Kei­ne getrock­ne­ten Erb­sen mehr in den Schuhen

Tau­sen­de machen jähr­lich den Jakobs­weg, im Nor­den Euro­pas wer­den neue Pil­ger­we­ge ent­deckt. Pil­gern ist «in». Und für alle, die nicht gern zu Fuss unter­wegs sind, bie­tet das Rad­wall­fah­ren eine dank­ba­re Alter­na­ti­ve. Hori­zon­te-Redak­tor Andre­as C. Mül­ler war an der ersten Luzer­ner Velo­wall­fahrt dabei, die am 4. Mai 2013 von Luzern über die Ibe­r­ger­egg nach Ein­sie­deln führte. 

«Der Mor­gen war noch nie mei­ne Stär­ke, auch nicht beim Rad­fah­ren», den­ke ich etwas zer­knirscht, als ich an jenem Sams­tag, kaum in Luzern dem Zug ent­stie­gen, ori­en­tie­rungs­los nach dem Treff­punkt suche. Nach etli­chem Umher­ir­ren und dem Befra­gen ver­schie­de­ner Leu­te fin­de ich schliess­lich doch noch den Musik­pa­vil­lon am See­ufer. Gera­de noch recht­zei­tig. Es schlägt bald neun Uhr. Die erste Luzer­ner Rad­wall­fahrt star­tet. Tho­mas Vil­li­ger hat soeben den Weg­se­gen gesprochen.

Ein lang geheg­ter Traum
Seit Jahr­hun­der­ten pil­gern die Men­schen. Und von «Wall­fahrt» spricht man des­we­gen, weil sich die Men­schen jeweils mit den ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln auf den Weg mach­ten. So jeden­falls erklärt es spä­ter in Ein­sie­deln Abt Mar­tin Wer­len. Heu­te kom­men die Leu­te ent­we­der zu Fuss, mit dem Auto oder mit dem Zug. Und seit ein paar Jah­ren auch mit dem Velo. Er habe als begei­ster­ter Velo­fah­rer schon immer damit gelieb­äu­gelt, ein­mal eine Rad­wall­fahrt zu orga­ni­sie­ren, erklärt Domi­nik Tha­li, der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­auf­trag­te der Römisch-Katho­li­schen Lan­des­kir­che Luzern und Orga­ni­sa­tor der ersten Luzer­ner Rad­wall­fahrt, wie er dazu kam, die­ses Fahrt zu pla­nen und aus­zu­schrei­ben. Gedacht als ein neu­es Pil­ger­an­ge­bot, das neue Ziel­grup­pen anspre­chen soll. Und in der Tat: Auf das Ange­bot spran­gen neben jün­ge­ren Leu­ten auch Men­schen an, die nicht so ger­ne zu Fuss unter­wegs sind oder aus gesund­heit­li­chen Grün­den nicht weit wan­dern können.

Leer­lauf und Irr­fahrt
Kaum habe ich auf den ersten paar Kilo­me­tern mit ein paar weni­gen der gut zwan­zig ver­sam­mel­ten Rad­pil­ger ein paar Wor­te gewech­selt, ras­selt mir beim Schal­ten die Ket­te vor­ne zu weit übers gros­se Ket­ten­blatt. Ich tre­te ins Lee­re. «Gott­ver…», ent­fährt es mir bei­na­he. Gera­de noch kann ich inne hal­ten. «Ich kann doch nicht an einer Wall­fahrt flu­chen», den­ke ich mir, stei­ge ab, brin­ge die Sache in Ord­nung und ver­su­che zur Grup­pe auf­zu­schlies­sen. Die­se scheint jedoch wie vom Erd­bo­den ver­schluckt. Ich beschleu­ni­ge, begin­ne zu schwit­zen und fra­ge mich, wie die Trup­pe mich innert kur­zer Zeit der­art distan­zie­ren konn­te. Immer­hin bin ich auf dem Rad kein Anfän­ger, 80 Kilo­me­ter bei gemüt­li­chem Tem­po mit einer Pass­über­que­rung auf 1400 Metern Höhe betrach­te ich eigent­lich als rege­ne­ra­ti­ves Training.

