
Jesus war kein Muttersöhnchen
Matthäus 12, 46–50
Als Jesus noch mit den Leuten redete, siehe, da standen seine Mutter und seine Brüder draussen und wollten mit ihm sprechen. Da sagte jemand zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draussen und wollen mit dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Siehe, meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
Einheitsübersetzung 2016
Jesus war kein Muttersöhnchen
Die von der liturgischen Ordnung ausgewählte Textstelle zum recht mysteriösen Gedenktag ist ausgesprochen stark belastet mit Fragen. Da ist die Frage nach den Brüdern Jesu, die der katholischen Version von der Einzelkindschaft Jesu entgegensteht. Aber auch die Frage, was denn diese Verwandtschaft Jesus besprechen will, ist ungeklärt, und niemand weiss, was aus dem irdischen Vater Jesu geworden ist, der verschwunden zu sein scheint. Zudem ist das Verhältnis Jesu zu seiner Mutter extrem spannungsreich, Jesus war kein einfacher Sohn. Der Zwölfjährige setzt sich von seinen Eltern ab, der junge Mann weist seine auffordernde Mutter bei einer Hochzeit zurück, hier (Mt 12) wird die Rolle der Mutter relativiert, und am Kreuz wird Maria einem Freund anvertraut. Jesus war ein sperriger Sohn. Das Bild von den Schwertern im Mutterherz ist wohl deutlich berechtigt.
«Wir wollen ja nur dein Bestes!» So werden Ermahnungen bis heute eingeleitet und gerechtfertigt, wenn Eltern sich Sorgen machen um ihre Kinder und deswegen riskieren, sich unbeliebt zu machen. Einen eigenen Weg zu gehen, der sich von den elterlichen Erwartungen absetzt, ist oft ein Kampf mit Schmerzen, auf beiden Seiten. Und doch muss dieser Weg gefunden werden. Heutzutage gibt es bei dieser Aufgabe deutlich mehr Mitspieler als in früherer patriarchaler Ordnung. Die Rolle als Frau ist ebenso neu persönlich zu erfinden wie die Rolle des Mannes, der keineswegs automatisch in die Fussstapfen des Vaters tritt. Neben den Eltern spielen heute viele beratende Personen auf den Wegen der Selbst-er-findung wichtige Rollen, etwa Freundeskreis und soziales Umfeld, Berufsberatung, Partnerschaftsvermittlung, psychologische Beratung usw. Alle machen ihren Einfluss geltend. Glück, wenn Beratung nicht Manipulation wird und Abhängigkeit erzeugt! Der suchende Mensch, auch wenn er nicht mehr jung ist, muss bis zum Erreichen einer inneren Klarheit ständig «Nein» sagen zu allerhand Ratschlägen. Das ist eine schwierige und oftmals überfordernde Aufgabe.
Aber auch die andere Seite ist schwierig und schmerzhaft, etwa dann, wenn man jemanden loslassen muss, den man in sein eigenes Unglück rennen sieht oder meint, dies zu sehen. Ich habe einige weinende Eltern im Gespräch begleitet, die Kinder in die Drogenabhängigkeit oder Straffälligkeit verloren haben. Andere kommen mit einer brotlosen Karriere ihrer Kinder nicht zurecht, mit einer speziellen Partnerwahl oder ihrer Beteiligung an sektiererischen Gruppen. Sich abzugrenzen, ohne das Gegenüber dabei zu entwerten, ist ein anstrengender Balanceakt. Was aber geschieht, wenn klare Überzeugungen von Begleitpersonen nicht verstanden werden? Ob Kirchenaustritt oder Ordenseintritt, beides kann sehr wehtun. Es entsteht die Frage, ob Liebe stark genug sein kann, um selbstlos zu bleiben und jemanden loszulassen. Faule Kompromisse um des lieben Friedens willen oder um niemandem wehzutun, sind keine Lösung. Es gilt, klar und ehrlich zu bleiben und dennoch einander die Liebe nicht zu entziehen. Maria sei Dank für ihren Versuch, Jesus sei Dank für sein Nein.
Ludwig Hesse
Theologe und Autor,
war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland