«Kaum jemand glaubt ernst­haft an eine Lösung in Palästina»

«Kaum jemand glaubt ernst­haft an eine Lösung in Palästina»

«Aufs Tren­nen­de zu fokus­sie­ren, schafft Mau­ern in den Köpfen»

Inter­view mit Erz­bi­schof Pier­bat­ti­sta Piz­za­bal­la zur Situa­ti­on in Palästina

Der 54-jäh­ri­ge Fran­zis­ka­ner Pier­bat­ti­sta Piz­za­bal­la lebt seit 30 Jah­ren in Jeru­sa­lem. Er sieht gros­se Ver­än­de­run­gen im Leben der Chri­sten in Palä­sti­na. Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten oder Kran­ken­häu­ser sei­en ein Aus­druck der christ­li­chen Präsenz. Sie haben das Cari­tas Baby Hos­pi­tal mehr­fach besucht. Was sind Ihre Eindrücke?Erz­bi­schof Pier­bat­ti­sta Piz­za­bal­la: Das Cari­tas Baby Hos­pi­tal ist aus ver­schie­de­nen Grün­den eine der bedeu­tend­sten christ­li­chen Ein­rich­tun­gen in Beth­le­hem. Zum einen, weil es das ein­zi­ge Spi­tal ist, das sich aus­schliess­lich um Kin­der und Babys küm­mert und sich in ver­schie­de­nen Berei­chen der Kin­der­heil­kun­de spe­zia­li­siert. Zwei­tens ist das Spi­tal einer der gröss­ten Arbeit­ge­ber in der Regi­on. Und drit­tens, und das ist nicht min­der wich­tig, herrscht dort eine ganz beson­de­re Atmo­sphä­re. Die Art die­ser Ein­rich­tung ist sehr offen und modern. Das ist in die­sem tra­di­tio­nell gepräg­ten Kon­text hier sehr wich­tig.Im Cari­tas Baby Hos­pi­tal wer­den alle Kin­der gleich­be­han­delt, unab­hän­gig von ihrer öko­no­mi­schen, sozia­len oder reli­giö­sen Her­kunft. War­um ist das in der Regi­on so wichtig?Das ist so wich­tig, weil das Tren­nen­de immer her­vor­ge­ho­ben wird. Anstatt aufs Ver­bin­den­de zu schau­en, fokus­siert man aufs Tren­nen­de. Man schaut auf sein Dorf, sei­ne Fami­lie, sei­ne Reli­gi­on. Die­ses Den­ken schafft Mau­ern in den Köp­fen. Im Cari­tas Baby Hos­pi­tal hin­ge­gen spie­len die Zuge­hö­rig­keit zu einer Grup­pe und die Her­kunft kei­ne Rol­le. Alle sind will­kom­men. Das macht die­se Ein­rich­tung so beson­ders. Zu einem gewis­sen Grad fin­det man das auch in ande­ren Insti­tu­tio­nen, aber im Kin­der­spi­tal nimmt man es ein­fach sehr deut­lich wahr.Sie leben seit 30 Jah­ren in Jeru­sa­lem. Was hat sich in die­ser Zeit verändert?Oh, eine gan­ze Men­ge. Als ich ankam, tob­te die erste Inti­fa­da. Dann kam Oslo, die Eupho­rie über das Oslo-Abkom­men, die Fru­stra­ti­on über das Oslo-Abkom­men, die zwei­te Inti­fa­da und alles was danach kam. Es hat sich eigent­lich alles ver­än­dert: was die Infra­struk­tur betrifft, die Poli­tik, das Sozia­le und die Reli­gi­on. Die Gesell­schaft von damals ist heu­te eine ande­re. Vor 30 Jah­ren hat man noch dar­an geglaubt, dass man sich auf ein Abkom­men einigt, mehr noch, auf eine sta­bi­le Lösung. Und jetzt? Jetzt ist es schwie­rig jeman­den zu fin­den, der noch ernst­haft an eine Lösung glaubt. Vor 30 Jah­ren spiel­te die Reli­gi­on eine Rol­le, aber sie hat nicht alles bestimmt. Heu­te bestimmt die reli­giö­se Ein­stel­lung auch die poli­ti­sche Sicht auf die Din­ge.Sie ste­hen in sehr engem Kon­takt zur Bevöl­ke­rung im West­jor­dan­land. Was sind deren Hauptsorgen?Sie wol­len ein nor­ma­les Leben. Sie wol­len sich frei bewe­gen kön­nen. Sie wol­len eine gute Zukunft für ihre Kin­der, wol­len ein­fach leben wie ande­re Men­schen auch. Sie haben es satt, dar­auf zu war­ten, ob es irgend­wann irgend­ei­ne Lösung gibt. Sie wol­len ein Land mit nor­mal funk­tio­nie­ren­den Insti­tu­tio­nen, ein nor­ma­les Leben, Bür­ger­rech­te.Sie waren auch häu­fig im