Der Kri­se gera­de noch­mals ent­ron­nen
Kurz bevor die Mid­life-Cri­sis bei mir anklopft, klin­gelt mein Taschen­te­le­fon. Es ist Domi­nik Tha­li, unser Grup­pen­lei­ter. «In Küss­nacht abge­bo­gen? Bei der Kir­che ange­hal­ten?», fra­ge ich. «Ja, ich hat­te eine klei­ne Pan­ne», erklä­re ich mei­ne neu­er­li­che Ver­spä­tung. «Bin gleich bei euch», grumm­le ich und ver­schwei­ge, dass ich mich wie­der mal ver­fah­ren habe. Aber wenig­stens kann ich das mit der Mid­life-Cri­sis ver­ges­sen. Ich wen­de und fah­re zügig zurück nach Küss­nacht. «Zeit für einen Kaf­fee», den­ke ich, als ich zur Grup­pe stos­se. Doch der muss war­ten. Es geht weiter.

Idyl­li­sches Pan­ora­ma
Das Gelän­de ist flach, es rollt gut. Wie ein Tat­zel­wurm schlän­geln wir uns dem Vier­wald­stät­ter­see ent­lang. Steil zum See abfal­len­de, bewal­de­te Hügel, Fuss­gän­ger­pro­me­na­den, Pal­men: All das erin­nert ans Tes­sin. Letz­te, hauch­dün­ne Boden­ne­bel über dem Was­ser, eine Wol­ken­decke cou­piert die Ber­ge in etwa auf Schnee­hö­he. Bei Vitz­nau drückt die Son­ne durch, es wird wär­mer. Unter­wegs über­ho­len wir schwer­fäl­lig am Ufer ent­lang wat­scheln­de Tau­cher. Ich ent­decke eine Gäm­se, die ober­halb eines Fels­ab­bruchs auf die Stras­se her­ab­blickt. Immer wie­der que­ren wir Bild­stöck­li und Kapellen.

Reli­gi­on ist kein Hob­by
Im Lau­fe der Fahrt ler­ne ich die ande­ren Fah­re­rin­nen und Fah­rer bes­ser ken­nen. Wir sind alle sofort beim Du, Nach­na­men spie­len, wie unter Velo­fah­rern üblich, kei­ne Rol­le. Die drei­zehn­jäh­ri­ge Ales­san­dra ist das jüng­ste Mit­glied der Trup­pe. Sie trai­niert fürs Sport­la­ger – Es geht über den Gott­hard nach Ten­e­ro. «Reli­gi­on ist nicht grad mein Hob­by», meint sie lako­nisch, als ich sie dar­auf anspre­che, dass sie sich mit der Rad­wall­fahrt eine beson­de­re Trai­nings­ge­le­gen­heit aus­ge­sucht habe, und ihr zudem noch die berühm­te Gret­chen­fra­ge stelle.

