischende Art und Weise bewusst macht. So auch vor dem Reifenstapel. «Wenn wir uns unsere Pneu, unsere Mäntel, genauer anschauen, merken wir, dass sie Einfurchungen, Höhen und Tiefen haben, um Halt und Griffigkeit zu gewährleisten.» Das sei doch im Leben genauso, meint Thomas Villiger. «Damit wir im Leben Halt finden, brauchen wir auch Profil, Tiefgang.»
Mit geistiger, körperlicher und maschineller Energie
Bei Ingenbohl, unmittelbar vor dem Mittagspicknick und dem bevorstehenden Anstieg auf die Ibergeregg, folgt der zweite Impulshalt vor einer Stromverteilerzentrale. «Wenn wir jetzt bergauf fahren und fest schnaufen, kommen wir in Kontakt mit unserem eigenen Lebensstrom», prophezeit Thomas Villiger. «Als Christus sich damals von seinen Nächsten verabschiedete, verlieh er ihnen keinen Orden und stufte sie keine Gehaltstufe höher – er gab ihnen seinen langen Atem.» und Thomas zitiert aus der Bibel: «Er hauchte sie an und verhiess ihnen: Der Friede sei mit euch.» Verköstigt und geistig genährt macht sich unsere Gruppe daran, die schmale Passstrasse auf die Ibergeregg zu erklimmen. Wie ein Handörgeli zieht sich das Feld auseinander. Die beiden Fahrerinnen auf den E‑Bikes sind rasch auf und davon und geniessen die Leichtigkeit des Pedalierens mit Motorunterstützung. Während Marie-Rose, die ebenfalls wie ich aus dem Aargau abgereist ist, ohne Probleme bis zum Gipfel fährt, folgt für die zweite motorisierte Wallfahrerin auf den Höhenflug eine harte Landung. Der Akku macht schlapp. Sofort spielt jedoch Solidarität. Unterstützende Hände ersetzen die Batterie bis zur Passhöhe.
Ein wenig leiden gehört dazu
Zu beissen haben auch die 13-jährige Alessandra und andere Gelegenheitsfahrer. Es wird nicht nur steil, sondern zunehmend unfreundlicher. Düstere Wolken ziehen auf, es nieselt und die Temperaturen sinken auf knapp unter zehn Grad ab. Trotzdem: Auch wenn die meisten hernach zugeben, dass es «schon ziemlich angehängt» habe, niemand sieht sich ernsthaft mit dem inneren Schweinehund konfrontiert und denkt ans Aufgeben. Aber ein wenig leiden muss schon sein. «Das gehört zum Pilgern», meint Dominik Thali augenzwinkernd und erzählt im Aufstieg zur Ibergeregg auf 1406 Metern, wie ihm seine Mutter davon berichtet habe, wie die Fusswallfahrer seinerzeit, quasi um Busse zu tun, mit getrockneten Erbsen in den Schuhen ihre Bittgänge verrichtet hätten. Derartige Selbsterniedrigungskonzepte gehören zumindest im christlichen Abendland definitiv der Pilger-Vergangenheit an. Das persönliche Anliegen, um dessentwillen wir eine Wallfahrt unternehmen und die Idee, während einer solchen in Kontakt mit Gott zu kommen, sind jedoch geblieben. Das bestätigt auch Thomas Villiger, der die spirituellen Impulse während Velowallfahrt gestaltet. «Im Unterwegssein in der Natur, in Gesprächen, im Für-sich-sein sind wir mit Gott in Kontakt – wenn wir beim Betrachten eines Baumes mehr sehen.»
Fortsetzung gilt als sicher
Um drei Uhr am Nachmittag erreichen wir die Passhöhe. Heiter lächelnd, als wenn’s nichts wäre, steigt dort auch Bernadette von ihrem Alltagsrad. Auf dem Gepäckträger eine mehrere Kilo schwere Tasche. Dass die 53-Jährige den Aufstieg sogar vor ihrem Sohn geschafft hat, erfüllt sie schon ein klein wenig mit Stolz. «Regelmässig ins Fitness und im Alltag auf dem Velo unterwegs», so das Rezept der Luzernerin. Schliesslich schaffen den Aufstieg alle. Glücklich, die grosse Herausforderung gemeistert zu haben, geht’s nach einem weiteren spirituellen Impuls mit flirrenden Rädern ins Tal. Binnen einer knappen Dreiviertelstunde ist das Ziel, das Kloster Einsiedeln, erreicht. Dort begrüsst Abt Martin Werlen persönlich die Radwallfahrer. «Ich hätte den Weg über Biberbrugg genommen», meint der Benediktiner lächelnd und erteilt den Segen. «Ihr werdet heute besonders gut schlafen», verabschiedet er sich. Und Organisator Dominik Thali stellt zum Abschied in Aussicht, dass nach der gelungenen Premiere die Luzerner Radwallfahrt im nächsten Jahr wieder an den Start geht.
Andreas C. Müller