Gaza-Strei­fen. Wie ist die Situa­ti­on da?Die Situa­ti­on dort ist beschä­mend, wirk­lich, eine Schan­de. Die Men­schen haben kaum Mög­lich­kei­ten zu arbei­ten, die Arbeits­lo­sen­ra­te liegt bei über 60 Pro­zent, es gibt sel­ten Strom, sie sind ein­ge­schlos­sen und kön­nen nicht aus dem Gaza-Strei­fen her­aus. In jedem Gespräch sagen die Men­schen, sie wol­len ein «tas­reeh», also eine Geneh­mi­gung, das Gebiet zu ver­las­sen. Sie leben in einem gros­sen Käfig.Wie ist die Situa­ti­on der Chri­sten im Westjordanland?Im besetz­ten palä­sti­nen­si­schen Gebiet erle­ben wir gera­de gros­se Ver­än­de­run­gen. Christ­li­che Fami­li­en ver­las­sen aus öko­no­mi­schen Grün­den oder für die Aus­bil­dung ihrer Kin­der die länd­li­chen Regio­nen und zie­hen in Städ­te wie Beth­le­hem und Ramal­lah. Auf dem Land gibt es beson­ders für jun­ge Leu­te kaum Mög­lich­kei­ten. Das bedeu­tet, dass sich das christ­li­che Leben mit den Jah­ren nur noch auf die Städ­te kon­zen­trie­ren wird. Lei­der.Im besetz­ten palä­sti­nen­si­schen Gebiet ist das Leben aus ver­schie­de­nen Grün­den schwie­rig. Das kön­nen wirt­schaft­li­che Grün­de sein, aber auch die Reli­gi­on. Wobei ich da ger­ne etwas brem­se: Min­der­hei­ten stei­gern sich oft in ihre Pro­ble­me hin­ein, das ist eine Art Min­der­hei­ten­kom­plex. Wenn es Pro­ble­me gibt, füh­ren sie es reflex­ar­tig auf ihr Christ­sein zurück. Aber gewis­se Pro­ble­me haben alle, unab­hän­gig von ihrer Zuge­hö­rig­keit. Weil wir nicht mehr so vie­le sind, pas­siert es auch oft, dass unse­re Bedürf­nis­se schlicht nicht mehr wahr­ge­nom­men wer­den. In der Ver­gan­gen­heit spiel­ten die Chri­sten in der Gesell­schaft und der Poli­tik eine zen­tra­le­re Rol­le, waren eine Eli­te. Heu­te hat sich das alles ver­än­dert.Ist das in Isra­el auch so?Nein. Zuerst ist da ein gros­ser zah­len­mäs­si­ger Unter­schied. In Isra­el leben 130’000 Chri­sten, im West­jor­dan­land 45’000. Die­se Zah­len geben schon mal eine kla­re Indi­ka­ti­on. Auch in Isra­el ver­än­dert sich das christ­li­che Leben, aber es ist sta­bil. Der grund­le­gen­de Unter­schied ist: Die Chri­sten in Isra­el haben, anders als im West­jor­dan­land, eine Staats­bür­ger­schaft, sie haben Rech­te, sie kön­nen wäh­len. Die mei­sten Chri­sten dort gehö­ren zur Mit­tel­schicht. Sie sind nicht beson­ders eng mit der Kir­che ver­bun­den, auch weil die Kir­che für sie nicht lebens­not­wen­dig ist. Die Zuge­hö­rig­keit zur Reli­gi­on prägt viel­mehr die Iden­ti­tät. Die Her­aus­for­de­run­gen der Kir­che im palä­sti­nen­si­schen Gebiet sind ande­re: Dort trägt jedes Kir­chen­mit­glied wesent­lich dazu bei, die Prä­senz des Chri­sten­tums im West­jor­dan­land sicher­zu­stel­len.Haben Sie von Unter­drückung der Chri­sten gehört?Natür­lich gibt es Ein­zel­fäl­le von Gewalt in Fami­li­en, von Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Glau­bens­grup­pen. Aber das geschieht epi­so­disch, nicht regel­mäs­sig. Es gibt im West­jor­dan­land kei­nen IS. Natür­lich dür­fen wir nicht naiv sein oder immer alles schön­re­den. Es gibt Span­nun­gen, es gibt auch reli­giö­se Span­nun­gen, aber die sind eher auf spe­zi­el­le Grup­pen beschränkt. Man kann nicht sagen, dass die Gesell­schaft gegen die Chri­sten ist.Vie­le christ­li­che Ein­rich­tun­gen wie Schu­len oder Kran­ken­häu­ser wer­den durch inter­na­tio­na­le Spen­den finan­ziert. Was wür­de pas­sie­ren, wenn die­se Gel­der wegfallen?Das wäre eine Kata­stro­phe. Natür­lich wün­schen wir uns alle, dass all die­se