Die spi­ri­tu­el­le Dimen­si­on des Rad­man­tels
Moni­ka ist mit zwei Kol­le­gin­nen aus dem Schöt­zer Velo-Club dabei. Die eine sei «Kirchmeie­rin» und hat­te die Idee, hier mit­zu­fah­ren. Mit Ein­sie­deln ver­bin­det die Gele­gen­heits­bi­ke­rin posi­ti­ve Erin­ne­run­gen. «Wir hat­ten einen Onkel dort, fuh­ren also immer wie­der dort­hin. Qua­si als Fami­li­en­aus­flug.» Das Rad­wall­fah­ren gefällt Moni­ka gut. «Du bist lang­sa­mer unter­wegs als auf einer nor­ma­len Velo­tour.» Doch das ist längst nicht alles, was die­se 80 Kilo­me­ter lan­ge Fahrt von einer gewöhn­li­chen Velo­tour unter­schei­det. Immer wie­der fin­det ein bewuss­tes Inne­hal­ten an bestimm­ten Orten statt. In der Nähe von Küss­nacht bei­spiels­wei­se vor einem Rei­fen­sta­pel bei einer klei­nen Auto­ga­ra­ge. «Maria, breit den Man­tel aus… Das ken­nen wir aus einem Lied», erin­nert Tho­mas Vil­li­ger. «Für uns Velo­fah­rer nicht unbe­dingt eine ein­la­den­de Vor­stel­lung, wenn sich der Man­tel breit macht.» Der Mit­or­ga­ni­sa­tor und Co-Lei­ter der Fach­stel­le Pfar­rei­ent­wick­lung und Dia­ko­nie der Römisch-katho­li­schen Lan­des­kir­che Luzern hat zu jedem grös­se­ren Halt einen spi­ri­tu­el­len Impuls vor­be­rei­tet. Die­se erin­nern uns dar­an, dass das Rad­fah­ren als Wall­fahrt ver­schie­de­ne Aspek­te des Lebens, der Aus­ein­an­der­set­zung mit uns selbst und dem Gött­li­chen auf eine neue, erfri­schen­de Art und Wei­se bewusst macht. So auch vor dem Rei­fen­sta­pel. «Wenn wir uns unse­re Pneu, unse­re Män­tel, genau­er anschau­en, mer­ken wir, dass sie Ein­furch­un­gen, Höhen und Tie­fen haben, um Halt und Grif­fig­keit zu gewähr­lei­sten.» Das sei doch im Leben genau­so, meint Tho­mas Vil­li­ger. «Damit wir im Leben Halt fin­den, brau­chen wir auch Pro­fil, Tiefgang.»

Mit gei­sti­ger, kör­per­li­cher und maschi­nel­ler Ener­gie
Bei Ingen­bohl, unmit­tel­bar vor dem Mit­tag­s­pick­nick und dem bevor­ste­hen­den Anstieg auf die Ibe­r­ger­egg, folgt der zwei­te Impuls­halt vor einer Strom­ver­tei­ler­zen­tra­le. «Wenn wir jetzt berg­auf fah­ren und fest schnau­fen, kom­men wir in Kon­takt mit unse­rem eige­nen Lebens­strom», pro­phe­zeit Tho­mas Vil­li­ger. «Als Chri­stus sich damals von sei­nen Näch­sten ver­ab­schie­de­te, ver­lieh er ihnen kei­nen Orden und stuf­te sie kei­ne Gehaltstu­fe höher – er gab ihnen sei­nen lan­gen Atem.» und Tho­mas zitiert aus der Bibel: «Er hauch­te sie an und ver­hiess ihnen: Der Frie­de sei mit euch.» Ver­kö­stigt und gei­stig genährt macht sich unse­re Grup­pe dar­an, die schma­le Pass­stras­se auf die Ibe­r­ger­egg zu erklim­men. Wie ein Han­dör­ge­li zieht sich das Feld aus­ein­an­der. Die bei­den Fah­re­rin­nen auf den E‑Bikes sind rasch auf und davon und genies­sen die Leich­tig­keit des Peda­lie­rens mit Motor­un­ter­stüt­zung. Wäh­rend Marie-Rose, die eben­falls wie ich aus dem Aar­gau abge­reist ist, ohne Pro­ble­me bis zum Gip­fel fährt, folgt für die zwei­te moto­ri­sier­te Wall­fah­re­rin auf den Höhen­flug eine har­te Lan­dung. Der Akku macht schlapp. Sofort spielt jedoch Soli­da­ri­tät. Unter­stüt­zen­de Hän­de erset­zen die Bat­te­rie bis zur Passhöhe.