Insti­tu­tio­nen selbst­tra­gend wären und weni­ger Unter­stüt­zung aus dem Aus­land bräuch­ten. Aber so lan­ge das West­jor­dan­land kei­ne sta­bi­le poli­ti­sche Situa­ti­on und nor­ma­le Lebens­be­din­gun­gen hat, brau­chen die­se Ein­rich­tun­gen Hil­fe von aus­sen. Wenn die­se Unter­stüt­zung aber ste­tig abnimmt – und das ist bereits wahr­zu­neh­men – dann wird das eine Men­ge von Pro­ble­men schaf­fen. Sehen Sie, alle die­se Insti­tu­tio­nen sind eine Form, wie die Chri­sten im Hei­li­gen Land prä­sent sind. Unser Aus­druck von Prä­senz sind die Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten oder Kran­ken­häu­ser. Wenn sie geschlos­sen wer­den, weil kei­ne finan­zi­el­len Mit­tel mehr vor­han­den sind, ist die Bot­schaft: Wir zie­hen uns zurück und inter­es­sie­ren uns nicht mehr für euch. Und die­se Bot­schaft geben wir in aller­er­ster Linie den Chri­sten in der Regi­on. Wenn wir uns zurück­zie­hen, wie sol­len wir ihnen sagen «bleibt im Hei­li­gen Land, wir brau­chen die christ­li­che Prä­senz vor Ort, ihr seid leben­di­ge Stei­ne…»? Wir wür­den damit auch zum Aus­druck brin­gen, dass wir als inter­na­tio­na­le Gemein­schaft nicht mehr beson­ders an den Chri­sten im Hei­li­gen Land inter­es­siert sind. Wenn die­se Ein­rich­tun­gen ver­schwin­den, wür­de sich defi­ni­tiv das Gesicht der Gesell­schaft ver­än­dern.Was heisst das?Die Situa­ti­on ist anders als in den 40er‑, 50er- oder 60er-Jah­ren, als es zum Bei­spiel nur christ­li­che Schu­len gab. Jetzt gibt es viel mehr Ange­bo­te. Aber, ich beto­ne noch­mals, unser prä­gen­der Ein­fluss wür­de ver­lo­ren gehen, der Ein­satz für die Armen, für Kin­der, für Behin­der­te – unse­re geleb­te Bot­schaft, dass wir im Hei­li­gen Land sind. Die­se Ein­rich­tun­gen sind Zei­chen unse­rer Prä­senz und man darf den sym­bo­li­schen Wert nicht unter­schät­zen, den die­se Insti­tu­tio­nen haben.War­um sind christ­li­che Ein­rich­tun­gen im Hei­li­gen Land so erfolg­reich und anerkannt?Weil sie nicht ideo­lo­gisch sind, son­dern offen. Wir mis­sio­nie­ren nicht und ver­su­chen nicht, die Men­schen zu bekeh­ren. Wir haben aus der Geschich­te unse­re Lek­ti­on gelernt. Ich den­ke, die Her­aus­for­de­rung wird sein, dass die ver­schie­de­nen Ein­rich­tun­gen in Zukunft stär­ker zusam­men­ar­bei­ten müs­sen. Frü­her hat jeder dar­auf bestan­den, alles ganz für sich allein zu machen, die Fran­zis­ka­ner und die Kar­me­li­ten, das Cari­tas Baby Hos­pi­tal und das Holy Fami­ly Kran­ken­haus, und so wei­ter. Jetzt, wo sich die Situa­ti­on ver­än­dert, auch im Aus­land, haben wir ein­fach nicht mehr die glei­chen Res­sour­cen wie frü­her. Es geht nicht mehr dar­um, den Sta­tus Quo auf­recht zu erhal­ten, son­dern wie wir bes­ser und enger zusam­men­ar­bei­ten kön­nen, um die neue Situa­ti­on zu bewäl­ti­gen.Sehen Sie schon Anzei­chen dafür? Ich bin über­zeugt, dass wir gar kei­ne ande­re Wahl haben. Aber es wird ziem­lich schwie­rig. Sehr schwie­rig. Noch ist das Den­ken in den Insti­tu­tio­nen und Gemein­schaf­ten vor­ran­gig geprägt von Besitz­stands­wah­rung. Daher brau­chen wir eine neue Gene­ra­ti­on von Men­schen aus dem In- und Aus­land, die nicht so am Tra­di­tio­nel­len hängt. Es geht dar­um, gemein­sam über Begren­zun­gen im Kopf hin­weg­zu­den­ken. Um im Bild zu blei­ben: die Mau­er ist auch ein men­ta­ler Fakt, nicht nur ein phy­si­scher.Inter­view: Livia Ley­kauf, für die Kin­der­hil­fe Bethlehem
Christian von Arx
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