Ein wenig lei­den gehört dazu
Zu beis­sen haben auch die 13-jäh­ri­ge Ales­san­dra und ande­re Gele­gen­heits­fah­rer. Es wird nicht nur steil, son­dern zuneh­mend unfreund­li­cher. Düste­re Wol­ken zie­hen auf, es nie­selt und die Tem­pe­ra­tu­ren sin­ken auf knapp unter zehn Grad ab. Trotz­dem: Auch wenn die mei­sten her­nach zuge­ben, dass es «schon ziem­lich ange­hängt» habe, nie­mand sieht sich ernst­haft mit dem inne­ren Schwei­ne­hund kon­fron­tiert und denkt ans Auf­ge­ben. Aber ein wenig lei­den muss schon sein. «Das gehört zum Pil­gern», meint Domi­nik Tha­li augen­zwin­kernd und erzählt im Auf­stieg zur Ibe­r­ger­egg auf 1406 Metern, wie ihm sei­ne Mut­ter davon berich­tet habe, wie die Fuss­wall­fah­rer sei­ner­zeit, qua­si um Bus­se zu tun, mit getrock­ne­ten Erb­sen in den Schu­hen ihre Bitt­gän­ge ver­rich­tet hät­ten. Der­ar­ti­ge Selbst­er­nied­ri­gungs­kon­zep­te gehö­ren zumin­dest im christ­li­chen Abend­land defi­ni­tiv der Pil­ger-Ver­gan­gen­heit an. Das per­sön­li­che Anlie­gen, um des­sent­wil­len wir eine Wall­fahrt unter­neh­men und die Idee, wäh­rend einer sol­chen in Kon­takt mit Gott zu kom­men, sind jedoch geblie­ben. Das bestä­tigt auch Tho­mas Vil­li­ger, der die spi­ri­tu­el­len Impul­se wäh­rend Velo­wall­fahrt gestal­tet. «Im Unter­wegs­sein in der Natur, in Gesprä­chen, im Für-sich-sein sind wir mit Gott in Kon­takt – wenn wir beim Betrach­ten eines Bau­mes mehr sehen.»

Fort­set­zung gilt als sicher
Um drei Uhr am Nach­mit­tag errei­chen wir die Pass­hö­he. Hei­ter lächelnd, als wenn’s nichts wäre, steigt dort auch Ber­na­dette von ihrem All­tags­rad. Auf dem Gepäck­trä­ger eine meh­re­re Kilo schwe­re Tasche. Dass die 53-Jäh­ri­ge den Auf­stieg sogar vor ihrem Sohn geschafft hat, erfüllt sie schon ein klein wenig mit Stolz. «Regel­mäs­sig ins Fit­ness und im All­tag auf dem Velo unter­wegs», so das Rezept der Luzer­ne­rin. Schliess­lich schaf­fen den Auf­stieg alle. Glück­lich, die gros­se Her­aus­for­de­rung gemei­stert zu haben, geht’s nach einem wei­te­ren spi­ri­tu­el­len Impuls mit flir­ren­den Rädern ins Tal. Bin­nen einer knap­pen Drei­vier­tel­stun­de ist das Ziel, das Klo­ster Ein­sie­deln, erreicht. Dort begrüsst Abt Mar­tin Wer­len per­sön­lich die Rad­wall­fah­rer. «Ich hät­te den Weg über Biber­brugg genom­men», meint der Bene­dik­ti­ner lächelnd und erteilt den Segen. «Ihr wer­det heu­te beson­ders gut schla­fen», ver­ab­schie­det er sich. Und Orga­ni­sa­tor Domi­nik Tha­li stellt zum Abschied in Aus­sicht, dass nach der gelun­ge­nen Pre­mie­re die Luzer­ner Rad­wall­fahrt im näch­sten Jahr wie­der an den Start geht.
Andre­as C. Müller

Redaktion Lichtblick
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